Dekolonialer Stadtrundgang: Stellungnahme der Verantwortlichen

Der Konstanzer Historiker David Bruder befasste sich auf seemoz kritisch mit dem Stadtrundgang und wies, sachlich begründet, auf einige Nachlässigkeiten und Fehler hin, die es in der Tat auch gibt. Daraufhin antwortete Khayim Illia Perret und überzog Bruder mit herben Vorwürfen, die bei einem großen Teil unserer LeserInnen durchweg auf Unverständnis und Ablehnung stießen. Hier nun die offizielle Verlautbarung der für das Projekt Zuständigen im Wortlaut.

Der Audioguide “Dekolonialer Stadtrundgang Konstanz” in der Izzy Travel App ist ein Transferprojekt von Studierenden, welches im Rahmen eines Seminars über Rassismus und Kolonialismus im Wintersemester 2020/21 initiiert wurde. Wir ordnen Erkenntnisse aus der Forschung zur Kolonialgeschichte (von Prof. Kirsten Mahlke und Hannah Beck) sowie Forschungsansätze aus der kulturwissenschaftlichen Forschung in das Stadtbild ein. Das Projekt knüpft an aktuelle Debatten in Deutschland zu Lücken in der Geschichtsaufarbeitung, zum Umgang mit Denkmälern und zum kolonialen Erbe an. Es ist somit als Beitrag innerhalb eines größeren Kontextes zu verstehen. Für den Rundgang haben wir repräsentative Orte ausgewählt, um ihre historischen und aktuellen Verflechtungen mit kolonialen Unternehmungen, Akteuren, Waren und Abbildungen aufzuzeigen. Wir zeigen Gedächtnisorte und rufen Geschichten in Erinnerung, die in Vergessenheit geraten sind. Im Rahmen des Kolonialismus wurden Menschenrechtsverletzungen begangen, die sich teils bis heute auswirken. Der Rundgang steht im Zusammenhang mit der Ausstellung Stoff. Blut. Gold. Auf den Spuren der Konstanzer Kolonialzeit und verweist auch auf die darin ausgestellten Dokumente.

Kolonialismus: Keine abgeschlossene Periode

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Unsere Arbeit beruht auf Archivdokumenten und Forschungserkenntnissen, die zeigen, dass Konstanzer Unternehmer im großen Stil am Sklavenhandel beteiligt waren. Diese Erkenntnisse sollen jedoch nicht nur einem kleinen akademischen Publikum vorbehalten bleiben: Wir möchten sie mit einem größeren Publikum teilen. Der Stadtrundgang ist work in progress, das heißt neue Erkenntnisse, Korrekturen etc. werden auch weiterhin in die Audio-App einfließen. Wir sind daher sehr dankbar für Hinweise und nehmen diese gerne auf. Unsere Quellen sind auf der Homepage Konstanzer-Kolonialgeschichte/Stadtrundgang und in der Publikation zur Ausstellung aufgeführt und nachzulesen.

Das Projekt ist als Schnittstelle zwischen Universität und Gesellschaft gedacht und ein Beispiel dafür, wie man Kolonialgeschichte lokal erzählen kann. Aus einer „dekolonialen“ Perspektive betrachten wir die Geschichten von Konstanzer Akteuren in ihren globalen Verflechtungen. Das ist eine Sichtweise, die in den Geistes- und Kulturwissenschaften der lateinamerikanischen Universitäten seit den 1990er Jahren entwickelt wurde, und die eine Erweiterung des Verständnisses von Kolonialismus vornimmt. Wissenschaften und Erkenntnisformen in den kolonialisierten Ländern sind von den Kolonialherren nicht nur per se aus dem Wissens- und akademischen Kanon ausgeschlossen worden, sondern wurden überhaupt als Wissensformen ignoriert und geleugnet. Außerdem integriert die dekoloniale Perspektive Spuren und Zeugnisse der ehemals Kolonisierten und Versklavten und zeigt Kontinuitäten zwischen kolonialen und nachkolonialen globalen Wirtschafts- und Produktionsformen auf, zwischen kulturellen Ausdrucksformen ungleicher Verhältnisse, Gewaltformen, Diskriminierungen und ihren ökonomischen Grundlagen. Das heißt: Kolonialismus ist nicht als abgeschlossene Periode der Vergangenheit zu verstehen, sondern prägt unser Leben bis in die Gegenwart hinein.

Wie geht Konstanz damit um?

Was bedeutet es für die Stadt Konstanz und ihr Selbstbild, dass Konstanzer Akteure am transatlantischen Sklavenhandel beteiligt waren? Wie gehen wir als Stadtgesellschaft mit Bildern, Geschichten und Mythen um, die Menschen in ihrer Würde verletzen? Inwiefern ist historische Kontextualisierung dafür relevant, wie wir heute diese Bilder und Symbole wahrnehmen? Müssen wir an – aus heutiger Sicht erniedrigenden – Darstellungen die Maßstäbe unserer oder jener Zeit anlegen? Wer entscheidet darüber, ob diese Symbolik aufrechterhalten wird? Die Debatte dreht sich offensichtlich nicht zuletzt darum, wie Geschichte erzählt wird und wer die Geschichte erzählt.

