Das Fünf-Parteien-System und unerwartete Folgen
Deutschland demontiert sich, die Parteien versagen angesichts der zahlreichen Krisen und der politischen Klasse fehlt die Selbstkritik – schlechte Aussichten für die Demokratie in diesem Land. Doch trotz aller Gefahren bleibt alles beim Alten. Die Parteien bleiben unberechenbar, die Politiker blamieren sich oder suchen gleich das Weite.
Wer Stabilität schätzt und Überraschungen nicht liebt, für den steckt das momentane politische Deutschland in einer tiefen Krise. Nur derjenige kann gelassener mit den vielen unerwarteten Ereignissen der jüngsten Vergangenheit umgehen, der in fragilen Zuständen inzwischen den Normalfall sieht. Es ist offensichtlich: Die politische Kultur verändert sich und die Mentalitäten, die Politik wird noch unberechenbarer. Die gewohnten Ansprüche an Geschlossenheit der jeweiligen Lager sind endgültig Vergangenheit. Politiker verhalten sich anders, als es Bürger und Medien ihnen bisher nachsagten.
Warum kommt es zu diesen Ereignissen, die auch als Destabilisierung empfunden werden können? Zwei Vermutungen. Einerseits gibt es seit wenigen Jahren in Deutschland das Fünf-Parteien-System. Ein System, das offensichtlich erst nach und nach, mal schleichend und mal eruptiv, die Verhältnisse immer stärker verändert. Und andererseits ist die Politik in diesen Monaten extrem unter Druck: aufgrund der anhaltenden Finanzmarkt- und Euro-Krise, der Wirtschaftskrise und der zunehmenden Staatsverschuldung. Ein Zitat von Bundeskanzlerin Merkel im deutschen Bundestag lässt einen tiefen Blick auf ihre Sicht auf die Machtverhältnisse zu: „Die Politik muss das Primat über die Märkte wiedererlangen.“
Rücktritt wird Mode
Erst erklärte vor kurzem der 52jährige Christdemokrat Roland Koch, ebenso langjähriger wie umstrittener Ministerpräsident in Hessen, er lege alle seine politischen Ämter nieder und scheide aus der Politik aus. Dass Koch über kurz oder lang sein Amt als Ministerpräsident niederlegen werde, das war allgemein erwartet worden. Es überraschte dann die Radikalität: Er steigt aus der Politik aus. Nur wenig später trat ohne viele Worte – „Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten – mit sofortiger Wirkung.“ -, sehr leise und sehr bestimmt, sehr überraschend und sehr resigniert der amtierende Bundespräsident Horst Köhler zurück: das höchste Amt des Staates von einer Sekunde auf die andere als Leerstelle. Ein Paukenschlag. Eine Premiere. Er habe zuletzt den Respekt vor seinem Amt und seiner Arbeit vermisst, so Köhler. Eine Begründung, die so dürr ist, dass sie sofort zu wildesten Spekulationen führte. Und zu allgemeiner harscher Kritik an seinem Schritt zurück.
Diese beiden Rückzüge unterscheiden sich in fast allem, lehren jedoch eines: Inzwischen treten auch Politiker zurück, die sich als Wertkonservative verstehen, denen hohes Arbeitsethos, hohes Pflichtbewusstsein und eiserne Disziplin nachgesagt wird, als sei dies das Normalste auf der Welt.
Entfremdung der Politik-Lager
Was legt der Rücktritt von Horst Köhler noch offen? Eine von mehreren Antworten: Er handelt von der Entfremdung zwischen der engeren politischen Klasse – zu der inzwischen die Medien weitgehend gehören -, und Teilen der Bevölkerung und andererseits von dem Unvermögen der politischen Klasse mit unbequemen Bürgern und Ideen umzugehen. Horst Köhler hielt es nicht mehr aus mit dieser politischen Klasse und diese nicht mehr mit ihm. Warum? Horst Köhler war in sein Amt – vereinfacht gesagt – als Marktradikaler gestartet und passte gut in das bürgerliche Lager, das ihn zum Bundespräsidenten gewählt hatte. Nach und nach entfernte er sich von dem, ohne sich mit anderen Lagern gemein zu machen.
