Das Projekt ‚Sozialstaat‘ muss neu erfunden werden

Mit „weiter so“ geht dieser Staat am Krückstock. Es braucht eine neue Definition des Sozialstaates mit Unterstützung des Mittelstandes. Unser Autor Wolfgang Storz versucht eine Neubestimmung: Was muss sich ändern, damit Deutschland wieder den Namen „Sozialstaat“ verdient?

Die jetzige Große Krise wird die Debatte um den Sozialstaat sehr bald sehr beschleunigen: Der Staat verschuldet sich in diesen Monaten enorm, um das vom Finanzgewerbe ins Wanken gebrachte Wirtschaftssystem zu stützen. Um diese Schulden wieder auf ein halbwegs erträgliches und verantwortbares Niveau zu verringern, wird das alte Lied bald wieder laut ertönen: Gebühren und Steuern hoch, soziale Leistungen runter.

Das Projekt ‚Sozialstaat‘ wird also erneut unter beträchtlichen Druck kommen. Und es sieht so aus, als ob dann die Zahl seiner Verteidiger noch kleiner und deren Kraft noch schwächer als zuvor sein wird. Die Hoffnung ist schon wieder dahin, dass die jetzige Krise quasi automatisch – vor der Kulisse des Fiaskos der Marktgläubigen -, den Staat und mit ihm den Sozialstaat in altem Glanz erstrahlen lässt. Es bedarf eben mehr, als das Alte zu verteidigen. Nur wenn die Idee des Sozialstaates neu erfunden wird, ist sie überhaupt gut genug, um von den Fehlern seiner Gegner profitieren zu können.

Gefragt ist ein Gegen-Modell zum inhumanen Kapitalismus

Wie die Stimmung in diesem Lande ist, das lässt sich an zwei bedeutenden Interventionen im Jahr 2009 und den Reaktionen darauf ganz gut ablesen. Im Frühjahr plädierte der renommierte Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde in seiner Streitschrift „Woran der Kapitalismus krankt“ dafür, die Ideen des Gemeinwohls und der Solidarität neu zu beleben. Es bedürfe eines Gegen-Modells zu dem heutigen inhumanen Kapitalismus. Die öffentliche Reaktion auf seine Intervention: kaum messbar, knapp über Null.

Es gab in diesem Krisenjahr 2009 noch eine Intervention: und da geht die Post ab. Seit wenigen Monaten ist in Deutschland zu erleben, wie wichtige bürgerliche Kreise versuchen, die Werte und Begriffe (Steuer-)Gerechtigkeit, Freiheit und Leistung zu besetzen beziehungsweise sich neu anzueignen. Es geht um eine Debatte der Mittelschichten, für die sich Gerechtigkeit eben nicht am Gut Solidarität, sondern am Gut Leistung auszurichten hat. Eine Strömung, die sich auch im Wahlsieg der FDP niederschlägt, jedoch letztlich weit, weit darüber hinausgeht.

Keine Steuern mehr?

Der steuer-populistische Philosoph Peter Sloterdijk zündelte im Juni: Der Sozial- und Steuerstaat („Kleptokratie“) sei ungerecht, da er die Leistungsträger sehr belaste. Er plädiert gegen den „steuerstaatlich zugreifenden Semisozialismus“. Es sei zu bedenken, ob der Steuerzahler statt einer Zwangsabgabe nicht freiwillige Gaben entrichten solle. Ein Angriff auf das, was den Kern des Staatlichen ausmacht: seine Eigenschaft als Steuerstaat. Ihm soll die Steuer und damit das Steuerrad genommen werden. Der Vorstoß von Sloterdijk ist nicht der erste. Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender des Medien-Konzerns Springer, hat im Jahr 2008 in einem langen Interview erläutert: „Die Steuern sind zu hoch. Vor einigen Jahrhunderten brachen Revolutionen aus, weil man den Leuten den Zehnten nahm. Heute nimmt der Staat die Hälfte.“

Zu dieser Forderung, dem Staat keine Steuern mehr zu zahlen, gehört, mit ähnlich großem Echo, spiegelverkehrt die Debatte, die das Bundesbankvorstands-Mitglied Thilo Sarrazin losgetreten hat, mit Beschreibungen dieser Gesellschaft am Beispiel Berlin, die doch zeigten, wie Rainer Hank süffisant in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ schrieb, „was passiert, wenn der versorgende und vorsorgende Sozialstaat selbst zum Geschäfts- und Familienmodell (aus)genutzt wird“.

