Die Schönheitschirurgie der Unternehmer
Jüngst hat die „Neue Züricher Zeitung“ (NZZ), die international ebenso renommierte wie unternehmerfreundliche Schweizer Tageszeitung, untersuchen lassen, wie viele ihrer Leserinnen und Leser überhaupt den Wirtschaftsteil lesen. Der Befund: ein erschreckend niedriger Prozentsatz.
Das Beispiel zeigt, dass allerorten, nicht nur in Kreisen der Linken, das Interesse, sich genauer mit Wirtschafts- und Finanzthemen zu beschäftigen, nicht sonderlich groß ist. Es gibt fast eine Scheu, dies zu tun: Das ist so kompliziert, da komme ich nicht mit, das ist so dröge… Die Abwehr ist kein Zufall, ein Beispiel: An den Schulen ist es kein Thema und wenn es eines ist, dann sind die Inhalte meist aus Sicht des Unternehmers und der privat-kapitalistischen Wirtschaftsordnung dargestellt. Alternativen dazu: Fehlanzeige. Mit ökonomischem Nicht-Wissen wachsen wir auf.
Nun gibt es einen zentralen Unterschied: Das Publikum der „NZZ“ kann sich diese Nachlässigkeit leisten. Denn es will, auf jeden Fall mehrheitlich, diese Wirtschaftsordnung, so wie sie ist, in der Schweiz und anderswo. Ihm kommt das entgegen, was anderen buchstäblich das Leben schwer macht: Die Wirtschaft hat in den letzten zwei, drei Jahrzehnten, diese Gesellschaft überwältigt; deren Mechanismen, Anforderungen und Normen prägen fast alles andere. Die Wirtschaft ist nicht Teil der Gesellschaft, letztere ist Teil der Wirtschaft geworden.
Wer das ändern will, der muss wissen, wo was schief läuft, was unbedingt geändert werden muss und wie das gehen könnte. Der muss sprech- und argumentionsfähig sein. Der andere kann sich zurücklehnen und damit begnügen, auf das aus seiner Sicht Gute am Bestehenden hinweisen. Seine Interessen werden ja nicht verletzt, sie werden bedient.
Und die Wirtschaft kann, eben weil sie die Gesellschaft überwältigt hat, von niemandem, ob erwerbstätig oder nicht, `ferngehalten`werden, heute weniger denn je: Mit share economy, dem autonomen Auto, mit smart house, smart factory, cloud-working, 3-D-Drucker als möglichem millionenfachem Produktionsmittel für jeden Haushalt, mit e-commerce und Versandhandel dringt sie bei allen in alle Poren des Lebens. Eine neue Welt, vollgestopft mit neuen Techniken und Produkten, die von der Unternehmens-Propaganda als Verheißungen aufgeladen werden: freier, individueller, solidarischer würde diese Welt; der Technik-Kritiker Evgeny Morozov spricht in diesen Fällen von verbaler „unternehmerischer Schönheitschirurgie“. Dabei besteht diese neue Welt weitgehend aus zweierlei: zunehmend unsicherer Arbeit und Konsum. Wir werden nicht darum herumkommen, uns alle auf diese Themen einzulassen, auch wenn sie auf den ersten Blick kompliziert und dröge sein mögen.
Ein Oxi, ein Nein steht immer am Anfang von Klärungs- und Veränderungsprozessen. Es macht den Kern von Freiheit aus. Auf dieses Nein folgt jedoch unweigerlich die Frage: aber wie weiter, wie anders?
In der Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie schrieb Karl Marx: „Die Produktion produciert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand.“ Deshalb ist es von hoher Bedeutung, dass wir selbst, die Kritiker, Wirtschaft als das sehen, was sie künftig wieder sein muss: als Teil der Gesellschaft, der dieser dient. Wir müssen überlegen, wie die Debatte zu führen ist, und wie sie gemeinsam geführt werden kann. Wenn Gewerkschaften über die möglichen Arbeitsplatzverluste in Folge der Durch-Digitalisierung, über das Entstehen neuer hochqualifizierter Jobs und höherer Löhne reden, wenn getrennt Stadtplaner sich Gedanken machen, wie Internethandel mit gravierenden Folgen für Einzelhandel und Geschäftsleben unser öffentliches Stadtleben verändert, wenn Datenschützer sich um die Entwicklung zur Kontrollgesellschaft, Sicherheitsexperten sich um die wachsenden Hacker-Gefahren und Sozialpsychologen um die zur Selbstdisziplinierungs-Gesellschaft sorgen, dann lassen wir uns die anstehende Umwälzung so sehr in Einzelteile zerlegen, dass uns Gefühl und Wissen um die Brisanz des großen Ganzen, das da ansteht, verloren geht.
Denn mit der Digitalisierung steht die alte Grundfrage auf`s Neue direkt vor unserer Haustüre: Wer formt wen? Die Menschen ihre Werkzeuge oder diese ihre Menschen?
Wolfgang Storz/ND[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]