Die andere Kanzlerin oder: Journalisten haben immer recht
Ist die Analyse, die Regierung Merkel sei am Ende, absurd oder angemessen? Vor der jüngsten Bundespräsidentenwahl sahen die Analytiker eine „Kanzlerdämmerung“ (spiegel-online) aufziehen und nach ihr erst recht. Tatsächlich wird sich nach der Sommerpause erweisen, was der Kampf-Journalismus in unserem Land so alles drauf hat.
Die Süddeutsche Zeitung kommentierte die Tatsache, dass Angela Merkel die Wahl ihres Kandidaten als „zufrieden stellend“ bezeichnete, so: „Angela Merkel wirkt in solchen Momenten, als hielte sie die Türklinke fest in der Hand, während eine Schlammlawine den Rest des Hauses ins Tal hinunter reißt.“
Wer gängige Kriterien anlegt, der könnte zu dem Schluss kommen, dieser Regierung geht es leidlich gut. Eines dieser Kriterien: Hat die Regierung eine stabile Mehrheit im Parlament? Eindeutig: ja. Und da die Opposition seit der für sie misslungenen Bundespräsidentenwahl zudem zerstrittener denn je ist – rotgrün bekämpft tiefrot -, sitzt die Regierung Merkel noch stabiler als zuvor im Sattel.
Erfolgreiche Wahlverlierer
Ein weiteres Kriterium: Floriert die Wirtschaft? Die Antwort: Unter der inzwischen fünfjährigen Kanzlerschaft Angela Merkel wurde die Volkswirtschaft – nach den allgemein herrschenden Maßstäben – recht leidlich durch zwei schwere Finanzmarktkrisen gesteuert: Die Wirtschaft wächst, und bald könnte die Zahl der Arbeitslosen sogar die 3 Millionen-Marke unterschreiten; ein solider sozialliberal- bis rechtsbürgerlicher Journalismus müsste diese Zahlen eigentlich als Erfolgsgeschichte festhalten. Wohlgemerkt: Über Güte und Treffsicherheit dieses Kriteriums für Regierungshandeln kann trefflich gestritten werden. Aber: Über Jahrzehnte wurde es vom Journalismus angelegt, dann kann er es nicht einfach nach Belieben beiseite legen.
Ach was, trotzdem ist diese Regierung am Ende, sagt die veröffentlichte Meinung. Warum? Weil Merkel keine Visionen habe – was seit Willy Brandt kein Kanzler hatte – und weil sie nichts mitreißend erklären könne – was seit Willy Brandt kein Kanzler konnte -, und weil ihr zudem alle Männer davon liefen. Letzteres ist richtig. Was noch offen ist: Schadet oder nutzt dies wahlweise der CDU oder der Regierung? Denn die freien Stellen sind ja bemerkenswert zügig und reibungslos neu besetzt worden. Mit ein klein bisschen Wohlwollen könnte man darin sogar einen ungewollt gelungenen Generationswechsel sehen. Schließlich gehen doch nicht nur Helden vom Platz: So sind Roland Koch und Jürgen Rüttgers erfolgreiche Wahlverlierer, und Günther Oettinger war der unbeliebteste aller deutschen Ministerpräsidenten.
Gewählt, um keine soziale Politik zu machen
Nein, nein, diese Regierung ist am Ende, sagt trotzig dieser Basta-Journalismus. Denn die beschimpfen sich nur und kriegen nichts auf die Reihe. So kann man es sehen. Man könnte es begründet auch so sehen: Die Regierung Merkel wurde von ihrem Wahlvolk mit einer sehr starken FDP und einer etwas geschwächten Union ausgestattet. Damit war klar: Diese Regierung wurde gewählt, um keine sozial gerechte Politik zu machen, um die Steuern zu senken und die Kopfpauschale einzuführen. Um was wird denn nun gestritten?
In einem in der Tat wenig ästhetischen Kampf zwischen Interessen treiben Merkels Mannen der FDP erst die Steuersenkungen, dann die Kopfpauschale aus und bugsieren sie nun auf einen Standpunkt, von dem aus die FDP im anstehenden Herbst der einen oder anderen Steuererhöhung zustimmen kann. Ein spannender Interessenkampf, der zeigt: Merkel will von ihren Positionen des Jahres 2003 nichts mehr wissen. Und: Die Union domestiziert die letzte marktradikale Partei Deutschlands auf offener Bühne, ohne dass bisher die Koalition auseinander fliegt und Guido Westerwelle sein Gesicht verlieren muss. Das könnte man bei etwas Wohlwollen auch als eine formidable Führungsleistung charakterisieren. Aber auch diese Deutung hat in der veröffentlichten Meinung keine Chance, weil …, richtig, weil diese Kanzlerin nichts kann.
Da herrschende Deutung (Merkel am Ende) und Wirklichkeit (Merkel regiert) bereits seit vielen Wochen so weit auseinander klaffen, sah sich der politische Journalismus kurz nach dem Rücktritt des „beleidigten Leberhorst“ (Süddeutsche Zeitung) gezwungen, mehr zu tun, als zu schreiben und zu senden: Er warf sich selbst ins Getümmel, um der Kanzlerin eine Niederlage zu bescheren, damit Deutung und Wirklichkeit wenigstens ein bisschen näher rücken. Zu diesem Zweck entwand er der rotgrünen Opposition ihren Kandidaten Joachim Gauck und machte aus ihm – dem Instrument gedankenflacher oppositioneller Taktiken: wie ärgere ich Merkel mit wenig Aufwand? – den hehren überparteilichen Kandidaten des gesunden gutbürgerlichen Volksempfindens.
Jetzt fährt Gauck Fahrrad
Aus der Süddeutsche Zeitung, stellvertretend für alle anderen: Gaucks Kandidatur „berauscht ein Land, das sich nach Orientierung sehnt“. Und alle durften dabei sein: „Die öffentliche Halb-Vergöttlichung des … Kandidaten Gauck war ein Akt des Widerstands gegen die Parteipolitik.“ Echt? Ein Kampf von Bürgertum und Journalismus gegen diese verrottete Parteienwirtschaft; bisher rief nur Arnulf Baring, ein knochenharter Konservativer, die Bürger auf die Barrikaden. Um dieses Kampftheaters willen wurde Gauck wider besseren Wissens zum Helden und Wulff zum nützlichen, langweiligen Idioten umgeschminkt.
Das Ergebnis ist bekannt – alle freuen sich über Wulff, Gauck fährt Fahrrad, die Regierung regiert. Und der Journalismus? Sein Kampf geht weiter. Die Zeit hat das Folterinstrument bereits auf den Tisch gelegt: „Wenn Schwarz-Gelb sich nach der Sommerpause nicht berappelt hat, dann muss und wird diese Gesellschaft einen Weg finden, sie loszuwerden.“ Noch ist das nur der Zeigefinger, aber bald, bald könnte daraus Dolch und Degen werden … .
Autor: Wolfgang Storz/taz