Der Traum vom „Kennedy des Ostens“

In Kürze erscheint ein Buch mit Aufsätzen von Zoran Djindjic – „Jugoslawien als unfertiger Staat“. Der ermordete serbische Regierungschef hatte in Konstanz studiert und schon hierzulande publiziert. Sein Mentor und Freund, der Konstanzer Historiker Ernst Köhler, hat einen Anhang zu diesem Buch verfasst, den wir an dieser Stelle veröffentlichen: Eine Auseinandersetzung mit einem stets unbequemen Intellektuellen, aber auch ein Dokument aus der Endphase des sozialistischen Jugoslawiens 

Ich darf vielleicht mit einer persönlichen Bemerkung beginnen. Als Zoran Djindjic Ende der 70er Jahre an der Universität Konstanz seine Dissertation schrieb (s. Foto aus Konstanzer Tagen), war ich hier als Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte tätig. Djindjic hat sporadisch an meinen Lehrveranstaltungen teilgenommen, und ich war dann auch offiziell in sein Promotionsverfahren involviert (als fachfremder Prüfer im Rigorosum). Aus der beruflichen Zusammenarbeit hat sich eine Freundschaft entwickelt, die ihre schwierigen Phasen hatte (Djindjics für mich irritierende politische Positionen Ende der 80er Jahre in Belgrad) und während der Jugoslawienkriege der 90er Jahre sogar ganz verstummte, aber letztlich bis zum Ende lebendig geblieben ist. Angesichts der jetzt neu zugänglich gemachten Texte ist nun das Frappierende für mich, dass ich von der Gedankenarbeit meines jungen Freundes nur sehr wenig mitbekommen habe.

Geahnt habe ich damals nur, dass die Anstöße des neomarxistischen „Praxis“-Kreises im Belgrad der späten 60er Jahre ihre Überzeugungskraft für den jungen Intellektuellen schon eingebüßt haben mussten. Und das neuerliche Marx-Studium für die Konstanzer Doktorarbeit kam mir eher wie eine leidenschaftslos absolvierte akademische Pflichtübung vor. Aber ungeachtet gelegentlich aufblitzender heftiger Diskussionen über markante – und nicht eben „linke“  – deutsche Staats- und Gesellschaftstheoretiker (wie etwa Carl Schmitt oder Niklas Luhmann), blieb für  mich da immer noch eine Riesenlücke, eine Kluft geradezu zwischen dem Zoran Djindjic, der in seiner Konstanzer Zeit offen und ungeniert mit „anarchistischen“ Positionen und etwa mit den nicht gerade gewaltlosen Massenprotesten gegen die Erweiterung des Frankfurter Flughafens sympathisierte, und dem Zoran Djindjic, der dann sein über Sozialismus, ideologisch wahlloser Diktatur und Aggressionskrieg weit zurückgebliebenes Land mit Entschlossenheit in eine kapitalistische Moderne westlich-demokratischen Zuschnitts zu führen versucht. Bis jetzt – da der Band „Jugoslawien als unfertiger Staat“ für mich die Lücke schließt und die Kluft überbrückt.

Erinnerung an den „Kennedy des Ostens“

Aber warum sind diese bislang so gut wie verschollenen Essays aus der Endphase des sozialistischen Jugoslawien für das deutsche Publikum von heute wichtig? Einmal liegt der Weg, liegen die wichtigsten Stationen des bedeutenden, wenn auch bereits nach gut zwei Jahren an der Macht ausgelöschten serbischen Reformers bisher in einem Halbdunkel. Sie verdienen es, auf der Basis von Quellen sorgfältig rekonstruiert zu werden. Die Essays sind eine solche unverzichtbare Quelle. Sie sind ein Zeugnis, das aus dem politischen Star, aus dem Kometen am Himmel der europäischen Politik, aus dem  „Kennedy des Ostens“, wie eine Zeitung kürzlich schrieb, einen konkreten politischen Menschen, einen Akteur in statu nascendi, in der Lernphase, in der Vorbereitung auf die dann gewählte Aufgabe machen kann. Es ist dies für meine Begriffe ein Desiderat. Das politische Drama dieses Mannes mag bei uns – anders als in Serbien selbst –  verblasst sein. Der Mann selbst ist nach meiner Wahrnehmung unvergessen – der bürgerliche Demokrat in einem verminten, antidemokratischen Umfeld; der Europäer in einem verwahrlosten, antieuropäischen Kontext; der Balkanführer aus Deutschland.

