Die Perversion der 2989 Konstanzer Sozialpässe

Die Dramatik ist unübersehbar: Innerhalb eines Jahres steigt die Zahl der Sozialpass-Inhaber in Konstanz um 15 Prozent. Viel mehr als eine dürre Pressemitteilung ist das der Stadtverwaltung nicht wert, dabei sind solche Zahlen wichtiger als jeder Umfragewert zur Bundes­tags­wahl.

Ein Sozialpass bedeutet, dass das Geld nicht einmal mehr reicht, um sich einen Besuch in einer kulturellen Einrichtung aus eigener Tasche leisten zu können. Wie demütigend ist es, wenn ich meinen Nachweis vorzeigen muss, um meine Busfahrkarte günstiger zu bekommen – offenkundig gehöre ich nun zu denjenigen, die am untersten Ende der Gesellschaft Sozialleistungen empfangen, die mein Dasein ermöglichen. Natürlich ist das nicht so dramatisch wie in Afrika, doch für unsere Verhältnisse, für das, was denkbar wäre, ist es ein Skandal.

Denn es sind eben nicht mehr nur die Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit, es sind immer mehr Rentner, denen das Geld im Alter nicht reicht, um die Miete zu bezahlen – und daneben zumindest im Sommer ins Schwimmbad zu können. Dabei haben wir doch so viel Vermögen wie wohl selten, nur bunkern wir es an der Spitze des Eisberges bei denen, die nicht mehr wissen, wo die Scheine denn noch gelagert werden sollen.

Nicht jede/r kann von Arbeit leben

Die Lage hat sich durch die zunehmenden Leistungsempfänger unter den Asylsuchenden und Migranten, aber gerade auch die Senioren verschärft, die ein Leben lang gearbeitet haben – und heute Flaschen sammeln gehen. Wie soll das nur möglich sein? Denn eigentlich hören wir doch jeden Monat nur gute Nachrichten vom Arbeitsmarkt, von „Vollbeschäftigung“ reden da schon einige, obwohl wir noch millionenweit davon entfernt sind.

Und vor allem: Nicht jeder, der auf dem Papier arbeitet, kann davon leben. Wir wissen um die prekären Beschäftigungsverhältnisse, um die vielen Teilzeitarbeitenden gerade unter den Frauen, nach der Schwangerschaft, nach der Kindererziehung, aber auch generell, weil sie eben einfach zum „falschen“ Geschlecht gehören. Und wie schnell ist man Bezieher von Wohngeld, „Hartz IV“ oder Sozialhilfe – und wird plötzlich zum Anspruchsberechtigten für den Pass, von dem man doch sonst nur in der Zeitung am Rande etwas gelesen hatte.

Da ändern sich plötzlich Perspektiven – und keiner kann so schnell hinsehen, wie sich die Situation wendete. Wen sollen wir verantwortlich machen? Und wen können wir auffordern, etwas an dieser unsäglichen Lage zu ändern? Die Stadt ist hier wohl nur bedingt unser Ansprechpartner, ich nehme ihr ab, dass sie unter Hochdruck versucht, Wohnraum für die zu schaffen, bei denen der Geldbeutel eben nicht locker sitzt. Sie kann nur Symptome lindern, weil die Rahmenbedingungen nicht wirklich die besten sind.

Vom Eigennutz der Schweizer Käufer

Worauf wir kommunal drängen müssen, ist die Einhaltung des Zweckentfremdungsverbots, denn wie viele Wohnungen werden in Konstanz nicht oder nicht hinreichend zum Wohnen genutzt, sondern stehen einen Großteil des Jahres leer und könnten vielleicht auch jenen dienen, die nun auf den Sozialpass angewiesen sind. Natürlich sind es besonders die teuren Appartements, an denen über Monate die Jalousien nicht bewegt werden. Trotzdem gilt hier, auch weiterhin dranzubleiben.

Mehr können wir von Land und Bund erwarten. Ein Preisniveau in Konstanz, das seinesgleichen sucht. Die Schweiz, deren Bürger uns aus deren Sicht verständlicherweise überrennen, heben es ins Unermessliche und machen es für die hiesigen Einwohner unerschwinglich. Die Wirtschaft leidet bei jeder Überlegung, die nur im Ansatz dahin gehen könnte, den Schweizer Kunden etwas mehr abzuverlangen. Ihnen das Einkaufen und das Wohnen hier in deutscher Nachbarschaft etwas weniger schmackhaft zu machen als eben bisher.

