Deutschland ist auch unser Land

Unter dem Eindruck der faschistischen Mordtaten von Hanau hat Luigi Pantisano seine Gedanken zur Situation von MigrantInnen aufgeschrieben. Mehr als 20 Millionen Menschen, die in einem Land leben müssen, in dem das Gift des Rassismus zunehmend um sich greift. Der OB-Kandidat weiß, wovon er schreibt. Als Kind italienischer „Gastarbeiter“ und Aktivist gegen Fremdenfeindlichkeit ist er selbst oft genug Ziel rechtsextremistischer Morddrohungen.

Ferhat Ünvar, Mercedes Kierpacz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Said Nasser El Hashemi, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov und Fatih Saraçoğlu sind in der hessischen Stadt Hanau einem rassistischen Terroranschlag zum Opfer gefallen. Sie wollten einen schönen Abend mit ihren Freunden in einer Shisha-Bar verbringen. Die Shisha-Bar war ein vermeintlich sicherer Rückzugsort, den sie nicht mehr lebend verlassen haben. Zurück bleiben trauernde Familien und Freunde.

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Diese jungen Menschen mussten sterben, weil sie nicht in das rassistische Weltbild des Täters passten. Sie hatten schwarze Haare, dunkle Augen und viele trugen einen Bart. Sie konnten mehrere Sprachen sprechen, türkisch, kurdisch und polnisch. Sie hatten alle gemein, dass ihre Eltern aus einem anderen Land nach Deutschland eingewandert sind. Über 20 Millionen Ferhads, Mercedes, Fatihs, und Vili leben in Deutschland und sie alle waren das Ziel dieses feigen Terroranschlags.

Viele von ihnen fühlen sich heute allein gelassen. Sie zweifeln an diesem Land, welches ihnen eine Heimat sein sollte, sich aber in den letzten Jahren immer mehr von ihnen entfremdet hat. Nicht wenige überlegen auszuwandern, weil sie sich ausgegrenzt und nicht mehr verstanden und willkommen fühlen. Nicht willkommen im eigenen Land, in dem sie geboren sind, die Schule besucht haben, dessen Sprache sie sprechen. Das ist die Folge dieses immer stärker werdenden Rassismus in Deutschland.

Dieser Rassismus hat sich eingeschlichen und verbreitet in unserem Alltag. Ein Rassismus, der den Boden zum Anschlag von Hanau bereitet hat. Wie auch schon in Halle, in Kassel oder beim Europazentrum in München, bei den NSU-Morden und den 200 anderen Morden seit 1990, die einen rassistischen Hintergrund hatten. Hinzu kommen rechte Terrorgruppen, die Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und Moscheen planen, aber von den Sicherheitsbehörden rechtzeitig entdeckt werden.

Erst vor einer Woche ist eine schwer bewaffnete Terrorgruppe aufgeflogen, die plante, bundesweit Muslim*innen zu ermorden und einen Bürgerkrieg herbeizuführen. Die Täter dieser Gruppe haben starke Bezüge nach Baden-Württemberg. Diese und andere Terrorgruppen fühlen sich scheinbar so sicher, dass sie vor unseren Augen Mord und Krieg planen.

Deutschland hatte sich nach dem zweiten Weltkrieg das Ziel gesetzt, dass sich Faschismus nach der Vernichtung von sechs Millionen Juden und insgesamt 30 Millionen toter Menschen NIE WIEDER ausbreiten würde. Eine wehrhafte Demokratie sollte Deutschland sein. Wehret den Anfängen! Und jetzt stellen wir 75 Jahre später fest, nach Halle, Hanau und vielen anderen rechten Terroranschlägen, dass Deutschland weit entfernt ist von diesem Ziel.

Viel zu lange wurde es schulterzuckend hingenommen, dass Einwanderer der 60er und 70er Jahre in Deutschland als Gäste galten. Zu oft wurde gefordert, dass sie wieder zurückkehren sollten in ihre Herkunftsstaaten. Es wurde zugelassen, dass in vielen Städten Quartiere entstanden, in denen Migrant*innen hier und Deutsche dort leben. Es wird weggeschaut, wenn heute noch Schüler*innen in Deutschland in einem dreigliedrigen Schulsystem oftmals nach Migrant*innen und Deutschen getrennt werden. Die einen sitzen in der Hauptschule fest und die anderen blühen auf dem Gymnasium auf. Bis heute dürfen Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, nicht ihre Vertreter*innen im Gemeinderat, Landtag oder Bundestag wählen. Die Anliegen, Sorgen und Träume der über 20 Millionen Migrant*innen fallen oft unter den Tisch in den gesellschaftlichen Debatten in Deutschland.

Hinzu kommt, dass die Politik der letzten Jahre immer mehr auf die Leistungsfähigkeit der Menschen und nicht auf ihre Bedürfnisse setzt. Das Mantra des Höher, Weiter, Schneller befördert eine Konkurrenzgesellschaft, in der sich die Stärkeren gegen die Schwächeren durchsetzen müssen. Im Kleinen wie im Großen. Mensch und Natur werden weltweit ausgebeutet. Das befeuert einerseits die Klimakrise und führt andererseits zu brutalen Kriegen. In einer solchen Situation haben Hassprediger mit einfachen Lösungen ein leichtes Spiel.

Diese Entwicklungen haben den alten und neuen Rechten die Möglichkeit gegeben, sich in unserer Demokratie auszubreiten. Republikaner, NPD und andere rechte Organisationen haben es immer wieder in die Parlamente geschafft. Kampagnen von Seiten konservativer Politiker*innen gegen die sogenannte „doppelte Staatsbürgerschaft“ und Slogans wie „Kinder statt Inder“ und Debatten über eine angebliche „Leitkultur“ bestimmen teilweise bis heute den Diskurs. Diese Vorläufer haben Stück für Stück und Jahr für Jahr den Boden für die rassistische AfD und ihr Netzwerk der sogenannten neuen Rechten bereitet.