Dann widersprechen die Analysen Djindjics aus den 80er Jahren auch dem bei uns immer noch gängigen, einigermaßen verklärenden Bild von Tito-Jugoslawien. Man denke nur an die unverwüstliche Metapher vom Eisschrank, der dann leider aufgetaut ist. Der katastrophale Zerfall dieses Staates – bis heute eine offene Wunde im erneuerten Europa nach dem Zweiten Weltkrieg – hat paradoxerweise ein nahezu idyllisches, biedermeierliches Gegenbild von den jugoslawischen Zuständen erzeugt, an dem auch einflussreiche Autoren wie etwa Peter Handke kräftig mit gestrickt haben.  Ein politisches System, das hierzulande als ein wohlmeinender, gleichsam väterlich zügelnder Autoritarismus durchgeht – bei allen Schattenseiten doch immerhin in der Lage,  die Bestie des Nationalismus unter Kontrolle zu halten –  erscheint nun in den hier vorgelegten Texten  Djindjics in beklemmender Nahsicht als eine Form unkontrollierter, unverantwortlicher, verschleiert totalitärer Herrschaft. Oder – aus einem anderen Blickwinkel – auch als der Typus einer irreparabel, unreformierbar rigiden Machtausübung, die hinter den sich auch im rückständigen Jugoslawien  unaufhaltsam herausbildenden modernen,  komplexen  Gesellschaftsstrukturen immer weiter zurückfällt und der dann im Jahrzehnt nach Tito die fortschreitende ökonomische Zerrüttung des Landes unvermeidlich entgleitet, schließlich ganz über den Kopf wächst.

Drittens schließlich: Die Essays Zoran Djindjics sind ein Dokument des liberal-demokratischen Dissidententums, das zumindest in Jugoslawien seinesgleichen sucht. Es gab im Vorfeld  der epochalen Wende von „1989“ in Jugoslawien  keine bahnbrechende, tragende, mit der Zeit die ganze Gesellschaft erfassende antikommunistische Massenbewegung wie in Polen. Es gab hier auch keine „Charta 77“ wie in der CSSR, wo der Kommunismus bereits seit der traumatischen Zäsur von 1968 seinen ideologischen Einfluss auf die breite Gesellschaft irreversibel eingebüßt hatte. Hat sich die liberale, nicht nationalistische jugoslawische Intelligenz vielleicht mit der nicht geringen kulturellen Liberalität zufrieden gegeben, die das Regime immerhin zuließ?

Der ewige Enthusiasmus für die „Arbeiterselbstverwaltung“

Dieser junge serbische Autor in Deutschland  konnte sich auf keine theoretische Vorarbeit in seinem Herkunftsland selber, auf kein selbstbewusstes, artikuliert fundamental oppositionelles Milieu, keine wie immer minoritäre Kultur der eindeutig von den politischen Traditionen des Westens inspirierten Systemkritik stützen. Er musste sich auf eigene Faust von „seinem“ Jugoslawien losreißen. Er musste im Alleingang den hier mit aller Macht aufrechterhaltenen Anschein von einer basisdemokratisch verfassten sozialistischen Alternative zum Bolschewismus zerreißen. Auch die Intelligenz in Deutschland mit ihrer alten Distanzlosigkeit gegenüber dem jugoslawischen Partisanenmythos, mit ihrem nur langsam sterbenden Enthusiasmus für die „Arbeiterselbstverwaltung“ in Jugoslawien dürfte ihm dabei keine Hilfe gewesen sein.  Die spannende Frage ist, was denn dann die Ressourcen dieser  Leistung gewesen sind.