Wir arbeiten als Kulturwissenschaftler:innen und folgen innerhalb des Rundgangs drei Strängen: Zum einen erzählen wir die Geschichte des Handelshauses Ehinger und seiner Bedeutung für den internationalen Sklavenhandel und versinnbildlichen die ökonomischen und humanitären Ausmaße ihres Handelns entlang ihrer Wohnorte und ihres Wappens. Im zweiten Strang weisen wir auf die spätere Kolonialgeschichte von Konstanz hin. Hierbei geht es um den sogenannten Dreieckshandel im 18. Jahrhundert. Der dritte Strang des Audioguides greift Bilder und Plastiken in der Stadt auf, die rassistisches Gedankengut aus ihrer Entstehungszeit ins Heute tragen und bisher kommentarlos im Stadtbild vorzufinden sind. Dieses “Springen zwischen den Zeiten” ermöglicht uns, historische und aktuelle Verflechtungen mit kolonialen Unternehmungen, Menschenrechtsverletzungen und deren Kontinuitäten aufzuzeigen.

Die Macht der Ehingers

Es wurde kritisiert, dass wir durch vage Assoziationen unsere Erzählung in einen verzerrenden Rahmen und in einer „woke“ Ideologie einbetten würden. Wir möchten am Beispiel einer Station unsere Position darstellen: dem Münster als Ort, um über die  Bulle des Papstes aus dem Jahr 1493 zu erinnern, der die koloniale Aufteilung der Welt besiegelte. Im Rahmen des Stadtrundgangs ist es wichtig, die Kirchengeschichte der spanischen Kolonialzeit erst einmal bekannt zu machen, hierfür bietet sich das Münster an. Das ist jedoch längst nicht der einzige Grund, warum wir diesen Ort gewählt haben. Die im Kolonial- und Sklavenhandel bekanntermaßen sehr aktiven Handelshäuser der Fugger und der Welser waren mit mehreren Mitgliedern im Münster als Domherren oder sogar Fürstbischof vertreten. Zugegeben haben wir uns bezüglich der Stiftung geirrt: Sie war eine Altarstiftung, was aber nichts am Kolonialbezug ändert. Die Welserkapelle war die Familienkapelle und Grab zweier Welser, die als Erben großer kolonial erworbener Vermögen mit dieser Geschichte verflochten sind, genauso wie andere Mitglieder des Münsters. Wir können nicht alle kolonialzeitlichen Elemente im Audiorundgang aufzählen, da wir uns möglichst klar, nachvollziehbar und dem Auffassungsvermögen für gehörte Texte entsprechend auch kurz ausdrücken möchten.

Wichtiger ist aber der Umstand, dass wir beispielsweise die prächtige Renaissance-Eingangstür der Familie Ehinger als Spur des Prestiges eines großen Konstanzer Handelshauses betrachten und nicht als Objekt einer bauhistorischen Untersuchung. Kann diese Tür eine koloniale Spur sein? Wir sind der Meinung: ja. Die Tür mit dem Reichtum aus dem Sklavengeschäft in Verbindung zu bringen, halten wir für durchaus legitim, da das Erbe nach Konstanz an die Teilhaber und Verwandten der Sklavenhändler transferiert wurde (vgl. Testament U. Ehinger). Dieses Geld wurde über Generationen weitergegeben. Das Haus steht nicht mehr, doch die Tür ist noch vorhanden und bezeugt die Repräsentation von Macht der Familie Ehinger innerhalb von Konstanz. Wäre diese Tür in irgendeiner Art und Weise mit Menschen assoziiert, die sich mit rühmlichen Taten in unserem kollektiven Gedächtnis festgesetzt haben, dann würde diese Verbindung – da sind wir uns sicher – stolz nach außen getragen werden und zumindest eine Plakette darauf hinweisen. Und genau um diese Fragen geht es in diesem Stadtrundgang: Was wird von wem erinnert? Wer bestimmt, was sich im kollektiven Gedächtnis wie festsetzt? Wir erzählen keine Objektgeschichte, sondern die Geschichte der Konstanzer Familie Ehinger, die aus dem Handel mit Menschen Profite erwirtschaftete, die wiederum in der Heimat reinvestiert wurden. Diese Familie ist durch ihre Schlüsselrolle bei der Vermittlung zwischen der spanischen Krone und den Welsern, durch ihre Gouverneursämter sowie durch ihr verbrieftes Recht auf Sklavenjagd vor Ort mit für die Misshandlungen in der damaligen Provinz Venezuela verantwortlich.

