Der Fall Jauß: Ein Lebenslauf als Provokation

Mit einer sehr persönlichen Stellungnahme meldet sich Jochen Kelter zu Wort: Der bekannte Autor (Foto rechts) war an der Uni Konstanz lange Zeit Schüler des berühmten Romanisten Hans Robert Jauß (linkes Foto), und hatte mehr als nur wissenschaftlichen Kontakt mit dem später gescholtenen Professor. Hier Jochen Kelters langer, eindrucksvoller Bericht, der auch mit anderen „großen Romanisten“ ins Gericht geht:

Ich kam zum Sommersemester 1968 nach Konstanz an die Universität. Sie war nicht mein Wunschziel gewesen. Aber an der FU Berlin, an der ich mich hatte einschreiben wollen, herrschte ein Aufnahmestopp für westdeutsche Studenten. Da war man noch mit den Nachwehen der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg aus kurzer Distanz durch einen Polizisten im Juni des voraufgegangenen Jahres beschäftigt. Und schon bald sollte das Attentat auf Rudi Dutschke folgen. Das Ende der Nachkriegszeit in Deutschland kündigte sich an, die politisch, wirtschaftlich, kulturell und gesellschaftlich von den alten Eliten des NS – Regimes bestimmt worden war. Da mir Berlin verwehrt blieb, war ich auf den Romanisten Hans Robert Jauß an der jungen Reformuniversität Konstanz gestoßen oder genauer auf seine Antrittsvorlesung Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft (1).

Aber nicht nur das. Jauß hatte auch einen Assistenten, der Veranstaltungen zur Filmgeschichte und Filmwissenschaft anbot, deren Literatur zu jener Zeit fast ausschließlich auf Französisch oder Englisch abgefasst war. Solche Veranstaltungen hatte ich an der Universität in Südfrankreich belegt, wo die Beschäftigung mit der „Siebten Kunst“ zum intellektuellen Alltag gehörte (und die im Seminar besprochenen Filme häufig in öffentlichen Kinos oder Cinematheken zu sehen waren), wo es mit dem Institut des Hautes Etudes Cinématographiques (IDHEC) sogar eine Hochschule für Filmwissenschaft gab, während Deutschland sich kinematographisch im Zustand eines Entwicklungslands befand.

Film als Kunst und Literaturgeschichte als Provokation – egal ob der Philologie oder der Literatur erregten mein Interesse. Sie verhießen Themen und ihre Behandlung jenseits der ausgetretenen Pfade des „Muffs von tausend Jahren“. Eine wirkliche, zeitgenössische Beschäftigung mit Literatur und Filmkunst und davon ausgehend eine Art von Soziologie der Literatur und der Kunst, würde man heutzutage vielleicht sagen. Kein Nacherzählen der Literatur jedenfalls, das alleine die auktoriale Sicht, die werkimmanente Interpretation zu (re-)konstruieren versucht.

Ich kam ja aus einem ebenfalls sklerotischen Land zurück, das sich allmählich aufmachte, sein Gesicht zu verändern, das aber bis dato von der Glorie vergangener wissenschaftlicher Grosstaten zehrte. Ich hatte erlebt, dass ich keine Oberseminare in Germanistik belegen durfte, weil ich nicht den Nachweis erbringen konnte, die dafür notwendigen Deutschkenntnisse an einer französischen Hochschule erworben zu haben. Ich war auch zusammen mit einem Freund aus einem anglistischen Seminar verwiesen worden, weil wir moniert hatten, dass hier ja keineswegs die Texte von Edgar Allen Poe gelesen würden, sondern die Übersetzungen von Charles Baudelaire. Und zum Schluss wurden wir zum Winterende 1968 zu Dutzenden aus dem kommunistischen Studentenverband geworfen, weil wir für die erste grosse Vietnam-Demonstration die Parole „Frieden in Vietnam“ der Kommunistischen Partei (PCF) ablehnten und stattdessen den Slogan „Amis raus aus Vietnam“ forderten. Gleichwohl kehrte ich, kaum in Konstanz angekommen, bald schon wieder zurück, nach Paris, wo meine Freunde lebten und sich Wichtigeres anzukündigen schien als die Reform der Philologie oder der Umbau der Universitäten, nämlich der mögliche Umsturz des gesamten bürgerlichen politischen Systems.

