Die deutsche Polizei – ein gesellschaftlicher Kollateralschaden?

Viel Blut sei geflossen, überall sei Blut gewesen, auf dem Boden, auf den Treppen. Und trotzdem hätten die Polizisten immer weiter auf den Mann eingeschlagen. Dieses Erlebnis habe seine Vorstellung von einer westlichen Demokratie und sein Bild von deutschen Beamten verändert, berichtete bei der Black-Lives-Matter-Demonstration in Konstanz ein Augenzeuge dieser Abschiebe­szene eines afghanischen Asylsuchenden. Geschehen ist sie in einer Konstanzer Unterkunft für Geflüchtete. Offizielle Polizeiberichte beschreiben solche Szenen anders.

Vorwürfe und Forderungen

Die aktuelle Debatte über Missstände bei der deutschen Polizei reißt nicht ab, täglich machen neue Vorfälle Schlagzeilen[1]. Die Liste der Vorwürfe ist lang: rassistisch motivierte Polizeigewalt von Racial Profiling bis zur Ermordung von BPOCs (Schwarzen und „migrantischen“ Menschen)[2], Abschiebungen mit tödlichem Ausgang[3], institutioneller Rassismus, Bagatellisierung, Verhinderung von und Viktimisierung[4] bei polizeilicher Aufklärung von rassistischen Übergriffen und Morden, aktive Beteiligung von Polizeibeamten in rechtsradikalen Netzwerken wie der NSU 2.0[5], rassistische Drohmails von Polizeibeamten an BPOCs[6], NS-Theorien zur „Sippenhaft“[7] in aktuellen Lehrbüchern und vieles mehr.

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Gefordert werden Polizeireformen, unabhängige Untersuchungen und juristische Aufarbeitungen der Vorwürfe gegen die Polizei, sowie unabhängige Beschwerde- und Kontrollinstanzen für Opfer von Polizeigewalt. Bei Anzeigen gegen die Polizei ermittelt schließlich die Polizei selbst und nur etwa zwei Prozent der Anzeigen führen zu Anklagen[8][9]. Die wiederum wie Bagatelldelikte geahndet werden, unabhängig ihres Schweregrades. Beispielsweise erhielt der für den Tod von Oury Jalloh verantwortliche Polizist wegen fahrlässiger Tötung eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 90 Euro.

Hoheitsgewalt ohne Kontrolle

Das Argument, es handele sich um Einzeltäter, ist im Deutschen bereits eine feste Redewendung, die zur Erklärung von rechtsradikalen, rassistischen Übergriffen herangezogen wird. Sind die Täter Polizisten, wird die Einordnung als „Einzeltäter“ noch um den Zusatz ergänzt, „schwarze Schafe“ gebe es überall. Polizei, Polizeigewerkschaften und Innenminister Seehofer weisen, trotz Schwere und Häufung der Missstände, konsequent alle Vorwürfe zurück, verdrehen Opfer- und Täternarrative und gehen zu einer Gegenoffensive über: Einerseits wurden die Handlungsoptionen der Polizei mit schärferen Polizeigesetzen noch erweitert, andererseits werden „migrantische“ Bürger*innen zunehmend als Bedrohung inszeniert. Neben ihrer hoheitlich verliehenen Befugnis, Gewalt ausüben zu dürfen, beansprucht die Polizei auch die Definitionsmacht über ganze Bevölkerungsgruppen. Dabei handelt sie entgegen den eigenen Statistiken, aus denen nicht hervorgeht, dass bestimmte Straftaten bestimmten Hautfarben oder Herkunftsorten von Menschen und ihren Vorfahren zugeordnet werden können. Dass die Polizei mit dieser Macht ausgestattet ist und jegliche neutrale oder ethische Kontrollinstanz fehlt, führt zu einer Gemengelage aus Interessenskonflikten, rassistischer Stereotypisierung und Gewaltlegitimation gegen bestimmte Gruppen. Diese Gefahr ist seit Entstehen der Idee von Polizei bekannt und eine universelle, fast biblische zu nennende Erkenntnis.