Worauf Zoran Djindjic zurückgreift, erschließt sich am ehesten im 4. Essay von „Jugoslawien als unfertiger Staat“. Die Überschrift „Demokratie als hergestellte Übereinstimmung“ markiert bereits die Kernthese. (Für eine textnahe Interpretation des kapitalen Textes vgl. Ivan Glaser: Den modernen Staat denken, in diesem Band). Es ist der deutsch-amerikanische politische Denker Ernst Fraenkel, der mit seiner paradigmatischen Analyse des nationalsozialistischen Unrechtstaates für viele von uns einmal  maßgeblich war – zumindest in den 60er Jahren, bevor wir uns dann für neomarxistische Denkansätze öffneten. Oder zu ihnen überliefen.

Es ist bezeichnend, dass Djindjic gewissermaßen den umgekehrten Weg geht: Von den Marxschen Frühschriften, der großen Anregung seiner 68er Zeit in Belgrad, zum führenden Theoretiker des  demokratischen Pluralismus und des Rechtsstaates. Dazu ein Zitat aus einer Mail des Übersetzers Ivan Glaser an mich (17.02.13): „Die ganze Sicht der Dinge stützt sich bis ins Detail direkt auf Fraenkels Position zum (Neo-)Pluralismus, von Zoran, wie ich finde, sehr überzeugend wiedergegeben. Und diese Sicht pflanzt sich dann in Zorans Arbeiten an zentraler Stelle fort, auch in „Serbiens Zukunft in Europa“ (einem Text Djindjics von 1997, E.K.) Dort…in der Charakterisierung des Kommunismus und des Nationalismus als Ideologien mit der Fähigkeit, die Gesellschaften zu mobilisieren – ohne Institutionen, ohne sie zu einer Meinung gelangen zu lassen, ohne Konsensbildung, ohne Diskussion, ohne politische Öffentlichkeit – und als Kollektive handlungsfähig zu machen ‚ohne modern zu sein’. Solange sie ihr Regulierungspotential nichts verausgabt haben.“

In einem solchen „Staat“ ist der Staat nicht – wie in den USA oder im postabsolutistischen Westeuropa – ein Rahmen und offener Raum, in dem sich aus der Gesellschaft, aus der vielschichtigen, vielstimmigen Bürgerschaft heraus Projekte für die Zukunftsgestaltung des Gemeinwesens formieren und miteinander um Einfluss und Macht konkurrieren. Entscheidend ist dabei, dass der politische Wettbewerb und Kampf  ausreichend lange offen bleiben und die definitive Entscheidung über den verbindlichen Kurs erst zu einem relativ späten Zeitpunkt erfolgt. Nur so haben auch Minderheiten eine Chance, auch marginale. Erst unter diesen Bedingungen ist – mit den Begriffen Djindjics –  die schließlich erreichte Übereinstimmung- man könnte auch sagen: die gewonnene gesellschaftliche Integration – „hergestellt“, das heißt von den Bürgern oder genauer : ihren Gruppierungen selbst erarbeitet, erstritten, verantwortet – nicht „zugeschrieben“, das heißt von irgendeiner unantastbaren, unhinterfragbaren, gleichsam jenseitigen Macht über den Bürgern, die so gar keine sind und es niemals werden können, verordnet, diktiert, tabuisiert, außer Zweifel gestellt. Wie eben im allseits hochgeachteten sozialistischen Jugoslawien.

Die Partei stand über der Verfassung

Das ist das Leitthema, die anderen Essays variieren es. Weder waren die diversen in Jugoslawien ausprobierten „Verfassungen“ jemals Verfassungen, die diesen Namen verdienen – also die wechselseitige Kontrolle der staatlichen Machtorgane vorgegeben und festgeschrieben hätten. Die kommunistische Partei stand immer über der Verfassung.(Essay 3). Noch war der jugoslawische „Föderalismus“ jemals ein Föderalismus im klassischen Sinne – wie etwa der US-amerikanische oder auch der bundesrepublikanische.  Zumindest im sozialistischen Jugoslawien war er nie ein Organisationsschema für die Beschränkung und Einhegung der Macht im Staate. Keine Spur von „checks and balances“. Er hat hier die willkürliche, nur um ihren Selbsterhalt kreisende Einparteienherrschaft nie konterkariert oder gar entthront, sondern gegen Ende nur zerstückelt und zersplittert. (Essay 2)