„Hass der modernen Gesellschaften auf Parasitentum“

Der Jenaer Wissenschaftler Stephan Lessenich nimmt beide Debatten sehr ernst: Die gehobenen Stände, die diese neue Bürgerbewegung ausmachten, wüssten „weite Teile der arbeitnehmerischen Mittelschichten und des freiberuflichen Mittelstands hinter sich“. Die Wirklichkeit, die zu dieser Aussage gehört: In Deutschland bezahlen tatsächlich die leistungsbereiten qualifizierten Mittelschichten, deren Jahreseinkommen zwischen 50 000 und 70 000 Euro liegen, aufgrund der Steuerprogression prozentual die höchsten Steuern. Und sie spüren eben anhand der Leere ihrer Geldbeutel die Politik, die von der rot-grünen Bundesregierung von Gerhard Schröder begonnen wurde und bis heute anhält: Man lässt den Sozialstaat stehen, befreit jedoch die Sehr-Wohlhabenden und die Unternehmen von den Lasten der Finanzierung und bürdet sie allein den steuerzahlenden Mittelschichten auf.

Und viele Untersuchungen zeigen: Derjenige, der Sozialleistungen bezieht, aber keine Beiträge einzahlt, der ist nicht gut angesehen. Und worüber jeder redet, nur nicht öffentlich: Die soziale Frage ist eine ethnische Frage geworden. Das mentale Fundament des Sozialstaates war einst die deutsche Nation. Nun sind die Grenzen weg und die Missbrauchsängste noch größer.

Der US-Soziologe Richard Sennett spricht vom „Hass der modernen Gesellschaften auf Parasitentum“. Mehr als Verschwendung fürchte die Gesellschaft, ob berechtigt oder nicht, „von ungerechtfertigten Ansprüchen ausgesaugt zu werden“.

Leistung garantiert den sozialen Aufstieg nicht mehr

Und die Mittelschichten erleben noch etwas. Sie erleben für sich selbst und ihre Kinder, dass das Grundversprechen dieser Leistungsgesellschaft nicht mehr gilt: Leistung garantiert den sozialen Aufstieg nicht mehr.

Damit ist endgültig ein Punkt erreicht, vor dem der Sozial-Philosoph Jürgen Habermas bereits Mitte der achtziger Jahre warnte: Er sah die Achillesferse des Wohlfahrtsstaates im Sich-Abwenden der Mittelschichten und Leistungsträger, weil sie das Gefühl hätten, sie bezahlen via Steuern und Gebühren für den Sozialstaat und profitierten nicht von ihm.

So lautet die These: Böckenförde traf nicht den Nerv der Mittelschichten, er nervte sie.  Deshalb versiegte sie seine Intervention, bevor sie zu sprudeln begann. Den Nerv traf Sloterdijk. Seine Debatte hat Kraft, weil sie einen Resonanzboden unter sich hat.

Der Staat überzeugt nicht

Was tun?  Die erste Antwort: Beherzigen und nicht länger ignorieren, dass dem Sozialstaat seine Elite-Truppen abhanden kommen. Die Mittelschichten, seine Finanziers fliehen. Es ist so. Es ist übrigens auch das jetzige Krisenmanagement, das sie noch schneller rennen lässt. Die Wissenschaftler Frank Nullmeier und Frauke Hamann beschreiben das so: „Dem in der Krise machtvoll funktionierenden Staat schlägt Unbehagen, ja Misstrauen entgegen. Das entschiedene staatliche Krisenmanagement wird als Schwäche erkennbar. Der Staat in seinem etatistischen Furor, von Banken und Autobranche erpresst, überzeugt nicht.“

Die zweite Antwort: Aus all dem den Schluss ziehen, der Sozialstaat kann nur gehalten werden, wenn diese Schichten zurückgewonnen werden. Die dritte Antwort: Daraus wiederum den Schluss ziehen, es reicht nicht mehr, den jetzigen Sozialstaat zu verteidigen, denn genau vor dem laufen ja seine wichtigsten Finanziers von dannen. Die vierte Antwort: Es muss also eine Antwort gefunden werden, die diese Mittelschichten überzeugt.