Die AfD kann heute ihre menschenfeindliche Hetze auf Podien, an Rednerpulten und in der Presse verbreiten. Ein Großteil der deutschen Gesellschaft hat dabei schweigend zugeschaut, manche in Schockstarre, andere mit Schulterzucken. Viele jubeln der AfD zu und verbreiten ihre Lügen und ihre Hetze. Die AfD hat in den letzten Jahren die rassistische Stimmung in Deutschland befeuert und den rechten Terroristen in München, Halle und Hanau die Anleitung zur Hand gegeben für Anschläge. Die AfD führt auch den Stift derjenigen, die Morddrohungen an engagierte Menschen versenden. Die AfD hält das Streichholz derjenigen, die Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, Synagogen und Moscheen verüben.

Diejenigen, die sich Rassisten in den Weg stellen, werden hingegen kritisiert und teilweise kriminalisiert. Immer weniger Politiker*innen und engagierte Menschen sind aus Angst vor Anfeindungen bereit, für unsere Demokratie einzustehen oder ziehen sich ganz zurück. Das gefährdet unsere Demokratie und das Leben von über 20 Millionen Menschen, die nicht in das menschenverachtende Weltbild der AfD und ihrer bewaffneten rassistischen Unterstützer passt.

Die AfD und die ihnen nahestehenden Organisationen wie die Identitäre Bewegung müssen konsequent ausgegrenzt werden. Ihre Vertreter*innen dürfen keinen Raum mehr bekommen, nicht im Fernsehen oder in der Presse, geschweige denn darf es irgendeine Zusammenarbeit mit ihnen geben. Sie müssen zu spüren bekommen, dass sie nicht dazugehören, dass sie mit ihrer Ideologie niemals Fuß fassen dürfen in unseren Institutionen, Vereinen und Freundeskreisen. Wer unsere demokratischen Spielregeln dafür missbraucht, die Demokratie von innen zu zerstören, gehört in letzter Konsequenz verboten.

Das allein genügt aber nicht. Der bestehende strukturelle und institutionelle Rassismus in Deutschland muss aufgedeckt und beseitigt werden. Politik, Polizei und andere Institutionen müssen konsequent gegen den Rassismus in den eigenen Reihen vorgehen und müssen sich für Menschen mit den vielfältigsten Geschichten öffnen. Rassistische Sprache, Bilder oder Begriffe dürfen keinen Platz mehr in unserer heutigen Gesellschaft haben.

Die Investitionen in Bildungs- und Aufklärungsarbeit gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus müssen massiv steigen. Kommunen und Landkreise müssen beispielsweise im Rahmen der Internationalen Wochen gegen Rassismus oder anderer ähnlicher Projektwochen vor allem Kinder und Jugendliche aufklären, Pädagoginnen schulen und die Öffentlichkeit informieren.

In Zeiten einer sich abzeichnenden Wirtschaftskrise ist es wichtig, dass der notwendige ökologische Umbau nicht auf Kosten der Schwächsten und Minderheiten stattfindet. Soziale und ökologische Politik müssen zusammen gedacht werden. Der Wohlstand muss allen zugutekommen und nicht nur wenigen, dann hat die AfD keine Chance, als Gewinnerin aus diesem Umbruch hervorzugehen.

Die über 20 Millionen Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland bekommen bis heute nicht den Raum in der Öffentlichkeit, der ihnen zusteht. Das muss sich ändern. Das ist der wichtigste Schritt, um den bestehenden Rassismus zurückzudrängen. Deutschland ist auch unser Land! Niemand hat das Recht anderen vorzuschreiben, wie sie fühlen, reden oder handeln sollen. Für alle 80 Millionen Menschen in Deutschland gilt das deutsche Grundgesetz und nicht irgendeine Leitkultur oder Tradition.

Die deutsche Gesellschaft muss alles dafür tun, dass sich ein rassistischer Terroranschlag wie in Hanau nicht wiederholt. Wir sind es Ferhat, Mercedes, Gökhan, Hamza, Vili, Said, Sedat, Kaloyan, Fatih und allen anderen Opfern rechter Gewalt schuldig. Alle Demokrat*innen müssen zusammen stehen und jede*r muss am eigenen Wirkungsort dafür sorgen, dass dieser Anschlag aufgeklärt wird, Strukturen sich ändern, Rassismus nicht unkommentiert bleibt und von Rassismus betroffene Menschen geschützt werden.

Viele Menschen sind aktuell verunsichert und verängstigt. Vertrauen wurde zerstört. Dieses Vertrauen muss jetzt wiederhergestellt werden. Die über 20 Millionen vielfältigen Menschen in Deutschland müssen zu spüren bekommen, dass sie zu Deutschland gehören. Dass Deutschland sie schützt und es auch ihr Land ist. Dieses Zeichen muss jetzt kommen. NIE WIEDER darf sich das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte wiederholen.

Luigi Pantisano

Bild: Luigi Pantisano (vierter von l.) bei der Demonstration in Stuttgart nach dem Anschlag in Hanau, gemeinsam mit Muhterem Aras (Landtagspräsidentin BW), Gökay Sofuoglu (Türkische Gemeinde Baden-Württemberg) und Stuttgarter Stadtrat*innen von Grünen, SPD, SÖS und DIE LINKE. (Foto: Roland Hägele)