Von dieser luziden, wenn auch nicht immer auf Anhieb verständlichen Argumentation fällt auch einiges Licht auf den handelnden Politiker Zoran Djindjic, wie er sich für den deutschen Beobachter etwa in den Reden, Artikeln und Interviews der Jahre 2000-2003 präsentiert. (Gesammelt in: Djindjic, Serbien in Europa, Tanjug 2004). Vor allem war Djindjic kein Neoliberaler aus der Denkschule einer Margaret Thatcher oder eines Ronald Reagan, wie es in der harten, rastlosen Transformationsepoche seit 1989  nicht wenige Protagonisten Osteuropas waren und noch sind. Er war und blieb vielmehr ein „Liberaler“ im politischen oder amerikanischen Verständnis des Wortes.

Ein Jahr vor seiner Ermordung hat er mir in Belgrad einmal gesagt, dass er angefangen habe, sich intensiv mit dem „New Deal“ Franklin Dean Roosevelts zu befassen. Wenn in seiner äußerst knapp bemessenen Amtszeit als serbischer Regierungschef die ökonomischen Probleme absolut im Vordergrund standen – wie die Verhandlungen mit den internationalen Finanzinstitutionen um lebenswichtige Kredite für das Land – , so stand dahinter keine politische Philosophie, sondern die faktische Verteilung von Macht und Reichtum in der Welt. Die Art und Weise, wie er immer wieder die Not und Massenarmut in Serbien anspricht, lässt keinen anderen Schluss zu. Der Test auf Demokratie blieb auch für den Premierminister die Verantwortlichkeit der Regierung, die Reaktionsfähigkeit und Sensibilität der staatlichen Institutionen gegenüber den Bürgern, gerade den bedrängten, den um ihre materielle Existenz kämpfenden. Das ist immer noch der Mann, der in Frankfurt ein Staatskonzept der Nichtausgrenzung, der politischen Inklusion, des garantierten Mitspracherechts auch der sozial Schwachen durchdacht hat. Und der sich im geruhsamen Konstanz einst für die Formen des zivilen Ungehorsams in der Demokratie, in Deutschland  erwärmt hatte – auch noch für die exzentrischsten.

Schließlich gewinnt auch der konfrontative, fordernde Ton, den Djindjic als leitender Politiker  seinen serbischen Zuhörern oder Lesern gegenüber immer wieder anschlägt, vor der Folie der Texte aus den 80er Jahren eine ganz spezifische Bedeutung. Alle müssen sich jetzt  ändern. Jeder Einzelne muss sich ändern – von Grund auf. Die Haltung, die Mentalität, die Gewohnheit, alles. Das wirkt zunächst wie ein Stakkato der Publikumsbeschimpfung. Ich habe für diesen öffentlichen Stil einmal das Etikett „Voluntarismus“ vorgeschlagen. Aber damit assoziiert man leicht so etwas wie Ungeduld, Unduldsamkeit, ein überzogenes, unvermitteltes, rücksichtsloses Reformtempo. Man denkt an einen politischen Überflieger. Alles das hat man Djindjic in Serbien ja auch reichlich vorgeworfen.

„Jugoslawien als unfertiger Staat“ weist auf etwas anderes. Zoran Djindjic zeichnet hier das  Bild einer integralen, tief in die Lebensweise und das Selbstverständnis eines Großteils der Bevölkerung eingedrungenen Fehlordnung. So muss sie denn auch in ihrer ganzen Tiefendimension und Reichweite angegangen und abgebaut werden, wenn die Gesellschaft wieder aufleben und vorankommen will.  Sie muss ausgerottet werden mitsamt ihren Wurzeln. Nicht irgendwann, sondern möglichst zu Lebzeiten der aktuellen Bevölkerung des Landes. Mit der Entmachtung Slobodan Milosevics ist diese in Systemform gegossene Unordnung noch keineswegs verschwunden, nicht einmal wesentlich geschwächt. Das ist die Diagnose. Und das ist es, was Zoran Djindjic seinen Landsleuten ins Gesicht sagt – nicht mehr und nicht weniger.

Autor: Ernst Köhler