Der vermessene Mensch versteht die Welt nicht mehr (Teil 1)
Wer in der Apple Watch (oder einem vergleichbaren Produkt) nicht nur ein Statussymbol, sondern eine nützliche Technik sieht, der überwacht sich, ohne eine Lücke zu lassen. Jeden Schritt und Pulsschlag zählen, jede gegessene Kalorie, Blutdruck messen — pah, das ist von vorgestern. Menschen messen und normen mit modernsten Techniken immer mehr Aspekte ihres eigenen Lebens. Wird der gläserne Mensch allwissend, hat er ein tiefes Verständnis für sich und andere? Wohl kaum, meint Wolfgang Storz.
Puls messen und Kalorien zählen war vorgestern. Hier ist das Heute: bei Stürzen Alarm schlagen, den Schlafrhythmus umstellen, den Grad an Muskelentspannung messen, EKG erstellen — Achtung: Herz stolpert bereits zum zweiten Mal aus dem Sinus-Rhythmus —, in ein PDF umwandeln und ab zum Arzt, den Sauerstoffgehalt im Blut bestimmen, frühzeitig vor Stress und Panikattacken warnen. Den Diagnosen folgen die Empfehlungen: Mein lieber Apple Watch-Nutzer, Du solltest heute noch 1000 Schritte tun, Dein vorgesehener Kalorienverbrauch war leider schon um 14.28 Uhr erreicht, vor dem Schlafengehen empfehlen wir Dir … Es kann wie ein Befehl klingen: Lebe gesund! Sonst … Zählen, messen und sich ständig mit anderen zu vergleichen gehört für viele zum Alltag; dank der Technik so nebenher. So schafft sich jeder und jede die Wahrheit über seine/ihre Gesundheit.
Millionen Menschen vermessen sich ständig, jede Abweichung vom Normalzustand und von selbstgesteckten Zielen wird registriert, mit Vorgaben und Ermahnungen geahndet. So erfahren viele gesunde Menschen täglich anhand ihrer Zahlen: Ich wusste gar nicht, wie krank ich bin. Das Spiel mit der Gesundheits-App ist beendet.
Es ist eine einfache Apple Watch, die, nehme ich sie ernst, nach und nach meinen Lebensstil und meine Selbstwahrnehmung ganz schön verändert. Stolpert das Herz beim ersten Apple-EKG, dann starre ich vermutlich auf diese Zahl, wiederhole die Messung alle fünf oder alle zwei Stunden? Und was dann? So hat sich bei bereits vielen Menschen das große Ziel, ebenso unmerklich wie gravierend verschoben: Sie wollen sich nicht nur wie bisher Krankheiten vom Hals halten, sie wollen viel mehr: auf möglichst hohem Niveau gesund sein. Nicht nur ohne Krankheit, sondern perfekte Gesundheit — ein Ziel, gegenüber dem gesunder Zweifel angebracht ist.
Das ist kein Zahlen-Spiel mehr
Warum Apple das macht? Um Menschen zu helfen? So klingen die CEO-Worte: „Wir ermächtigen das Individuum, seine Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen“, kündigte Tim Cook bereits Anfang 2019 in einem Fernsehinterview an. Als wolle der Konzern den Menschen Freiheit, Gesundheit und Autonomie bescheren. Die Schriftstellerin Juli Zeh hat sich bereits vor gut einem Jahrzehnt in ihrem Buch „Corpus delicti“ mit der Gefahr einer Gesundheitsdiktatur beschäftigt: „Das Gegenteil von Freiheit ist die Gesundheit.“ Der millionenfache Einsatz der Apple Watch legt die Vermutung nahe, Gesunde machen sich im Dienste ihrer Gesundheit, die fortwähren soll, ihre Messungen hörig. Der Tod soll so nicht nur hinausgezögert, sondern vor allem verdrängt werden. Dass Krankheit Zufall, Laune der Natur, Schicksal sein kann, das wird nicht einmal mehr verstanden. Die Zahlen versprechen Exaktheit, der Sinn für unlösbare Probleme und Unvollkommenheiten schwindet.