Wir reden wieder und wieder von Mehrwertsteuerrückerstattungen, die doch endlich begrenzt und erst ab einem Mindestbetrag ansetzen sollten. Doch mit den momentanen Personen in Verantwortung dürfte sich kaum etwas ändern lassen an der jetzigen Praxis, die die „pempert“, denen es im Vergleich zu einem Konstanzer Sozialpass-Empfänger traumhaft ergehen wird. Und so sind es die Inhaber dieser deutschen Unterstützung vom Amt, die indirekt auch unter dem Eigennutz von Schweizer Kaufinteressenten stöhnen müssen.

Mietpreisbremse bringt so gut wie nichts

Die Mietpreisbremse ist ebenso eine Maßnahme, die zwar gut gemeint, aber schlecht umgesetzt ist, denn sie bringt so gut wie nichts. Kaum jemand hält sich an die Regeln, die Marktwirtschaft ist in diesem Bereich seit langem ausgehebelt, weil der Bedarf eine Blase gebildet hat, die scheinbar in noch so große Größen wachsen kann, das Angebot nahezu erdrückt und die Mieten so steigen lässt wie eigentlich nie zuvor. Dort, wo man sich früher im guten Bürgertum seine vier Wände leisten konnte, braucht es heute Zuschüsse des Staates, um für die monatlichen Zahlungen, die Nebenkosten und Mehrbedarfe aufkommen zu können – und schlussendlich bleibt nichts mehr für ein Mal im Monat ins Theater, vielleicht auch in ein Museum oder zu einem Konzert. Wer ein „soziokulturelles Existenzminimum“ erreichen will, der braucht den Sozialpass heute öfter denn je.

Das Bild ist nahezu pervers, das sich zeichnet, wenn wir sehen: Menschen arbeiten mehr denn je, können sich immer weniger leisten, trotz Mindestlohn und anderer Eingriffe in die ach so sich selbst regulierende Systematik der freien Wirtschaft, die den Arbeitnehmer heute derart ausbeutet, dass ihm am Ende nur noch der Gang zur Konstanzer Stadtverwaltung bleibt. Mit gesenktem Haupt und vollkommen gehemmt, obwohl niemand der Bezieher eines Sozialpasses etwas dafür kann, darauf angewiesen zu sein. Im Gegenteil:

Bei solchen Statistiken werden sie kleinlaut

Schämen müssen sich die, die zulassen, dass solche Zustände in Deutschland Wirklichkeit geworden sind. In einer Republik, die täglich neu ihren Wohlstand verkündet, dann aber kleinlaut wird bei Statistiken, die Brutales offenbaren: Wir schaffen es nicht mehr, die Mitte unserer Gesellschaft mit ins Boot zu holen. Wen das nicht alarmiert, den schockieren auch Kims neue Raketentests nicht mehr.

Ein Einkommen für jeden, das niemanden mehr abhängig macht vom Betteln beim Finanzminister. Eine Umverteilung, die zu einer Gerechtigkeit führt, bei der jeder durch Leistung seinen Wohlstand mehren kann, bei der aber niemand mehr darum fürchten muss, nicht zumindest einen Grundbetrag im Monat verwalten zu können, der für das Überleben ohne Sozialpass ausreicht. Manche der großen Probleme, die Deutschland tatsächlich hat, die aber von „Eier-Skandalen“ und Urlaubsbildern der Kanzlerin überdeckt werden, könnten nach der Bundestagswahl gelöst werden.

Doch dafür bräuchte es in Deutschland Reformbereitschaft. Und die gibt es nicht, weil wir uns daran gewöhnt haben, dass eine Polarisierung zwischen Arm und Reich „normal“ ist in unseren Tagen. Dass sie das aber eben gerade nicht sein kann, das bestätigen die kleinen Notizen zwischendurch: 2989 Sozialpässe sind in Konstanz im Umlauf.

Dennis Riehle