Der Corona-Zahlenschrott

Wer die massiven Eingriffe in unsere Leben so fragwürdig begründet, verursacht das wachsende Misstrauen selber. Medien machen mit, meint der Chirurg und Publizist Bernd Hontschik. Seitdem das Corona-Virus die Flut der Nachrichten und TV-Sondersendungen dominiert, werden wir täglich mit der immer gleichen Zahlenzusammenstellung konfrontiert. Was sagt uns das? Eine kritische Nachfrage.

Zuerst wird die Zahl der Infizierten genannt, sogenannte „bestätigte Fälle“. Das sind die Fälle mit Infektionsnachweis durch einen Labortest. Die Zahl der bestätigten Fälle wird ständig addiert, steigt deshalb ständig bedrohlich an, von Tag zu Tag.

Am Montag, dem 11. Mai, gab das Robert Koch-Institut (RKI) für Deutschland 169.575 bestätigte Fälle von Infektionen mit dem Corona-Virus an, „357 mehr als am Vortag“. Doch: Wie viele mehr waren es in den vorherigen Tagen? War die Zahl der Getesteten höher oder niedriger als vorher? Hat man immer vergleichbar viele Menschen mit Symptomen und ohne Symptome getestet? Über welchen Zeitraum verteilt sich das? Ohne Antworten auf diese Fragen ist die Aussagekraft von „357 mehr als am Vortag“ gleich n

Als Nächstes wird die Zahl der Verstorbenen angegeben, am Stichtag waren es in Deutschland 7.417, „22 mehr als am Vortag“. Aus unerfindlichen Gründen berechnet das RKI daraus den Anteil Verstorbener mit 4,4 Prozent. Was kann man mit einer solchen Zahl anfangen? Nichts. Denn es ist reine Fantasie, dass 4,4 Prozent der Corona-Infizierten gestorben sind. Denn gestorben sind 4,4 Prozent der positiv Getesteten. Aber wer ist getestet worden? Getestet wurden fast nur Personen mit Risikofaktoren, die ausserdem Symptome einer Atemwegserkrankung aufwiesen. Wir haben es hier mit einer ganz speziellen Teilpopulation zu tun, nämlich mit Menschen mit Atemwegserkrankungen.

Wie viele der Millionen Tests negativ ausgefallen sind, bleibt im Dunkeln. Und daher ist auch keine Angabe darüber möglich, wie viele Menschen infiziert sind, aber nie krank wurden, denn sie wurden mit keinem Test erfasst. Es gibt nur Schätzungen, Studien sind in Arbeit. Nehmen wir an, dass nur jeder zehnte Infizierte zu einem Arzt geht, also getestet wird, dann wäre die Todesrate nicht mehr 4,4 Prozent, sondern nur noch 0,44 Prozent.

Das Gleiche gilt natürlich für die zuletzt immer angegebene Zahl der sogenannten Genesenen. Am Stichtag waren das 145.600. Diese Zahl ist noch nicht einmal eine Schätzung, sie ist eine reine Erfindung. Wenn niemand weiss, wie viele Infizierte es tatsächlich gibt, wie kann man dann eine seriöse Angabe zur Zahl der Genesenen machen?

Den Höhepunkt der Verwirrung aber stellt die sogenannte R-Zahl dar. Sie gibt an, wie viele weitere Infektionen ein bereits Infizierter verursacht. Diese Zahl sollte unter 1,0 liegen, denn nur dann kann die Zahl der Infizierten sinken. Aber spiegelt unsere tägliche R-Zahl auch nur annähernd die tatsächliche Zahl der weitergegebenen Infektionen wider? Mitnichten. Gerade werden wir wieder alle aufgeschreckt, weil das RKI am Stichtag von einem Anstieg der R-Zahl über den magischen Wert von 1,0 zu berichten weiss, natürlich verbunden mit Warnungen vor den schrecklichen Folgen der Lockerung des Lockdowns. Dazu muss man aber wissen, dass das RKI am 29. April das Berechnungsverfahren der R-Zahl geändert und am 6. Mai die Kriterien für die Testung komplett erneuert hat. Jetzt werden ausser allen Menschen mit Atemwegserkrankungen auch gänzlich symptomfreie Menschen breit getestet, darunter auch Fussballmannschaften.

Mit dieser Ausweitung der Getesteten kann man nicht feststellen, ob sich mehr Personen angesteckt haben, sondern nur, dass man mehr Infizierte gefunden hat. Ein himmelweiter Unterschied.

Die Erhöhung der R-Zahl über die magische Grenze von 1,0 beruht also nicht auf einer Zunahme der Infektionen, sondern auf der Ausweitung der Testungen. Und wenn man dann noch weiss, dass die aktuell veröffentlichte R-Zahl auf Daten beruht, die bis zu zehn Tage alt sind, dann kann die Erhöhung der R-Zahl über 1,0 mit Sicherheit nicht auf Lockerungen des Lockdowns zurückgeführt werden, denn diese kamen ja alle erst danach. Neuerdings wird vom RKI daher eine „geglättete“ R-Zahl veröffentlicht. Aha. Wer glättet hier was?

Damit wir uns nicht missverstehen: Abstandsregeln, Hygienemaßnahmen und Atemmasken sind sinnvoll, Verschwörungstheorien fehl am Platz. Aber wer mit solchem Zahlenschrott täglich aufs Neue den massiven Eingriff in unser aller Leben begründet, der hat das wachsende Misstrauen selbst verursacht.

Bernd Hontschik


www.infosperber.ch (Diese Kolumne erschien auch in der Frankfurter Rundschau vom 15. Mai.)