Deutschland auf dem Weg zur Fassaden-Demokratie
Wir wussten es längst: Deutschland ist zurück auf dem Weg zum Feudalstaat und zur Fassaden-Demokratie. Doch so zahlen- und faktenreich wie hier von Wolfgang Storz wurde das selten beschrieben – fast schon ein Lexikon des sozialen Niedergangs. Und ein Beleg für die These von Soziologen wie Sighard Neckel, dass sich Deutschland, wie andere Gesellschaften auch, in „einem offenen Prozess der Refeudalisierung von Lebenschancen“ befindet.
Trend 1: Der Arbeitsmarkt in Deutschland verändert sich grundlegend
Es gibt in Deutschland inzwischen einen großen Niedriglohnsektor: Mit etwa 6,6 Millionen Beschäftigten zählt jeder fünfte Beschäftigte dazu; in Frankreich ist er nur halb so groß. Der Verdienst im Niedriglohn-Sektor: zwischen drei und acht Euro die Stunde. Das ist der Lohn auch für qualifizierte Beschäftigte, denn: Nach einer Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation, Universität Duisburg-Essen, haben vier von fünf Niedriglohn-Beschäftigten eine Berufsausbildung.
Das Lohnniveau sinkt permanent, weshalb knapp 2,5 Millionen regulär Beschäftigte zusätzlich noch einen Mini-Job haben müssen; Monatsverdienst: bis zu 400 Euro. Viele Beschäftigte verdienen so wenig, dass der Staat sie unterstützen muss: im Jahr 2009 mit insgesamt elf Milliarden Euro; so subventioniert der Steuerzahler die Dumping-Löhne der Arbeitgeber.
Nach einer neuen Studie des „Deutschen Instituts für Wirtschaft“ (DIW) erhalten die Geringverdiener seit dem Jahr 2000 bis zu 22 Prozent weniger Lohn. Wer im Jahr 2000 noch 835 Euro verdient hat, hat heute 705 Euro auf dem Konto. Und: „Die Nettoeinkommen aller Beschäftigten gingen … (seit dem Jahr 2 000, d. Red.) um 2,5 Prozent zurück.“ Das monatliche reale Durchschnittseinkommen der abhängig Beschäftigten lag nach offiziellen Angaben im Jahr 2000 bei 1 429 Euro und im Jahr 2010 bei 1 394 Euro.
Joachim Möller, Direktor des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, sagte jüngst: „Deutschland gilt heute als eines der OECD-Länder mit dem höchsten Anstieg der Lohnungleichheit“; das Institut ist die Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit.
Die neuen Jobs, die in den vergangenen Jahren entstanden sind, sind meist prekär: Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit verdoppelte sich die Zahl der Leiharbeiter im letzten halben Jahrzehnt auf 750000. Nach Schätzungen soll die Zahl bis Ende nächsten Jahres auf bis zu 2,5 Millionen steigen. Leiharbeiter dienen in Krisen als Puffer und verdienen oft bis zu 30 Prozent weniger für dieselbe Arbeit, die ein fest angestellter Beschäftigter in dem jeweiligen Unternehmen erhält.
Der Anteil der unbefristeten Vollzeitjobs nimmt ständig ab. Von den knapp 31 Millionen abhängig Beschäftigten haben nur noch 23 Millionen einen regulären Vollzeit-Arbeitsplatz. Eine der dramatischen Langzeitfolgen dieser Prekarisierung: Alle diese Beschäftigten erwerben geringe Rentenansprüche, so dass die längst überwunden geglaubte Altersarmut wieder zurückkommt. Bereits heute erhalten nur 13,5 Prozent aller männlichen Rentner mehr als 1500 Euro im Monat, weit über 50 Prozent erhalten 1000 Euro und deutlich weniger.
Trend 2: Gute Bildung? Eine Frage des Erbes
In Deutschland werden nicht nur Vermögen vererbt, sondern auch der Bildungsgrad. So zeigte die Pisa-Studie aus dem Jahr 2000: Bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten (Erinnerungsvermögen, Lernfähigkeit, Kreativität, Aufmerksamkeit) und gleicher Lesekompetenz hat ein Kind aus einem gut situierten Elternhaus eine gut dreifache Chance, ein Gymnasium zu besuchen, als eines aus einer Arbeiterfamilie; daran hat sich bis heute kaum etwas geändert.