Der Brillante

Ich kann nicht anders, als persönlichen Erinnerungen an die Person eine Würdigung des „Falls“ (im doppelten Sinn) des Hans Robert Jauß (1921–1997) samt meiner Anmerkungen voranzustellen, wie sie sich aufgrund der jüngsten sowohl historischen wie philologischen Forschungsergebnisse kurz zusammengefasst darstellt.

Jauß war in den beiden Leben, die er geführt hat, in seinen beiden Karrieren als politischer Soldat und Offizier, Romanist und reformorientierter Hochschullehrer, ein Mann der Tat und strategischer Kopf. Nachdem die erste Karriere des H.R. Jauß als Mitglied der Waffen-SS nicht länger herunterzuspielen oder zu beschönigen, geschweige zu leugnen war, beauftragte die Universität Konstanz, an der Jauß von 1966 bis zu seiner Emeritierung 1997 als einer ihrer Gründungsprofessoren Ordinarius für Romanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft gewesen war, den auf die Geschichte der Waffen-SS spezialisierten Militärhistoriker Jens Westemeier mit der Aufarbeitung von Jauß‘ militärischer Laufbahn (2). Schon seine ersten, im Jahr 2014 von der Universität publizierten Erhebungen und Daten zu Werdegang, Dienstgraden und Auszeichnungen skizzieren das bestürzende Bild eines militärischen Draufgängers und NS-Überzeugungssoldaten.

Jauß war stets unter den jüngsten, wo nicht der jüngste überhaupt, wenn militärische Beförderungen und Ordensverleihungen anstanden. Im Jahr 1944 war er als 23jähriger schließlich Kompaniechef in der Waffen-SS im Rang eines (lassen wir die kryptischen Dienstgrade der SS beiseite) Hauptmanns und Stellvertreter des Bataillonskommandeurs. Und seine Auszeichnungen lassen schnell erkennen, dass er sie sich nicht in der Etappe oder hinter der Front verdient hat: Orden für den Winterfeldzug in Russland, Nahkampfabzeichen in Bronze (vermutlich für den Partisanenkampf in Kroatien), Eisernes Kreuz zunächst 2., dann 1.Klasse, das von Hitler persönlich gestiftete Deutsche Kreuz in Gold, der zweithöchste Orden im NS-Militär nach dem Ritterkreuz – und auch in diesem Fall verliehen an den jüngsten Träger in der Waffen-SS.

Wir Studenten glaubten schon wegen seines Auftretens, bestimmt, drahtig, von eher kleinem Wuchs, Jauß sei dazumal ein schneidiger junger Wehrmachtsoffizier gewesen – alle unsere Lehrer vom Gymnasium bis zur Universität hatten schließlich Kriegsdienst geleistet. Unserer Annahme hatte er jedenfalls immer mehr oder minder explizit zugestimmt. Auf keinen Fall hätte er sich so anbiedernd dumm benommen wie sein Kollege, der Germanist und ehemalige Major Wolfgang Preisendanz, der einmal in einem Seminar aus welchem Anlass auch immer behauptete, er habe seine Soldaten in Russland stets abstimmen lassen, in welche Richtung marschiert werde. Worauf eine Stimme in einer der hinteren Reihen lautstark zu Protokoll gab, nun wisse er endlich, warum wir den Krieg verloren hätten. Worauf wiederum Preisendanz den Raum mit hochrotem Kopf und die Türe knallend verließ. Womit das Seminar beendet war.

Offensichtlich hat Jauß die Spuren seiner ersten Karriere nach 1948 nach und nach systematisch verwedelt und verwischt, was ihm in der Aufbauphase der jungen Bundesrepublik, wo er sich unter seinesgleichen, die ebenfalls unter dem Deckmantel einer anonymen Biographie zu verschwinden trachteten, nicht allzu schwergefallen sein dürfte. Die Immatrikulation an der Uni Bonn bei E.R. Curtius unter falschem Namen verschwand auf diese Weise, und aus der auf sie folgenden zweijährigen Internierung durch die Alliierten bis Anfang 1948 wurde „Kriegsgefangenschaft“, aus den Einsätzen und Schulungen für die Waffen-SS „Dienst in der Wehrmacht“. Aus den Akten der Konstanzer Uni-Verwaltung ist sein Personalblatt offenbar verschwunden. Ob der Gründungsrektor Hess, sein Doktorvater und zu jener Zeit Rektor der Universität Heidelberg, dafür gesorgt hat, ist nicht bekannt.