Er verstand sich als eigenständig, als Sprachrohr der Bürger, ohne auch diesen nach dem Mund zu reden. Eine kleine Auswahl seiner Forderungen und Vorstellungen: mehr direkte Demokratie; höhere Benzinpreise und ein `grüner` Umbau der Volkswirtschaft; bereits Mitte 2008 eine Regulierung der Finanzmärkte, weil sie „Monster“ seien. Köhler passte zuletzt nicht mehr zu dieser politischen Klasse und legte dies mit seinem Rücktritt offen. Die politische Klasse, die Selbstkritik nicht kennt, urteilt unisono so: Der konnte es nicht.
Wer geht noch? Nach diesen beiden Rücktritten wechselte die Redaktion einer Talkshow hellsichtig die Perspektive und betitelte ihre Sendung: „Will uns keiner mehr regieren?“ Ein Perspektiv-Wechsel, der viel zutage fördert: In das von allen Medien geförderte Alltagsschimpfen über die korrupte Parteien-Politik, die nur versagt, schleicht sich – nicht nur als spaßige Zuspitzung – die Angst ein: Was wird denn, wenn jetzt noch mehr gehen? Wenn immer mehr von denen keine Lust mehr haben? Das stimmt ja gar nicht, was wir immer gesagt und geglaubt haben und was die Medien ständig schreiben: Die kleben um jeden Preis und bis zum letzten Atemzug an ihrem Posten.
Gefahr für Merkel
Die Vorsitzenden von CDU, CSU und FDP stellten unverzüglich den Christdemokraten Christian Wulff, Ministerpräsident von Niedersachsen, als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten auf. Die Mehrheit in der Bundesversammlung für den Kandidaten der Regierungsparteien ist eindeutig. Trotzdem Überraschung: Seine Wahl gilt inzwischen als alles andere als gesichert. Um Angela Merkel das politische Leben so schwer wie möglich zu machen, haben SPD und Grünen einen Gegen-Kandidaten aufgestellt, der auch von Angela Merkel stammen könnte: Joachim Gauck, ehemaliger Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde und untadeliger DDR-Bürgerrechtler. Wer Wulff wählt, kann auch Gauck wählen, da ist politisch kaum ein Unterschied.
Jedoch: Gauck fliegen jetzt alle Herzen zu, weil Christian Wulff als Kandidat des Establishments gilt und Gauck als Unabhängiger erscheint. Und die Medien tun alles, um Gauck hochzujubeln und diesen Zweikampf zu schüren. Die Überlegung: Vor allem FDP-Anhänger in der Bundesversammlung, die mit der Bundeskanzlerin Merkel ebenso unzufrieden sind wie mit ihrer eigenen Parteispitze unter dem Parteivorsitzenden und Vizekanzler Guido Westerwelle, könnten die Parteidisziplin verletzen und eventuell Gauck wählen und nicht Wulff; die Wahl ist Ende Juni. Die These: Über einen Bundespräsidenten Joachim Gauck stürzt Bundeskanzlerin Angela Merkel. Diese These hat zwar kein rationales Fundament. Denn die Kanzlerin hat unverändert im Bundestag eine eindeutige Mehrheit. Und sie hätte mit Gauck einen Bundespräsidenten, der ihr politisch genauso genehm sein wird wie der eigene Kandidat. Vermutlich dürfte sie mit dem Wertkonservativen Gauck, der sozialen Fragen wenig aufgeschlossen ist, sogar mehr Freude haben als diejenigen, die ihn (aus vordergründigen taktischen Gründen) aufgestellt haben, also SPD und Grüne.