Aus den unteren sozialen Schichten machen 11 Prozent der Kinder das Abitur, aus den oberen sozialen Schichten über 80 Prozent. Und: Kinder von Akademikern mit Abitur studieren fast alle. Von allen anderen, die es bis zum Abitur schaffen, studiert nicht einmal jeder Zweite. Etwa 54 Prozent aller deutschen Schüler besuchen ein Gymnasium, aber nur knapp 30 Prozent der Kinder mit einem ausländischen Pass. Immer mehr junge Menschen haben keine abgeschlossene Ausbildung: Im Jahr 2009 waren es mehr als 1,5 Millionen, das sind 17 Prozent aller 20- bis 29jährigen.
Nach dem Bericht der OECD von Anfang September 2010 liegen in Deutschland die Ausgaben für Bildung bei 4,7 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt; die OECD berücksichtigt dabei private wie öffentliche Ausgaben. Nur wenige OECD-Staaten wie beispielsweise Tschechien und Italien liegen noch schlechter.
Trend 3: Die Mittelschichten, die hart arbeiten, werden geschröpft
Die qualifizierten Arbeiter und Angestellten werden seit Jahren überdurchschnittlich hoch belastet: Sie zahlen Steuern und hohe Sozialabgaben. Die Oberschichten zahlen meist nur Steuern: und die sinken seit Jahren. Das heißt im Kern: Nicht die Ober-, sondern die Mittelschichten finanzieren den Sozialstaat. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes zahlen Einkommens-Millionäre aufgrund von Freibeträgen und Vergünstigungen im Durchschnitt nur 36 Prozent auf ihr Einkommen. Das DIW berechnete für das Steuerjahr 2002, dass die 450 reichsten Bundesbürger im Durchschnitt gerade 34 Prozent Einkommenssteuer bezahlen; sie haben im Schnitt ein Einkommen von 22 Millionen Euro im Jahr.
Das Gegen-Beispiel: Ein Ehepaar mit zwei Kindern, das ein durchschnittliches mittleres Einkommen hat, ist inzwischen in Deutschland mit 45,2 Prozent Steuern und Sozialabgaben belastet. Henrik Enderlein, Ökonom und Vizerektor an der Hertie School of Governance in Berlin, sagt: In keiner Industrienation stiegen „die Ungleichheiten schneller“ als in Deutschland.
Trend 4: Die Reichen werden immer reicher
Seit dem Jahr 2000 sind in Deutschland die Einkommen aus Vermögen und unternehmerischer Tätigkeit um etwa 30 Prozent gestiegen, die Netto-Löhne und –gehälter sind um etwa 2,5 Prozent gesunken. Nach einer Untersuchung der Unternehmensberatungsfirma Kienbaum sind die Gehälter der Vorstände der Dax-Unternehmen in den vergangenen 20 Jahren um 650 Prozent gestiegen. So verdiente ein Dax-Vorstand im Jahr 1987 im Durchschnitt umgerechnet 445.800 Euro, 2007 waren es bereits drei Millionen Euro.
Zahlen von Michael Hartmann, Soziologe und Eliten-Forscher: „Allein zwischen 1998 und 2002 haben die Steuerbeschlüsse der damaligen rot-grünen Bundesregierung dazu geführt, dass die 40 reichsten Deutschen ihre effektive Steuerbelastung von 45 auf 32 Prozent senken konnten. Diese 40 reichsten Deutschen hatten damals ein jährliches Einkommen von mindestens 22 Millionen Euro.“
Dieter Lehmkuhl, Millionär und einer der Initiatoren der Initiative „Vermögende für eine Vermögensabgabe“, sagt: Seit dem Jahr 2000 hätten sich die Einkünfte aus seinem Vermögen verdoppelt – weil die Politik die Steuern auf hohe Vermögen ständig gesenkt habe. Und: Das DIW rechnet vor, dass 2007 die zehn Prozent reichsten Haushalte etwa 60 Prozent des Gesamtvermögen besaßen, drei Prozentpunkte mehr als 2002. Auf die `untere Hälfte` der Bevölkerung entfalle 1,7 Prozent des Gesamt-Vermögens.