Der Romanist Ottmar Ette (3) zitiert den Jauß-Schüler Hans Ulrich Gumbrecht, Professor in Stanford und am Collège de France, der Jauß nicht zu den „große(n) Romanisten“ des 20. Jahrhunderts zählt wie E.R. Curtius, Erich Auerbach oder Werner Krauss. Aber Gumbrecht, der sich in der Neue Zürcher Zeitung, im Deutschlandfunk und anderswo gerne zu allen möglichen postmodernen Be- und Empfindlichkeiten feuilletonistisch auslässt (vielleicht hat ihn ja die Konstanzer Romanistik so negativ geprägt wie mich, dass er sich in seinem ursprünglichen Fachgebiet gar nicht mehr äußern mag), ist nicht unbedingt vertrauenswürdig. Er, für den „die Konstanzer Zeit zu einem Albtraum“ wurde, den ich als den großen Liebediener unter den Jauß-Schülern in Erinnerung habe, bei dem man einen Albtraum als letztes vermutet hätte, machte durch Jauß eine schnelle und steile akademische Karriere, war mit 26 Jahren bereits Professor und unter den ersten, die auf Jauß eindroschen, als dessen Karriere im Krieg endgültig ruchbar wurde. Da könnte man das Bild vom Fähnchen bemühen, das einer in den Wind hängt, wo der gerade weht.

Ein paar Bemerkungen noch zu den „großen Romanisten“. Zu Ernst Robert Curtius‘, der im Dritten Reich mehr oder weniger in die „innere Emigration“ gegangen war, Hauptwerk „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“ bleibt anzumerken, dass seine Lektüre für jeden Nicht-Philologen eine herausfordernde Qual darstellt. Sein elitärer Stil entsprach seiner Weltanschauung. Werner Krauss wurde in den 70er Jahren von Jauß aus der DDR an die Universität Konstanz eingeladen, was zu jener Zeit beileibe keine Selbstverständlichkeit darstellte. Der Freiburger Romanist Hugo Friedrich („Die Struktur der modernen Lyrik“) taucht in Gumbrechts Liste, warum immer, überhaupt nicht auf. Der größte der von ihm genannten Literaturwissenschaftler ist für mich jedoch unbestreitbar Erich Auerbach, der, vor den Nazis geflohen, in der streng kemalistisch säkularen Türkei Asyl erhielt, um den Wissenschaftsbetrieb an europäische Standards heranzuführen. In seiner „Mimesis“ schildert er – und sprengt damit die nationalsprachliche Philologie – an ausgewählten Beispielen aus über zwei Jahrtausenden Weltliteratur als genialer interpretatorischer Erzähler, der die Beschränkungen der Philosophie hinter sich lässt.

Und in diesem Zusammenhang noch ein Wort zu Jauß. Ette bezeichnet ihn als „den auf institutioneller Ebene im akademischen Feld mit Abstand einflußreichsten und prägendsten Romanisten des deutschsprachigen Raumes im 20. Jahrhundert“. Das mag man so sehen, statistische Anhaltspunkte dürfte es geben. Zu tun haben dürfte es nicht zuletzt mit dem verbreiteten Bedürfnis, die alte werkimmanente Philologie zu überwinden. Bedeutend ist für mich vor allem der Umstand, dass Jauß und andere nichts weniger im Sinn hatten als eine zweite Gründung der Bundesrepublik im akademisch-wissenschaftlichen Bereich.

Ob ihnen das letztlich gelungen ist, darf man angesichts von Pisa-Studien, zunehmender Verschulung der universitären Ausbildung und steigender Einflußnahme auf Forschung und Ausbildung durch die Wirtschaft guten Gewissens bezweifeln. Aber an der Aufrichtigkeit, mit der Jauß und andere gegen Ende der Nachkriegszeit (also zwischen der studentischen Rebellion der späten sechziger und der ersten „Ölkrise“ der frühen siebziger Jahre) die Literaturwissenschaft endgültig in die Moderne des 20. Jahrhunderts hieven wollte, besteht für mich kein Zweifel. Jauß, der ehemalige Nationalsozialist, begab sich damit endgültig ins „progressive“ Lager der westdeutschen Gesellschaft. Seine Frau war SPD-Mitglied, übte kommunale Ämter aus, und er selbst war zumindest Sympathisant von Willi Brandt & Co.. Das tilgt seine Schuld in der NS-Zeit nicht, scheint mir aber im Vergleich mit der Mehrheit seiner „alten Kameraden“ immerhin beachtlich.