Jedoch zählt Rationalität in diesen Wochen noch weniger als sonst, und deshalb steckt in allen Köpfen der Gedanke: Wer ein Interesse hat, Merkel zu stürzen, für den bietet sich jetzt in der Bundesversammlung eine gute Chance. Ein erster Landesverband der FDP ist bereits offiziell auf Distanz zu Wulff gegangen. Wer den Anspruch von früher aufrecht erhält, die politischen Formationen müssen geschlossen sein in allen Fragen, der kann die Lage nur als gefährlich für Merkel und ihre Regierung einschätzen. Wer eine lebendige Demokratie schätzt, der sieht in diesen Vorgängen einen Fortschritt.
FDP als Sicherheitsrisiko
Die FDP ist für die Union innerhalb von wenigen Monaten vom politischen Wunschpartner zum Sicherheitsrisiko, ja zur Achillesferse der Bundesregierung geworden. Es handelt sich dabei um einen Vorgang, der nicht überschätzt werden kann: Die FDP erreichte bei der letzten Bundestagswahl im Herbst 2009 beinahe 15 Prozent der Wählerstimmen. Bei der jüngsten Landtagswahl im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen kam sie auf 6,7 Prozent. Bei Umfragen liegt sie inzwischen bundesweit zwischen fünf und sechs Prozent und müsste, wäre jetzt Bundestagswahl, um den Wieder-Einzug in das Parlament kämpfen.
CDU und CSU sind zu vernünftig und inzwischen zu sozial, um der FDP in ihrer unsozialen Politik zu folgen. Angela Merkel, fleischgewordene politische Mitte, verspürt offenkundig auch in einer Regierung mit der FDP keine Lust, zu ihrem einst marktradikalen Kurs zurückzukehren. So versucht sie einerseits als Kanzlerin nach außen die Konflikte in der Bundesregierung auszutarieren und der FDP und ihrem Vizekanzler Guido Westerwelle zu helfen, das Gesicht zu wahren. Sie ließ und lässt aber andererseits die CDU-Politiker und CDU-Bundesminister gewähren, die das Vorhaben der FDP unterminierten, in großem Stil Steuern zu senken; ein Vorhaben, mit dem sich die FDP auch in der Gesellschaft vor allem vor dem Hintergrund der hohen Staatsverschuldung völlig isoliert hatte.
Westerwelles Blamage
Nachdem CDU und CSU so in einem sehr unästhetischen monatelangen Kleinkrieg ihren Regierungspartner FDP `nieder gerungen` hatten, folgt nun der Streit um Steuererhöhungen: Weite Teile der CDU wollen im Rahmen einer Spar- und Sanierungspolitik auch die Steuern für Vermögende und sehr gut Verdienende erhöhen. Sogar der Vorsitzende des Wirtschaftsrates der CDU plädiert dafür: Wenn ärmeren Schichten soziale Leistungen gestrichen würden, dann müssten auch die Reichen etwas beisteuern, so sein Argument. Die FDP ist jedoch strikt dagegen. Und Kanzlerin Merkel stützt diese Position; so werden in dem jüngsten Sparpaket, mit dem die Regierung in den nächsten Jahren bis zu 80 Milliarden Euro sparen will, zwar die Ärmsten der Republik belastet – unter anderem wird den HartzIV-Empfängern das Elterngeld gestrichen -, aber weder der Spitzensteuersatz erhöht, noch die Erbschafts- oder Vermögenssteuer wieder eingeführt. Merkel weiß:
Es hat die FDP und ihren Vize-Kanzler politisch blamiert, als sie öffentlich ihrem Vorhaben abschwören mussten, die Steuern massiv senken zu wollen. Wenn sie nun auch noch für das Gegenteil, also für Steuererhöhungen, die Hand heben müssten, dann würde dies die FDP und deren Spitze in so schwere Turbulenzen stürzen, dass die Regierung gefährdet sein könnte. Da jedoch um Steuererhöhungen kein Weg vorbeiführt – aus Gründen der Gerechtigkeit und um überhaupt annähernd eine Chance zu haben, die Staatsschulden in den Griff zu bekommen – brauchen Merkel und Westerwelle noch Zeit, um diese nächste Wende für die FDP vorzubereiten. Heute geht dies auf gar keinen Fall: Denn Angela Merkel und Guido Westerwelle brauchen in der Bundesversammlung jede FDP-Stimme für ihren Kandidaten Wulff; siehe oben.