Trend 5: Der Staat wird ausgehungert
Ende 2010 hat die öffentliche Hand 2000 Milliarden Euro Schulden. Jedes Jahr nehmen alle öffentlichen Hände – Bund, Länder und Gemeinden – etwa 540 Milliarden Euro ein. Das Bruttoinlandsprodukt betrug 2500 Milliarden Euro. Die Einnahmenquote des Staates lag damit bei 21,5 Prozent. Unter der letzten konservativen Regierung von Helmut Kohl lag die Quote bei etwa 25 Prozent. Wäre die Quote bei 25 Prozent geblieben, dann hätten die öffentlichen Hände seit dem Jahr 2000 etwa 870 Milliarden Euro mehr Steuern eingenommen; die Folge: der Schuldenstand wäre fast halb so hoch.
Trend 6: Das soziale Ressentiment beherrscht immer mehr Köpfe immer stärker
Eine Forschungsgruppe um den Bielefelder Professor Wilhelm Heitmeyer, die seit Jahren die deutschen Zustände untersucht, kommt in ihrem letzten Bericht zu der Erkenntnis: „Zivilisierte, tolerante, differenzierte Einstellungen in höheren Einkommensgruppen scheinen sich in unzivilisierte, intolerante – verrohte – Einstellungen zu wandeln.“ Gegen die wirtschaftlich Nutzlosen. In einer Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ von Anfang Juni steht ein Text über die Lage der SPD, in dem die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles zitiert wird: „Die Leute wollen, dass die SPD eine Kümmerer-Partei ist.“ Der Journalist fährt fort: „Oh je! Das klingt nach Arbeiterwohlfahrt, nach Hartz IV und Linkspartei, nicht nach Aufbruch und Aufschwung.“ Solche Anmerkungen kommen Journalisten, Sachverständigen, Politikern wie selbstverständlich über die Lippen – die Geringschätzung sozialer Nöte, sie sitzt sehr tief, ist schon ein Reflex.
Trend 7: Den Parteien und Verbänden, die sich um Soziales kümmern, geht es schlecht
Es geht – in Umfragen und bei Landtagswahlen – ausgerechnet den beiden Parteien schlecht, die sich am ehesten um die soziale Frage kümmern: Die Linke (glaubwürdig), die SPD (weniger glaubwürdig). Den Gewerkschaften gelingt es inzwischen, ihre viele Jahre andauernden ständigen Mitglieder-Verluste ein bisschen einzudämmen. Dass die Gewerkschaften in der Offensive wären, würde jedoch auch der Gutwilligste nicht behaupten.
Trend 8: Wie sich die Politik schleichend verändert
Michael Hartmann, Soziologe und Elitenforscher, stellt in Langzeit-Analysen fest, dass sich in Verbindung mit der sozialen Polarisierung auch die Zusammensetzung der politischen Elite verändert: Es gebe immer weniger `kleine Leute´ in der großen Politik. Und derjenige, der doch noch ´durchkomme`, laufe Gefahr, sich übermäßig anpassen zu wollen. Hartmann: Die politische Elite sei homogener und habe sich „der wirtschaftlichen angeglichen“. Und: „Man ist immer mehr unter sich und wird mit anderen Lebenswirklichkeiten gar nicht mehr konfrontiert.“ Hinzu kommt der Befund: Die sich vergrößernden und verfestigenden `Unterschichten` gehen deutlich weniger als andere zur Wahl.