Außerdem zeigen wir durch kleine Zwischenstationen Kontinuitäten der ausbeuterischen und diskriminierenden Praktiken bis in die heutige Zeit auf. Heute von den Betroffenen eindeutig als rassistisch wahrgenommene Symbole werden als solche markiert und sollen den Diskurs anstoßen, was ja offenbar auch geschieht.

Beispiel M-Apotheke

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Ganz richtig knüpfen die Texte und ausgewählten Orte an die Debatte um Black Lives Matter an. Wir stellen zum Beispiel an der Station der M-Apotheke bewusst die Frage, wie sinnvoll es ist, an alten Figuren festzuhalten, die eine Karikatur, ein überzeichnetes Klischee sind und als Marketing-Tool fungierten. Der Begriff „Mohr“ war in der Geschichte nie eine Selbstbezeichnung der People of Colour, sondern immer eine Fremdzuschreibung. Heute ist zum einen die werbende Botschaft verloren gegangen und zum anderen besteht ganz offen die Forderung von Betroffenen, diese Figur zu kontextualisieren. Sie bedient das Bild des sogenannten edlen Wilden: des unzivilisierten schwarzen Menschen, der die Geheimnisse der Natur(-Heilkunde) kenne, mit einem Speer in der Hand und dem seltsamen Rock. Schwarze Menschen sind heute noch täglich solchen Klischees ausgesetzt. Diese Statue verstetigt sie weiterhin. Sie normalisiert dieses Bild von Schwarzen Menschen als aus der Wildnis kommende, impulsive Heilsbringer oder Krieger.

Wir fragen uns, welches Menschenbild zum Ausdruck kommt, wenn man die Bedenken und Verletzungen von People of Colour, also eines Teils unserer Gesellschaft, nicht ernst nimmt? Und wenn eine weiße Mehrheitsgesellschaft daran festhält, eine Figur aus dem 18. Jahrhundert unkontextualisert im Stadtbild zu bewahren. Zumal das M-Wort nicht einfach so aus dem deutschen Sprachgebrauch verschwunden ist. Auch hierzu gab oder gibt es noch Debatten.

Den weißen Blick hinterfragen

An Konstanzer Häuserfassaden sind die Spuren der weißen Dominanzherrschaft, der Unterdrückung von People of Colour und die Deutungshoheit über Bilder, Mythen und Erzählungen deutlich abzulesen. Der Stadtrundgang folgt bewusst einem dekolonialen Ansatz.

Das bedeutet für uns konkret, dass wir Spuren, Bilder, Geschichten und Mythen – also alle Dinge, die unser kollektives Gedächtnis und damit unsere gemeinsame Konstanzer Identität mitprägen, auf koloniale Einflüsse prüfen und diese dann kritisch hinterfragen. Wird hier an Menschenbildern festgehalten, die gar nicht mehr unserer heutigen Realität und Identität entsprechen? Das alte Sparkassengebäude erzählt nicht nur von den Aufgaben der Post in der damaligen Zeit und würdigt mit hübschen Putten die herausragende Rolle des internationalen Handels für Konstanz. An diesem Gebäude ist eben auch abzulesen, wie Menschen auf Grund von äußeren Merkmalen bestimmten Regionen der Welt zugeordnet wurden. Diese Figuren bilden natürlich keine echten Menschen ab. Sie sind, wie die Figur der M-Apotheke, eine Ansammlung von Klischees, vereint in einer Plastik. Eine dekoloniale Spurensuche thematisiert diese Darstellungen von Nicht-weißen Menschen durch weiße Menschen. Als weiße Person dekolonial zu arbeiten bedeutet den eigenen weißen Blick zu hinterfragen, da er die Forschungsperspektive lange Zeit reduziert hat. Welche eigene gesellschaftliche Position kommt uns dank kolonial erworbener und neokolonial stabilisierter Machtstrukturen zu? Welche Bilder und Heldenerzählungen manifestieren diese dominanten Positionen bis heute? Ein Anfang ist es sicher, von Genozid und Handelspraktiken in Lateinamerika zu sprechen. Ein weiterer Schritt ist, unsere Stadt auf koloniale Bilder abzuklopfen und deren Gültigkeit laut und deutlich in Frage zu stellen.

Unsere Stadt ist zum Glück ein Ort, an den es viele Menschen aus aller Welt zieht und an dem sich eine diverse Stadtgesellschaft ausbildet. Diese Diversität spiegelt sich auch in der lokalen Geschichte.

Einen dekolonialen Stadtrundgang, den es an vielen anderen Orten bereits gibt, auch für Konstanz anzubieten, halten wir deshalb keineswegs für abwegig, sondern für sehr wichtig und begehenswert.

Text: AutorInnenkollektiv (Bilder: Pit Wuhrer)

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