Die fünfte Antwort: Es gibt eine gute Chance, diese Mittelschichten zu überzeugen, denn deren größter Teil will Solidarität leben. Er findet sie in dem jetzigen Sozialsystem nur nicht mehr. Die Werte Solidarität und Gerechtigkeit sind unverändert aktuell. Sie üben unverändert Faszination aus. Aber sie sind in Teilen in ihrer praktischen Umsetzung veraltet, programmatisch und instrumentell. Die sechste Antwort: Es wäre deshalb der verhängnisvollste aller verhängnisvollen Fehler, würde den Fliehenden unterstellt werden, sie seien gegen die Solidarität, das Öffentliche, das Gemeinsame.

Es fehlen Arbeitsplätze im Bereich der humanen Dienstleistungen

Ein Vorschlag. Die Debatte um einen neuen Sozialstaat entfernt sich von der Sphäre der Moral und lässt sich auf die Sphäre des Ökonomischen ein. Das geht so: Eine Ursache der jetzigen Großen Krise sind die Handelsungleichgewichte: Die einen verkaufen und exportieren und die anderen konsumieren. Darin ist Deutschland Weltmeister: Das Land verkauft in der Welt Güter auf Teufel komm`raus und konsumiert kaum; die Binnenkonjunktur liegt brach. Im eigenen Interesse und in dem der Weltwirtschaft muss Deutschland das ändern. Wie?

Die deutsche Wirtschaft hat, verglichen mit Schweden, einige Millionen Arbeitsplätze zu wenig im Bereich der humanen Dienstleistungen: Bildung, Pflege, Gesundheit. Der Industrie-Soziologe Michael Vester hat berechnet: Im Jahr 2000 war in Schweden die Beschäftigung im technisch-industriellen Sektor um etwa sechs Prozent niedriger als in Deutschland, die Beschäftigung in den Humandienstleistungen um etwa den gleichen Prozentsatz höher. Den Arbeitsplatz, der in der schwedischen Industrie wegen der Steigerung der Produktivität wegfällt, den schaffen die Schweden im Bereich der Human-Dienstleistungen neu. Diese Arbeitsplätze sind gut, gut bezahlt und mit qualifizierten Arbeitskräften besetzt.

Und in Deutschland haben wir in diesem Bereich weniger Arbeitsplätze, sie sind mies und mies bezahlt; eine Art Gegenmodell. Auf Deutsch gesagt: Am Fließband von Daimler bauen die besten Facharbeiter dieser Republik Autos für den Export zusammen. Und zwei Straßenzüge weiter kümmern sich mies bezahlte und schlecht ausgebildete Pflegekräfte um verwirrte Alte.

Was fehlt: Eine neue Wohlfahrts-Gesellschaft

Es gibt eine Lokomotive, die uns und mit der wir uns aus dieser Sackgasse der Inhumanität herausziehen können: der politische Lohn. Wir brauchen einige Millionen Arbeitsplätze mehr in dem Bereich der Humandienstleistungen. Es müssen gute Arbeitsplätze für gutausgebildete Arbeitskräfte sein. Und die müssen gut und nicht mies bezahlt sein. Diese hohen Löhne gibt der Markt nicht her. Deshalb müssen dort, von der Öffentlichkeit initiiert und subventioniert, politische Löhne gezahlt werden.

So wird Arbeit geschaffen und Arbeitslosigkeit verringert. So gibt es gute Dienstleister und Dienstleistungen, die Probleme lösen, die es heute in jeder Familie gibt. So gibt es eine Solidarität, die sichtbar und praktisch ist und die an der Idee der Leistung ansetzt. So würde die Binnen-Konjunktur gestärkt und unsere Volkswirtschaft käme in eine gesündere neue Balance. So wären die zu Recht sozialstaats-skeptischen Mittelschichten vielleicht wieder zurückzugewinnen. Mit einem ersten Schritt vom Wohlfahrts-Staat in eine neue Wohlfahrts-Gesellschaft.

Autor: Wolfgang Storz