Trend 9: Diejenigen, die nichts leisten, verdienen immer mehr
Die privaten Finanzvermögen betrugen in Deutschland im Jahr 2006 brutto rund 4,5 Billionen Euro. Das oberste Prozent der Deutschen verfügt über 23 Prozent des gesamten Vermögens. Die oberen fünf Prozent kontrollieren 46 Prozent, und die unteren 70 Prozent kommen auf gerade 9 Prozent des Volksvermögens. Und bis 2020 werden die zwei Prozent Reichsten in Deutschland 800 Milliarden Euro erben, ein Drittel aller Erbschaften. Der Soziologe Christoph Deutschmann verweist darauf, dass nicht nur die obersten Gruppen, sondern auch obere Mittelschichten beträchtliche Vermögen gebildet hätten. Deutschmann schätzt, dass jährlich „mindestens 300 Milliarden Euro an die Rentiers fließen“, an Zinsen und Dividenden. Sein Schluss: In Deutschland werde kritisch über vieles diskutiert, jedoch „scheint die Legitimität der ständig wachsenden leistungslosen Einkommen“ von niemand bestritten zu werden.
Bilanz I: Deutschland – Auf dem Weg in den Feudalstaat…
Der Soziologe Sighard Neckel sagt: Ungleichheit bedürfe einer Legitimation. Und diese bestehe in dem Leistungsprinzip, „ein Grundpfeiler der modernen bürgerlichen Gesellschaft“. Das erste Indiz für eine „Refeudalisierung der Ökonomie“ sieht Neckel in der Ablösung des Leistungsprinzips. Hohe Gehälter und Boni würden nicht mehr mit Leistung begründet. Das schnelle Geld, der Erfolg am Markt in Form von Aktienkursen sei an die Stelle des Leistungsprinzips getreten. Das zweite Indiz: Eine „ständisch privilegierte Managerklasse“ verfolge ihren Eigennutz, ohne Leistung und ohne Risiko. „Die bizarre Institution des `garantierten Bonus`“, eine Erfolgsprämie unabhängig von jedem wirtschaftlichen Erfolg, lasse den Manager des Anleger-Kapitalismus „viel eher dem feudalen Landlord ähnlich sein als dem bürgerlichen Unternehmer“.
Das dritte Indiz: Diese Formen der refeudalisierten Wirtschaft seien eingebettet in „eine allgemeine Sozialstruktur, die in sich selbst vielgestaltige Merkmale einer Refeudalisierung aufweist“: entrückte Eliten, Prekariat, Armutsrisiko für mittlere Schichten, Abstiegs-, anstelle von Aufstiegsmobilität, Selbstrekrutierung der oberen Schichten, steigende Bedeutung von leistungslosen Einkommen via Vermögen und Erbschaften. Neckel: Deutschland zeige sich als eine Gesellschaft, die sich „in einem offenen Prozess der Refeudalisierung von Lebenschancen befindet.“
Bilanz II: …und die Fassaden-Demokratie
Das Land wirkt – auf den ersten Blick – sehr stabil: wirtschaftlich und politisch. Die deutschen Unternehmen erwirtschaften hohe Gewinne, die offizielle Arbeitslosenzahl ist auf einem Tiefpunkt, bei inzwischen knapp unter drei Millionen. Nennenswerte Konflikte zwischen Gewerkschaften und Unternehmen scheint es keine mehr zu geben – zumindest werden sie nicht mehr in Streiks und anderen Formen öffentlicher Auseinandersetzungen ausgetragen. Die Auflösung ist einfach: Die gut organisierten und gut verdienenden Belegschaften der Export-Industrien könnten streiken, wollen und brauchen aber nicht. Die vielen Frauen, Geringverdiener und gering Qualifizierte – schlechte Arbeit, schlechter Verdienst, geringer Organisationsgrad – müssten streiken, aber können nicht.
Die einst großen Volksparteien schrumpfen zusammen, die kleinen Parteien wachsen schnell, wie heute Die Grünen, können aber schnell auch wieder schrumpfen wie die FDP, die heute gerade noch ein Drittel der Stimmen bei Landtagswahlen auf sich versammeln kann, die sie 2009 gewann.
Die Parteien, vor allem Union und SPD, repräsentieren noch weniger als früher die Struktur der Bevölkerung; wenige Junge, wenige Frauen, viele Männer, viele Beamte, viele Rentner. Zwischen 1990 und 2007 sank die Zahl aller Parteimitglieder von 2,5 auf 1,5 Millionen.