Der Zugewandte

Meinen 50. Geburtstag im Jahr 1996 sollte ich ohne mein vorheriges Wissen in einem Konstanzer Hotel verbringen. Ich war hin gegangen, weil ich dort eine Lesung moderieren sollte, wunderte mich indessen, dass meine Assistentin mich begleitete. Und dann die Überraschung für mich, der ich Überraschungen stets zu meiden suche: ein Saal voller hiesiger und auswärtiger Gäste, kurze Lesungen von Kollegen und Kolleginnen, ein anschließendes Essen und ein langer Abend voller Begegnungen und Erinnerungen, eingefädelt von Freunden. Anwesend waren sozusagen als Ehrengäste, der Thurgauer Ständerat Thomas Onken, der Kreuzlinger, heute würde er heißen Stadtpräsident Josef Bieri sowie aus Konstanz Hans Robert Jauß, der zu jener Zeit bereits emeritiert war. „Jetzt kann ich nie mehr doppelt so alt werden wie Sie, Jochen“, sagt er zu mir. Die Anrede seiner Schüler mit Vornamen hatte er einst aus den USA mitgebracht, aber tunlichst vergessen, dass dort die Studenten ihre Professoren genauso ansprechen. Ein Jahr später war er tot.

Als ich im Februar 1982 mit einem Autorenstipendium am Deutschen Haus der New York University für sechs Monate nach New York aufbrach, hatte ich nicht nur allerlei Mitbringsel für Personen dort im Gepäck, sondern auch Jauss‘ private Aufzeichnungen von seinen Aufenthalten als Gastprofessor in Princeton, Yale und an der Columbia University. Ich war zugegebenermassen gerührt von dieser Geste, obwohl mir die Notizen über das akademische Leben an der Ostküste, seine Eindrücke, die wenig mit der sozialen oder kulturellen Wirklichkeit zu tun hatten, keine wesentlichen Erkenntnisse oder Einsichten bescherten. Die erhielt ich erst vor Ort, im täglichen Leben, auf Reisen, bei Begegnungen und Gesprächen nicht zuletzt mit meinen professoralen und so viel lockereren Betreuern an der NYU.

Zu Ende eines Semesters pflegte er Zigarren und Zigarillos an seine Assistenten und Schüler (an eine Schülerin kann ich mich nicht erinnern) zu verteilen, die er abgepackt und abgezählt in Papiertüten vorher in der Stadt gekauft hatte. Wer bei der Verteilung in seinem Büro oder anderswo leer ausging, hatte Grund, sich Gedanken über seine Zukunft zu machen. Ich bekam ein Päckchen blauer Gauloises ohne Filter als ungefähre Rückvergütung für die zahlreichen Zigaretten, die er mir in den Seminaren und Kolloquien des Semesters mit mitunter drängenden Blicken und Gesten von seinem Sitzplatz aus abgeluckst hatte.

Als ich 1974 mit einem Berufsverbot, also einem Beschäftigungsverbot im öffentlichen Dienst, nämlich an der Universität belegt wurde, war Jauß neben dem Institut, an dem ich beschäftigt war und nebenher meine Dissertation schreiben sollte, die einzige Person an der Universität, der sich für mich beim Ministerium in Stuttgart verwendete. Das taten weder die Fakultät noch der Fachbereich oder der AStA, dem ich einmal angehört hatte. Ein DKP-Mitglied sagte mir: Manchmal trifft der Imperialismus sogar die Richtigen.

