Der vermessene Mensch versteht die Welt nicht mehr (Teil 2)

Alle, die in der Apple Watch (oder einem vergleichbaren Produkt) nicht nur ein Statussymbol, sondern eine nützliche Technik sehen,  überwachen sich, ohne eine Lücke zu lassen. Selber jeden Schritt und Pulsschlag zählen, jede gegessene Kalorie aufschreiben, den Blutdruck messen — pah, das ist von vorgestern. Menschen messen und normen mit modernsten Techniken immer mehr Aspekte ihres eigenen Lebens. Wird der gläserne Mensch allwissend, hat er ein tiefes Verständnis für sich und andere? Teil 2 des Beitrags von Wolfgang Storz. Zu Teil 1 geht es hier.

Es ist das Ziel der Quantified-Self-Bewegung, Wissen über sich „ohne die Hilfe von Experten und Professionen zu generieren“. Diese Bewegung setzt sich als Netzwerk aus Nutzern und Produzenten von Hard- und Softwareprodukten zusammen, die erlauben, eigenständig Erkenntnisse über die persönlichen Gewohnheiten und den persönlichen Zustand zu erheben, egal ob dies Schlaf, Ernährung, Sport oder das Funktionieren von Organen betrifft; die Bewegung veranstaltet in etwa 130 Städten weltweit regelmäßig „Meetups“, um sich zu vernetzen und Erfahrungen auszutauschen. Daten regelmäßig von sich zu erheben, das kann gelassene neugierige Selbsterforschung sein. Oder sie mutiert — allem kritischen Bewusstsein zum Trotz, unter der Hand, unbemerkt und schleichend — zu einem „Optimierungsprojekt aller Gleichgesinnten“, so die beiden Forscherinnen; denn wer sich schon misst, will sich oft auch vergleichen und konkurrieren. Der meist im Netz von vielen anderen ebenfalls einsehbare Vergleich „aller mit allen“ — zwangsläufig mit dem Ringen um Aufmerksamkeit verbunden —, führe, so die Annahme der Forscherinnen, nicht selten zu „depressiv getönten Wahrnehmungen“, auch zu Resignation und ohnmächtigem Erleben, gebe es doch immer andere, die weiter, fitter, höher, besser und gesünder sind oder zumindest so scheinen. Das gilt für die Freizeit wie für die Arbeit. Auch im Berufsleben greift das ständige Sich-Messen seit Jahren um sich. Oft in einem Knäuel aus Kontrolle, Selbsterkenntnis und Fremdkontrolle: Wurden diese Woche die betriebswirtschaftlichen Kennziffern erreicht, genügend Kunden akquiriert? Mit dem nachfolgenden Drang: Wie werden wir noch besser und perfekter?

Stabiler und fragiler zugleich

So zeigt sich: Die Logiken des Messens sind paradox und ambivalent. Menschen fällt es schwer, sich deren Sog zu entziehen, „selbst dort, wo es als bedrängend erlebt wird“. Und: Auch dort, wo die „kulturellen Optimierungspraktiken des digitalen Messens“ helfen, ergreifen sie gleich die ganze Person, so der Befund der Forscher, machen sie so stabiler und fragiler zugleich. Denn es dient dem Einzelnen, nach Einzigartigkeit zu streben. Verbunden ist das für ihn jedoch zugleich mit dem Moment des Getriebenseins. Wer sich so präsentiert, weiß, er wird jederzeit von anderen wahrgenommen. Führt dies bei ihm zu mehr Eigenständigkeit oder zu Konformismus, also zu dem Schauen nach dem Tun der anderen und zum der Mehrheit-Nacheifern? Der französische Philosoph Michel Foucault hat viel über Kontroll- und Überwachungsmechanismen in westlichen Gesellschaften gearbeitet und der daraus folgenden möglichen sozialen Konformität von Individuen; die Prinzipien der Überwachung, des Wissens um die Überwachung, der selbstgewählten Überwachung, der Anpassung an mehrheitliche Normen, des Fremdzwangs und der Selbstdisziplinierung fasste er unter dem Begriff des Panoptismus zusammen.

Die Faszination des Digitalen

„Sich einer Sache zuwenden bedeutet zugleich, sich von einer anderen abwenden.“ In Hessen gab es 2015 eine Plakataktion, die Eltern aufforderte, häufiger mit ihren Kindern zu sprechen, anstatt in deren Beisein mit anderen zu kommunizieren. Es könne sich so der Wunsch von Kindern nach Aufmerksamkeit verschieben, beispielsweise in die digitalen Währungen Likes, Follower, Herzen, Smileys … In das Dreieck Kind, Mutter, Vater habe sich das Smartphone gedrängt, so die hinter dieser Aktion stehende Beobachtung.