Seit etwa 20 Jahren nimmt die Wahlbeteiligung zwar nur langsam, aber ständig ab. Entscheidend ist dabei: Die Gruppe der sozial Benachteiligten, vor allem gemessen an Bildung und Einkommen, ist unter den Nicht-Wählern besonders groß. Das heißt: Je niedriger die Wahlbeteiligung, desto schärfer die soziale Selektivität. Ein Beispiel: Umfragen zeigen, dass die Wahlbeteiligung von Bürgern ohne Schulabschluss im Jahr 2008 um etwa 26 Prozent geringer war als bei Bürgern mit Hochschulabschluss.
Renate Köcher, Leiterin des renommierten Meinungsforschungs-Institutes Allensbach, registrierte jüngst in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“: „Mitte der neunziger Jahre interessierten sich immerhin noch 45 Prozent der unter 25jährigen aus den unteren Schichten zumindest eingeschränkt für Politik, heute nur noch 32 Prozent. In der Mittelschicht ist das Interesse wesentlich moderater abgesunken, in der Oberschicht nur marginal von 67 auf 65 Prozent.“ Köcher stellt weiter fest anhand ihrer Untersuchungen: Jugendliche Unterschichtler lesen viel weniger, nutzen das Internet vor allem für Unterhaltung, interessieren sich in einem viel geringeren Umfang für gesellschaftliche Themen. Köcher mit Blick auf das Ganze: „Dies verstärkt die ohnehin großen Unterschiede in der Zuwendung zu gesellschaftlichen Entwicklungen und Debatten.“
Das politische System ist also vielfältiger, fragiler, morscher, aber auch leistungsfähiger denn je: In dem bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen regiert – wider Erwarten routiniert und unspektakulär – eine rot-grüne Minderheiten-Regierung. In Baden-Württemberg regiert seit wenigen Monaten eine grün-rote Regierung mit dem ersten grünen Ministerpräsidenten. Im kleinen Saarland amtiert eine Koalition aus FDP, CDU und Grünen und in Berlin noch eine Regierung aus SPD und der Partei Die Linke. Es scheint: Es gibt kaum noch eine Kombination, die nicht schon einmal ausprobiert worden ist und wenigstens bestanden hat.
Umfragen zeigen, dass die Regierungsform Demokratie und ihre Prinzipien von großen Mehrheiten der Bevölkerung unverändert hochgeschätzt wird. Nur `die real existierende Demokratie`, die wird gar nicht geschätzt. Forscher sprechen inzwischen sogar von „einer ausgeprägten Demokratiedistanz bei einem relativ großen Teil der Bevölkerung“ (Politikforscher Serge Embacher). Viele Bürger hätten dem amtierenden politischen System innerlich gekündigt. Die Welten, in denen die Parlamentarier und die Bevölkerung leben, driften auseinander.
Zahlreiche Umfragen belegen auch, wie sehr Mehrheiten das Wirtschaftssystem ablehnen. Es sei sozial wie ökologisch blind.
Weitere Aussichten:
Rainer Wendt, früher SPD-Politiker und heute Vorsitzender der Deutschen Polizei-Gewerkschaft, sagte jüngst „Bild“ anlässlich der Unruhen in Großbritannien: „Die Ausschreitungen sind das Ergebnis von krimineller Energie, Verachtung gegenüber dem Staat und sozialer Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsschichten.“ Auch in Deutschland gebe es eine ähnlich explosive Mischung wie in Großbritannien, die bei nichtigen Anlässen vor allem in Großstädten in Unruhen münden könnte. Seine Ideen für die richtige Vorbereitung darauf: mehr Polizei, bessere Technik, um soziale Netzwerke überwachen zu können.
Hans-Peter Friedrich, Bundesinnenminister (CSU), sieht dagegen keine Gefahren, da keine Probleme: „Solche gesellschaftlichen Spannungen wie aktuell in England oder in anderen europäischen Ländern haben wir glücklicherweise derzeit nicht.“ Die soziale Integration sei in Deutschland „in den vergangenen Jahren sehr gut vorangekommen“.