Die neuen Sicherheitspolitiker der SPD dekretierten im Inneren den Kampf gegen die Linke zur Absicherung ihrer neuen Aussenpolitik gegen Osten. Die alten Kameraden in Baden-Württemberg und anderswo setzten ihn nahtlos um, hebelten die Gewaltenteilung zugunsten der Exekutive und gegen die Judikative gnadenlos aus wie eh und je. Ich ahnte nicht, dass Jauss einer der ihren gewesen war, womöglich ein ideologisch sattelfesterer als die Kiesinger, Filbinger & Co. Heute denke ich, dass man sich mit einer Vergangenheit, wie Jauß sie mit sich herumtrug, auch in diesen Jahren noch grenzenlos sicher gefühlt haben muss, wenn man einen Brief an den Minister schrieb wie den zu meinem Fall.

Nachdem ich endgültig fahnenflüchtig geworden war und er emeritiert, besuchte er meine sporadischen Lesungen am Ort. Schon früher hatte er im Doktorandenkolloquium meinen Gedichtzyklus Laura besprechen lassen und sich erstaunt gezeigt, dass ich, poeta doctus, nicht wußte, dass auch Schiller Lauralieder geschrieben hatte. Nach seinem Tod nahm seine Frau den Faden auf und besuchte hin und wieder eine Lesung, an der ich moderierend oder als Vortragender beteiligt war. Sie hatte schon früher, als ihr Mann mich noch immer für eine akademische Laufbahn zu erwärmen versuchte, einmal während meines Besuchs bei ihnen zuhause gesagt: Hans Robert, sieh es doch endlich ein, er braucht dich nicht mehr.

Der Private

Jauß „beichtete“ mir, vielleicht nach dem zweiten oder dritten Viertele trockenem Weisswein, den er ebenso mochte wie ich, und möglicherweise im Restaurant „Tannenhof“, vielleicht nach dem Doktorandenkolloquium, ich weiß es nicht mehr, das er in diesem Lokal wegen eben des Weissweins am liebsten abhielt: Er habe ja doch, von den Troubadours bis zu Mallarmé so einiges wissenschaftlich über Lyrik geschrieben und publiziert. Aber wie man eine Gedicht schreiben könne, sei ihm letztlich unverständlich geblieben. Die Abkehr von der romantisierenden, auf Identifikation zielenden „Produktionstheorie“ oder werkimmanenten Interpretation die in summa auf die Einrichtung einer „Höhenkamm-Literatur“ als Abgrenzung vom Rest hinausläuft, so dachte ich damals und denke ich noch heute, bewirkt eben auch eine noch größere Ferne zum künstlerischen Prozess, der mir mitunter schmerzhaft, lang, aber doch verständlich und mitunter sogar einfach erscheint.

Deskription wie soziologische Analyse haben letztlich mit dem Entstehungsprozess von Literatur und ihren inneren Gesetzen nichts zu tun. Die Einbeziehung des Lesers als wichtigen Faktor für ihre Rezeption war zwar insofern ein Fortschritt, als ein Roman, ein Gedicht nicht vom Genius in die Welt befördert werden und dort auf einen Leser ohne vorangehende Lektüren und soziale Bindungen und Bedingungen treffen. Aber kam es denn je soweit? Mindestens zwei Drittel des Lesestoffs, den wir bewältigten, bestanden aus Sekundärliteratur, hinter der die literarischen Texte verschwanden, was ich bald als schmerzlich empfand.

Mein alter Verdacht war, dass Philologen sich genauso gut mit der Geschichte der Schaltpläne oder jener des Anbaus der Sojapflanze hätten beschäftigen können. Ihr Interesse, ihr Eifer wären gleich groß gewesen, das Resultat etwa von gleicher Bedeutung. Und am Ende hätten sie den Unterschied womöglich gar nicht mehr wahrgenommen. Sie brauchten ganz einfach Material, das sie mit Hilfe von anderem Material vergleichen, historischen Befunden und Literatur zu m Thema untersuchen konnten. Aber das schreibe ich nicht mehr als Literaturwissenschaftler, sondern auf der anderen Seite des Ufers.

Im Konstanzer Rathaus nach der Verleihung des jährlichen Kulturförderpreises an seine Tochter prüft Jauß, ob schon und wie viele ihrer ausgestellten Werke einen roten Punkt tragen. Sie glauben gar nicht, wie froh ich über jeden roten Punkt bin, sagt er, ganz Schwabe und um die unsichere Zukunft einer freien Künstlerin besorgter Vater. An der Skulptur auf seinem Grab hat sie ihre E-Mail-Adresse hinterlassen.