Mit anderen Worten: Digitale Medien ziehen an und faszinieren. Unter anderem mit ihrer unaufhörlichen Dynamik des Aufforderns, Informierens, des Neuen, Erwähnens, des Teilens von Aufmerksamkeit. Die alltägliche Bedeutung, sozial wie psychisch, ist hoch. Eine Technik der millionenfachen Individualisierung, die gravierende Folgen für die Gesellschaft hat: Es gibt keinen gemeinsamen gesellschaftlichen Grund und Boden mehr, auf dem sich viele oder alle aufhalten; der bisher gemeinsame Grund zerfällt in millionenfache Parzellen. Jeder nimmt seine eigene Welt wahr.

„Psychisch folgenreich“

Die omnipräsenten Apps messen, zählen, vergleichen. Mit ihnen kann jede und jeder ständig bewerten: diese Bahnfahrt, dieses Hotel, diese Dienstleistung, diesen Lehrer, dieses Getränk, dieses Seminar, meine und Deine Gesundheit und Kondition, die jeweils andere App. Welche „Spuren“ hinterlassen diese Medien und das digitale Tun im Subjekt?

Die Sozialpsychologin Vera King, Direktorin des Frankfurter Sigmund-Freud-Institutes, hat zusammen mit mehreren Wissenschaftlern bereits 2019 in der Zeitschrift „Psyche“ einen Text zu dem Thema „Psychische Bedeutungen des digitalen Messens, Zählens und Vergleichens“ publiziert. Der Text beruht auf ersten Ergebnissen der breitangelegten empirischen Studie „Das vermessene Leben“, das 2018 startete; etwa 1000 Experten und weitere Personen werden online befragt, zudem werden etwa 60 Intensiv-Interviews geführt. Die interdisziplinär zusammengesetzte Wissenschaftler-Gruppe geht von „der enormen gesellschaftlichen Verbreitung von Quantifizierungstechniken und –imperativen im digitalen Zeitalter“ aus. Sie beschäftigen sich mit den psychischen Bedeutungen und mit der Faszination „des digitalen Messens, Zählens und Vergleichens“. King: „Noch nie wurde so viel gezählt und vermessen wie seit Beginn des digitalen Zeitalters.“ Das Besondere: Die Zahl und die Logiken der Metrisierung und Semantiken der Zahl erlangten „die Vorherrschaft…“, da sie nicht länger eine Angelegenheit von Fachleuten sei, sondern „ein Bestandteil auch der individuellen alltäglichen Praxis“. Die Technik habe dafür die Voraussetzungen geschaffen: mit smartphones und wearable devices, die beispielsweise bequem am Körper getragen werden können. Diese Messvorgänge würden technisch ständig verfeinert, könnten persönlich adressiert werden und seien inzwischen omnipräsent, so dass das Vergleichen grenzenlos sein könne. Das sei eine neue kulturelle Matrix des permanenten Vergleichens und Konkurrierens.

Vor allem diese Merkmale machten diese Trends „psychisch folgenreich“. Eine der Folgen: Der Mensch entwickle eine instrumentelle Logik zu sich, seinem Körper und zu anderen. Kurz gesagt: Die Folgen für den Menschen, für seine Psyche, für Gesellschaft und Alltag seien allumfassend.

Standhalten?

Konrad Lehmann, Neurobiologe und Wissenschaftsjournalist, schrieb jüngst in einem Essay in Publik-Forum, angelehnt an die Arbeiten von Günter Anders, Philosoph und Schriftsteller: Der Mensch sei all seinen technischen Produkten weithin unterlegen, denn diese seien immer leistungsfähiger, präziser, „praktisch unsterblich“, da sie jederzeit ersetzt werden können. Weil er trotz seiner Unzulänglichkeiten mithalten wolle, kämpfe er gegen das Altern, optimiere sich ständig und versuche, vor allem mit technischen und chemischen Mitteln seine Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Jedoch: Seine Fantasie und Gefühle hielten den Möglichkeiten, die er sich schaffe, nicht stand.

Text: Wolfgang Storz (Bild: Der vitruvianische Mensch von Leonardo da Vinci; Paris Orlando, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)