Es sagt viel über den geistigen Zustand des Landes, dass eine sehr bemerkenswerte Intervention vom April 2009 – als die allgemeine Öffentlichkeit zum ersten Mal aufgewühlt war über die Finanzmarkt-Akteure und deren Verfehlungen – buchstäblich spurlos an allen vorüber ging. Der Katholik und Sozialdemokrat, der ehemalige Bundesverfassungsrichter und Rechtsphilosoph Wolfgang Böckenförde schrieb damals in der „Süddeutschen Zeitung“: Gewiss könne der Staat versuchen, dem Kapitalismus erneut Regeln aufzuerlegen. Aber er frage sich, ob das reiche. Böckenförde weiter: „Woran krankt also der Kapitalismus? Er krankt nicht allein an seinen Auswüchsen, nicht an der Gier und dem Egoismus von Menschen, die in ihm agieren. Er krankt an seinem Ausgangspunkt, seiner zweckrationalen Leitidee und deren systembildender Kraft. Deshalb kann die Krankheit auch nicht durch Heilmittel am Rand beseitigt werden, sondern nur durch die Umkehrung des Ausgangspunktes.“
Heinz Bude, Soziologe, hat diese Grundsatzkritik so zusammengefasst: Die kapitalistische Produktionsweise setze „eine unglaubliche Bewegung frei, die überall Verbindungen herstellt und eine allseitige, wie man heute sagt, globale Abhängigkeit begründet, aber in stummer Konsequenz nur einem letzten und einzigen Gesetz dient: dass aus Geld mehr Geld wird. G-W-G` ist die dünne Formel für einen Prozess der Akkumulation ohne Ziel und Ende.“ Die nahe liegende Kritik, dass diese Idee nicht länger tragend und leitend für eine demokratische Gesellschaft sein dürfe, scheint in Deutschland jedoch keinen Widerhall zu finden.
Autor: Wolfgang Storz/woz
Um es vorwegzunehmen: Demokratie und Kapitalismus können m.M.n. zusammen nicht funktionieren. Kapitalismus ist totalitär und jede Zügelung unterliegt zumindest dem Versuch, abgeschüttelt zu werden. So gesehen hat Demokratie noch nirgends stattgefunden, es sei denn, man begnügt sich mit dem Appendix der dem Kapital untergeordneten Regularien.
Woraus sich natürlich die Frage ergibt, wie dieser Widerspruch aufzulösen wäre. Zwei Überlegungen dazu: Das Desinteresse an politischer Betätigung hat einen frühen Ursprung, Schule nämlich, Bildung, und setzt sich fort im Arbeitsleben. Rein theoretisch wäre nach dem GG ausreichend Rüstzeug vorhanden, demokratischere Strukturen zu etablieren. Auch untergeordnete Gesetze böten Ansatz, dem Ziel näher zu kommen. Im Betriebsverfassungsgesetz bspw. steht:
„§ 1 Errichtung von Betriebsräten
(1)In Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen drei wählbar sind, werden Betriebsräte gewählt. Dies gilt auch für gemeinsame Betriebe mehrerer Unternehmen.“
Ketzerische Frage, wo das realisiert ist?! Dieses Instrument, sinnvoll eingesetzt und weiterentwickelt, könnte das Ende der Klassengesellschaft einläuten – ciao, Herr Naujoks und Co.
Es nützt also nichts, die Arbeitswelt rein nach den statistischen Größen wie Einkommen zu bemessen. Wenn wir aber schon dabei sind, ein weiterer Denkanstoß: Eine Möglichkeit, die Arbeitswelt der Bevölkerung unterzuordnen, könnte angepackt werden über die Entlohnung von Managern: Steuerlich bevorzugt werden könnten z. B. Entgelt-Modelle, die nach der verwalteten Lohnsumme berechnet werden. Wäre zumindest eine vorzeigbare Flagge gegenüber Equity- und ähnlichen Fonds. Dieser Ansatz ist meines Wissens in keinem der verfügbaren Parteiprogramme erkennbar.
Klar, kleine, geradezu winzige Pünktchen zu einem großen Vorhaben. Aber es kann auch nicht nur beim Rummaulen bleiben.