Unheilbarer Glaube an Berechenbarkeit
Apple philosophiert nicht, sondern wirtschaftet: Es bastelt bereits seit Jahren an Produkten, um den zigmilliardenfachen Gesundheitsmarkt zu besetzen. Deshalb baut der Konzern seit mindestens einem halben Jahrzehnt systematisch Kompetenzen und Infrastruktur aus. Denn dieser Markt ist noch wenig digitalisiert und die Konkurrenz schläft nicht; Google, Facebook, Microsoft und Amazon ringen ebenfalls um Marktanteile. Sollten sich die weltweit etwa 2,5 Milliarden aktiven Nutzer von Facebook regelmäßig den Puls messen, entstünden auf einen Schlag ganz schön viele neue einträgliche Geschäftsmodelle; auf jeden Fall eine immense Daten- und Kontrollmacht in privatkapitalistischer Hand. Es gibt die Chan Zuckerberg Initiative, die sich das Ziel gesetzt hat, bis Ende dieses Jahrhunderts „sämtliche Krankheiten zu heilen“, wenigstens ihnen vorzubeugen. Ein weiteres Beispiel: Das Superhirn Watson von IBM wird mit Milliarden Daten gefüttert und soll dafür Korrelationen und Wahrscheinlichkeiten ausspucken. Konkret: Diesem Computer werden die Daten einer Krebserkrankung eingegeben, und er liefert dann den Ärzten Vorschläge für die vielversprechendste Therapie. Zwar gehen auch die größten Optimisten davon aus, dass es noch zehn bis 15 Jahre dauern wird, bis das alles mit geringer Fehlerquote funktioniert, aber dann, dann geht`s los. Klingt gut, ist aber vermutlich unheilbar an dem Glauben erkrankt, alles sei berechenbar.
Die Techniker-Krankenkasse finanziert bereits seit einigen Jahren eine Gesundheits-App gegen Tinnitus: Mit einer Filtersoftware wird des Patienten Lieblingsmusik so aufbereitet, dass das lästige Pfeifen im Ohr leiser und erträglicher wird. Auch eine Software gegen Angststörungen gibt es bereits; der Hersteller versteht sie als „digitalen Psychotherapeuten“. Beim Bundesinstitut für Arzneimittel sind momentan 21 Apps in Prüfung, und Bundesminister Jens Spahn ist begeistert: „Deutschland ist das erste Land, in dem es Apps auf Rezept gibt.“ Naheliegend, dass auch die US-Tech-Konzerne mit Krankenversicherungen zusammenarbeiten. Naheliegend auch, dass beispielsweise Apple eine Software parat hat, die Apple Watch-Nutzern die bequeme Teilnahme an Gesundheitsstudien ermöglicht. Es heißt, in den Stores von Apple und Google lagerten etwa 100.000 Gesundheits-Apps, einschließlich derer, die sich eher den Themen Wellness, Freizeit und Lifestyle widmen; das wollen die Marktforscher von Research2Guidance herausgefunden haben.
Die kontrollierte Freiheit
Was diese Beispiele deutlich machen: Die Techniken können Experten helfen, fördern einerseits Autonomie und Handlungsspielräume von einzelnen, können aber andererseits zugleich diese Souveränität einschränken, beispielsweise bei demjenigen, der seine Datenfülle gläubig zum Kompass macht. Für Gesellschaft und Wirtschaft wiederum bieten die Daten vielfältige Möglichkeiten für Kontrollen und neue Geschäftsmodelle.
Anna-Verena Nosthoff, Technikphilosophin, und Felix Maschewski, Kulturwissenschaftler, die jüngst das Buch „Die Gesellschaft der Wearables“ geschrieben haben, heben den Doppelcharakter dieser Techniken hervor. Nosthoff sieht fließende Grenzen „zwischen Selbst- und Fremdkontrolle“. Ihre Argumentation: Die Technik, oft intransparent vor allem für Laien und normale Nutzer, wirke subtil und lasse die Menschen sich unmerklich diesen Maschinen und Produkten anpassen. Die beiden Wissenschaftler sprechen deshalb von einer „kontrollierten Freiheit“. Diese Doppelgesichtigkeit gilt für jeden Einzelnen: Wer seine sportlichen Aktivitäten misst, kann dies als Selbsterkenntnis ansehen. Oder als Eigenkontrolle, um eventuellen Empfehlungen oder Vorgaben des Staates, der eigenen Krankenkasse nachzukommen.
Wolfgang Storz (Bild: Merlin)
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