Ich hege die einigermaßen sichere Vermutung, dass Jauß sehr diskret begann, etwas mit mir im Schilde zu führen, was nichts mit Literaturwissenschaft zu tun hatte. Und ich war fast ein wenig enttäuscht darüber, dass in seinem Kopf so etwas vor sich zu gehen schien, wie dass Gleich und Gleich sich doch eigentlich gerne zueinander gesellen, weil er mich vielleicht schon als für die Wissenschaft verloren glaubte. Ich wurde grundlos unversehens zu einem Konzert geladen, bei dem auch die Tochter zu Ehren des offenbar befreundeten Solisten anwesend war. In der Folge meldete sie sich, wenn sie aus München zu Besuch an den See kam, und wir tranken in immer derselben Weinstube ein Glas oder zwei miteinander. Die Gespräche waren beflissen und ein wenig langfädig. Sie arbeitete weiter an ihren Skulpturen und Zeichnungen und schenkte mir für meine Pariser Wohnung eine Radierung, die inmitten von in alle Richtungen verlaufenden Strichlinien ein Herz zeigte. Irgendwann hörte ich nichts mehr von ihr.

Jauß lud, es muss zu einem runden Geburtstag gewesen sein, die stattliche Zahl seiner Schüler von überall her zu sich nach Hause an den See ein und stellte sie vom leicht angegrauten Ordinarius bis zum Doktoranden nach Anciennität mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen vor. Eine Selbstbestätigungsveranstaltung ohne Zweifel, der sich alle brav fügten. Ich war der letzte in der Reihe. Der einzige, der von Bord gegangen ist.

Nach dem Ende eines Seminars oder einer anderen Veranstaltung ließ Jauß mir gegenüber die Bemerkung, deren Anlass ich nicht mehr erinnere, fallen, die Bild-Zeitung lese doch nur die Bourgeoisie. Die Bemerkung verwirrte mich, obgleich mein Vater hin und wieder auch die Bild-Zeitung las. Nach Bekanntwerden von Jauß‘ ideologisch militärischem Lebenslauf, also seines ersten Lebens, stellte ich mir die Frage, ob seine lang zurückliegende Äusserung vielleicht mit der antibürgerlichen Prägung seines ersten Lebens zu tun gehabt haben könnte, die NS-Ideologie enthielt ja starke antibourgeoise Züge, die durch die Praxis des NS-Staats widerlegt wurden. Aber das ist Spekulation.

Für meine mündliche Magisterprüfung im Fach Französisch hatte ich das Thema französische Grossstadtliteratur des 19.Jahrhunderts gewählt. Jauß legte mir einen Text vor, den ich decodieren sollte: Schauplatz, ungefährer Zeitraum, textliche Besonderheiten, möglicher Verfasser. Ich konnte den Text nicht entschlüsseln. Jauß präsentierte mir die Lösung: Friedrich Engels: Über die Lage der arbeitenden Klassen in England (1845), freute sich diebisch und fast kindlich darüber, dass er den linken Studenten so offenbar schachmatt gesetzt hatte und überreichte mir ein Päckchen Roth-Händle zum bestandenem Examen.

Die Hermeneutik greift zu kurz

Der Romanist Ottmar Ette versucht in seinem Buch Der Fall Jauss (s.o.), dem in seinem ersten Leben überzeugten Nationalsozialisten in seinem Werk auf die Spur zu kommen, nach dem Motto: Wer einmal ein Nazi war, der wird es auch später niemals gänzlich verbergen können. Er untersucht also Jauß‘ wissenschaftliches Werk auf einen verborgenen Subtext, Verbindungslinien zu seiner „ersten Karriere“, auf das, „was bewußt verschwiegen wird und doch gehört werden kann“. Jauß‘ Texte, so Ette, seien „hochgradig autoreferenziell“.