Die FDP mutierte so innerhalb von wenigen Monaten von einem strahlenden Wahlsieger zu einem parteiförmigen politischen Drama. Und zu einem politischen Pflegefall für die Kanzlerin.
Baustelle NRW
Auch Wochen nach der Wahl hat Nordrhein-Westfalen immer noch keine neue Landesregierung. Die bisherige Landesregierung aus FDP und CDU hatte keine Mehrheit errungen, für eine rotgrüne Regierung reicht es jedoch auch nicht. Es gab Gespräche von SPD und Grünen mit der Linkspartei über eine rot-rot-grüne Regierung: gescheitert. Es gab Gespräche mit der CDU über eine Große Koalition: gescheitert. Es gab Gespräche mit der FDP über eine so genannte Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP: gescheitert. Der Stand der Dinge: Die bisherige Regierung wird ohne Mehrheit weiter die Geschäfte führen, und die SPD will versuchen, für ihre Gesetzesvorhaben mit unterschiedlichen Bündnissen im Parlament Mehrheiten zu organisieren. Eine Minderheitsregierung mit den Grünen? Nein, hieß es noch am 16.6., aber anderntags ließ man verlauten, dass man es nun doch versuchen wolle.
Delegitimierung der Parteien
Auch das hat die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen gezeigt: Die Politik hat keine Macht-Zentren mehr. Die kleinen Parteien werden größer, die bisher großen kleiner. Die Parteien vermögen nicht einmal gemeinsam ihrem Wahl-Volk überzeugend beizubringen, dass die bedrohlichen Staatsschulden als Folgen des Krisen-Managements weitgehend von der Finanzbranche zu verantworten sind. Und alle Parteien zusammen sind weniger denn je legitimiert: Das Ergebnis dieser Wahl war bis zuletzt offen und deshalb spannend. Es gab deshalb also einen Grund zur Wahl zu gehen. Es gab und gibt eine schwere Krise. Es kommt also auf die richtige Politik an. Und Politik ist wichtig. Also: noch ein Grund zur Wahl zugehen. Wenn in einer solchen Lage weniger als 60 Prozent der Bürger wählen, dann ist dies mehr als eine geringe Wahl-Beteiligung: Es ist ein Akt der Delegitimierung der Parteien.
Alles beim Alten
Der Text handelte bisher von Anzeichen politisch-kultureller Umbrüche. Alles andere ist jedoch so wie immer: Die Banken behalten ihre Macht, die Reichen ihr Geld, und den Ärmeren wird es – siehe das jüngste Sparpaket – genommen. Unverändert redet die regierende Politik Unfug daher. So kann die Kanzlerin sagen: Wir können nur ausgeben, was wir einnehmen. So sagt Westerwelle: Bei einem Staatshaushalt ist es wie bei einem privaten Haushalt, man kann nicht mehr ausgeben als das, was man hat. So sagt Merkel: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt.
Stereotypen, mit denen unter anderem der Haushalt des Staates mit dem eines Privatmannes gleichgesetzt wird – die pure Desorientierung, die das Nachdenken über mutige Alternativen bereits im Keim ersticken soll. Unverändert spielen die folgenden Fragen eine zu geringe Rolle: Wie kann diese Finanzbranche so reguliert und geschrumpft werden, dass sie Bürgern und Unternehmen dient? Denn solange die Finanzbranche, die so selbstverständlich Krisen produziert wie sich jeden Herbst Schnupfen ausbreitet, nicht gebändigt ist, ist alles andere auf Sand gebaut.
Und: Wer zahlt die Zeche der Krisen? Wie kann die deutsche Wirtschaft zu einer ökologisch geprägten Wissensindustrie umgebaut werden? Wird die jetzige Euro-Krise genutzt, um zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik der EU zu kommen? Mit anderen Worten: In den entscheidenden Fragen ist alles beim Alten in Deutschland.
Foto: flickr.com/quox | xonb
Autor: Wolfgang Storz/WOZ