Aus diesen Gründen gibt es international Versuche der Gegensteuerung, auch im Sinne der zivilgesellschaftlichen Demokratieförderung. Ein Beispiel dafür ist die 1969 ratifizierte Internationale Konvention zur Abschaffung aller Formen rassistischer Diskriminierung (Antirassistische Konvention ICERD). Deutschland gehört zu den mitunterzeichnenden Staaten und ist verpflichtet, alle vier Jahre über rassistische Diskriminierung auf allen politischen, sozialen und institutionellen Ebenen, sowie über präventive Gegenmaßnahmen zu berichten[10]. Darüber hinaus sieht der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus weitere, verpflichtende Schutz- und Präventionsmaßnahmen vor[11], zum Beispiel im Rahmen der Polizeiausbildung. Bedauerlicher Weise werden diese Selbstverpflichtungen, wider besseren Wissens, von den Verantwortlichen ignoriert.

Polizei versus Pluralismus

In ihrer täglichen, operativen Praxis vollzieht die Polizei eine gesellschaftliche Trennung entlang der Merkmale Hautfarbe und „Migrationsgeschichte“. Die latente Polizeipräsenz an „migrantischen“ Orten wie Flüchtlingsunterkünften, „migrantischen“ Stadtteilen oder Shisha Bars baut ein scheinbares „Gefahrenpotential“ auf, das von diesen Orten ausgehen soll. Die sich stets wiederholende Praxis des Racial Profiling zementiert, den Orten entsprechend, das Bild vom „tatverdächtigen“ Aussehen von Menschen. In Polizei- und Medienberichten werden solche Bilder perpetuiert. „Migrantische“ Menschen werden, selbst wenn sie Opfer von rechter Gewalt geworden sind, erniedrigend dargestellt. Die ersten NSU-Morde bezeichnete die Polizei als „Dönermorde“, weil das Opfer ein Dönerbudenbesitzer war und behördliche Borniertheit sich Täter nur unter seinen als kriminell vorverurteilten Landsleuten vorstellen konnte. Diese Polizeipraktiken markieren ganze Gruppen von Menschen als nicht hierher gehörend, als die „Anderen“[12] und in letzter Konsequenz auch als die „Nichtschützenswerten.“ Potentiell signalisiert die deutsche Polizei, dass sie 21,2 Millionen Menschen mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ gleiche Rechte auf Ruhe, Sicherheit und Wohlbefinden entziehen kann. Gegenüber biodeutschen Bürger*innen sendet sie gegenteilige Signale aus und kreiert Straftaten, deren Bezeichnung dem Duden des rechtsradikalen Grauens entspringt: „Deutschfeindlichkeit“ ist 2019 vom Bundeskriminalamt als eine Straftat eingeführt worden.

Die Polizei verursacht materielle und immaterielle Schäden – oder was kostet uns die Demokratie?

Die deutsche Polizei polarisiert und diskriminiert, damit fördert sie aktiv die Desintegration vieler Menschen. Menschen, die sich von der deutschen Polizei stigmatisiert fühlen, die beobachten können, dass tatsächliche und potentielle rassistische Angriffe gegen sie und ihr Leben von der Polizei nicht geahndet oder gar von dieser Polizei direkt ausgeführt werden, solche Menschen entwickeln ein kollektives Misstrauen, das sich über Generationen erstrecken kann. Hier wird in Kauf genommen, dass ein Großteil der Bürger*innen ihr Vertrauen in Polizei, Justiz und Politik verliert[13].

