Das Gespenst des Pharisäers
Helmle ist kein Ehrenbürger mehr. Der Gemeinderat hat entschieden. Damit könnte die Sache erledigt sein – zum Guten. In Leserbriefen dazu murrt es aber immer noch. Es ist eine Art Nachkarten aus einer Hinterkammer der Volksseele. Die Botschaft: Hochmut! Ihr elenden, dreckigen Selbstgerechten! Ihr erblüht ja geradezu im warmen Bad der political correctness. Auch im Gemeinderat hatte sich diese Sicht reichlich zu Wort gemeldet. Dagegen ein paar Sätze eines prominenten Konstanzers.
Niemand weiß, wer er ist. Vor dem praktischen Test. Es ist schon wahr: Niemand von uns später Geborenen kann wissen, wie er sich selbst im „Dritten Reich“ verhalten hätte. Und das ist noch barmherzig formuliert. Jedermann hat schließlich eine intime Kenntnis seiner Charakterschwächen. Keiner von uns ist jemals getestet worden – so wie die Generationen von Deutschen vor uns getestet worden sind. Freiheit und Rechtsstaat sind uns geschenkt worden. Insofern sind wir alle ungeprüfte Demokraten.
Mit der Ungewissheit über uns selbst müssen wir leben. Besser: dürfen wir leben. Es ist ja doch eine eher leichte Bürde. Meistens spüren wir sie gar nicht. Wenn wir über die Deutschen oder bestimmte Deutsche in der NS-Zeit urteilen, müssen wir nicht unbedingt vergessen, dass uns selbst die Bewährungsprobe erspart geblieben ist. Wer vergäße es denn auch?
Unser Urteil muss deswegen nicht unscharf ausfallen oder in der Schwebe bleiben. Der Irrtum oder die Verwirrung beginnt, wo wir die nur allzu berechtigte Skepsis uns selbst gegenüber auf unser Bild von der Zeitgeschichte durchschlagen lassen. Wo wir etwa meinen, eine Aussage über das Versagen eines Menschen in den Jahren 1933-1945 könne nur klar und deutlich sein, wenn sie aus einer Haltung der persönlichen Selbstgerechtigkeit komme. Das wäre ein Missverständnis, ein Missbrauch des oben angedeuteten Mindeststandards an Selbstreflexion.
Die Suche nach der historischen Wahrheit ist keine Spielart der Selbstüberhebung. Sie ist ein universales Anliegen. Keine Gesellschaft kann darauf verzichten – aus Interesse an sich selbst, aus Selbstachtung, aus Respekt vor den Opfern. Die Vertauschung des einen mit dem anderen – der Entscheidung für das Nachforschen mit einem pharisäerhaften „Herr, ich danke Dir, dass ich nicht so bin wie jener“ – ist ein Relikt aus unserer Nachkriegszeit. Sie hat die unvoreingenommene, rücksichtslose Aufarbeitung der NS-Zeit in der Bundesrepublik etwa zwei Jahrzehnte lang behindert. Gezielt, strategisch, im Interesse der Entlastung der Verantwortlichen aller Ebenen.
Autor: Ernst Köhler