Dazu der erste Einwand: Welches Geisteswissenschaftlers Texte sind das nicht (zumindest auch)? Der zweite Einwand: Ette begeht in meinen Augen den gleichen Fahler, den Jauß bereits den Vertretern der von ihm bekämpften „werkimmanenten Interpretation“ vorgeworfen hatte: Er setzt nämlich die ungebrochene Kontinuität des Individuums voraus, sowie die Übereinstimmung von Leben und Werk. Allenfalls Jauß‘ Negierung dieser Kongruenz mag „autoreferenziell“ sein, insofern sie aus seiner Lebenserfahrung stammte. Ein Individuum ist kein geschlossener Kreislauf mit einer stringenten, auf unverrückbaren Prämissen beruhenden Biographie, vielmehr wechselnden Konjunkturen der Zeitläufte unterworfen, keine Einheit zudem von Sein und Bewußtsein. Zumal nicht in dem verheerenden 20. Jahrhundert. Das sollte auch die Philologie endlich zur Kenntnis genommen haben.

Ette verweist immer wieder auf Jauß‘ „Schreiben im Angriffsmodus“ sowie auf seinen Einfluss auf „institutioneller Ebene“. Er stellt das „System Jauß“ wohl in der Absicht, es mit dem Orden der SS vergleichen zu können, als eine Art verschworenen Mönchsorden dar, die „Doktorandenausbildung“ als „harte Schule“, die „die Konstanzer Zeit zu einem Albtraum“ werden ließ, als „Kaderschmiede“, an deren Ende als Lohn „für jahrelange Unterwerfung“ Dozenturen und Lehrstühle warteten. Dabei bedient er sich häufig bei dem vom Saulus zum Paulus mutierten Hans Ulrich Gumbrecht. Als Jauß-Schüler halte ich das Narrativ vom militärisch-philologischen Eroberungsfeldzug für einen Mythos, dem man gar nicht erst aufsitzen sollte.

Es ging in seinem Seminaren und Doktorandenkolloquien auch schon einmal ruppig zu, was vor allem seine Assistenten zu spüren bekamen, wobei er andererseits durchaus einfühlsam sein konnte. Das war für diese Generation Hochschullehrer nicht außergewöhnlich, zumal es sich, wie wir dachten, beim Ordinarius um einen ehemaligen, durchaus schneidigen Wehrmachtsoffizier handelte. Mit einer eigentlichen SS-Biographie aber hat das nichts zu tun. Jauß mochte im Übrigen durchaus Widerspruch, und sei es, um ihn widerlegen zu können.

Man sollte der romantischen Versuchung widerstehen, das Urböse eines Menschen ausfindig machen zu wollen, der den ersten Teil seines Lebens mit einer verbrecherischen Karriere begonnen hat, und zu glauben, dieses Böse könne nicht verschwunden, müsse also noch irgendwo zu bergen sein. Die Vita des Hans Robert Jauß ist nicht mit sich selbst noch mit seinem Werk zur Deckung zu bringen. Es gibt in seinem Leben Brüche und Widersprüche. Jauß hat sie verschwiegen (und aushalten müssen), um seine zweite Karriere nicht zu gefährden. Manchmal habe ich mir vorgestellt, sein Leben müsse mit dem nagenden Gewissen und der Angst im Nacken ein Albtraum gewesen sein.

Heute bin ich unentschiedener, zumindest was die Angst betrifft. Er muss sich wirklich sehr sicher gefühlt haben. Wie hätte er es, mit dem, was wir heute über sein erstes Leben wissen, sich sonst zum Beispiel wohl leisten können, mich in einer Sitzung des Großen Senats der Universität als Trotzkisten abzukanzeln.

Wir nach dem Krieg Geborenen müssen es wohl oder übel aushalten, beinahe unser ganzes Leben lang im Alltag, in der Schule, an der Universität, in der Gesellschaft von alten Nazis umgeben gewesen zu sein, die weder bereut oder aber für einen Neuanfang vertuscht, gelogen und verschwiegen haben. Und es machte auch keinen Unterschied, wenn wir ihnen die Spuren ihrer vergangenen Überzeugungen und Taten in ihrem zweiten Leben endlich nachweisen könnten. Weder sie noch wir wären auf diese Weise geheilt.

Jochen Kelter

(1) in: Hans Robert Jauss: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt, Suhrkamp, 1970
(2) Jens Westemeier: Hans Robert Jauss. Jugend, Krieg und Internierung, Konstanz University Press, 2016
(3) Ottmar Ette: Der Fall Jauss – Wege des Verstehens in eine Zukunft der Philologie, Berlin, Kulturverlag Kadmos, 2016

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