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Fehlermittlungen einer von diskriminierenden Stereotypen geleiteten Polizei wie im Fall NSU verursachen immense finanzielle Kosten und schaden dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie arbeiten rechten Ideologien zu und verweigern Opfern ihre Rechte. Eine solche Polizeiarbeit trägt nicht nur innerhalb Deutschlands zu Imageverlusten der Rechtsstaatlichkeit bei, sie schadet auch ihrem Ansehen im Ausland. Jedes Unternehmen, das sich auf dem globalen Markt behaupten will, bemüht sich Diskriminierung zu vermeiden, weil dies innerbetriebliche Kosten und Imageverluste verursacht, die betriebswirtschaftlich nicht tragbar sind[14]. Auf Nationen übertragen verhält es sich ähnlich. Deutschland ist ein Einwanderungsland, das auch in Zukunft wirtschaftlich von Zuwanderungen abhängig sein wird. Gerade für umworbene Spitzenkräfte ist ein Land, das staatliche Diskriminierung oder ein rassistisches Klima duldet, unattraktiv. Rassismus und Diskriminierung schaden dem globalen Wettbewerb, dem Wirtschaftsstandort Deutschland und damit der gesamten Volkswirtschaft.

Die aktuelle Debatte über die Polizei könnte eine echte Chance für substanzielle Reformen sein, stattdessen spitzt der komplette Polizeiapparat die Situation zu. Seehofers Polizei erstarkt zum potemkinschen Dorf. Dieser eklatant fehlende Wille zur Aufklärung und Veränderung ist in der aktuellen politischen und sozialen Situation völlig unverständlich und weder gesellschaftlich noch wirtschaftlich tragbar.

Abla Chaya (Bild: Ana Carolina Mantelli auf Pixabay)


Anmerkungen

[1] https://www.rnd.de/panorama/erfurt-rassistischer-angriff-alle-zwolf-tatverdachtige-sind-frei-BDE6PE6QT5V75RP7RWBA7DEKSU.html?utm_medium=Social&utm_source=Facebook&fbclid=IwAR1-hZP25Dh3BgAMBiupmUAdWApxib8DE3PhggwY6Pxa8t0VBvKGiSLI0Rc#Echobox=1596376822

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Oury_Jalloh

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Aamir_Ageeb

[4] https://www.verband-brg.de/wp-content/uploads/2019/01/EZRA-VBRG-Studie-Die_haben_uns_nicht_ernst_genommen_WEB.pdf

[5] https://www.deutschlandfunk.de/rechtsextremismus-bei-der-polizei-zu-viele-einzelfaelle.724.de.html?dram:article_id=466389

[6] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-2-0-landeskriminalamt-hessen-weiss-von-69-rechtsextremen-drohmails-a-35a3dab9-e60d-45aa-bce1-3e4d0a263d72

https://www.fr.de/politik/hessen-deutschland-polizei-fragt-unbefugt-daten-ab-nsu-20-drohschreiben-frankfurt-13844413.amp.html?__twitter_impression=true&fbclid=IwAR1H4UXLQYZDdpmlEqnCxew0-uxKsXjKITDUbW65x9WinxyN9ZtKCbjOs8g

[7] https://www.stern.de/panorama/polizei—sippenforschung—-ns-sprech-im-kriminologie-lehrbuch-8882528.html

[8] https://www.facebook.com/vicede/videos/212052306851801/UzpfSTEwMDAwODYyMTIyODYxMjoyNDMwNTkyMDcwNTcxNDc3/?id=100008621228612

[9] https://www.victim-veto.org/

[10] https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/ICERD/ICERD__Staatenbericht_DEU_23-26__2020.pdf

[11] https://www.bmfsfj.de/blob/116798/5fc38044a1dd8edec34de568ad59e2b9/nationaler-aktionsplan-rassismus-data.pdf

[12] https://taz.de/Krawalle-in-Stuttgart-und-Frankfurt/!5695517/

[13] https://www.idz-jena.de/schriftenreihe/band-2-schwerpunkt-diskriminierung/

[14] https://www.daimler.com/konzern/news/toleranz-und-respekt.html