Ein politisches Erdbeben – nicht nur für die SPD
Es ist nicht nur ein Schock für die SPD, es ist ein Erdbeben in der politischen Landschaft: Auch wenn es sich „nur“ um eine Umfrage handelt, so muss die Nachricht für die Sozialdemokratie ein schwerer Schlag gewesen sein. Mittlerweile könnte die altgediente Partei nur noch auf Platz drei hinter der AfD abrutschen, wenn man den aktuellen Zahlen glaubt. Und zweifelsfrei ist das Stimmungsbild der letzten Tage und Wochen authentisch: Der Zulauf in die rechtspopulistische Ecke, er nimmt immer neue Züge an – von den angeblich „Abgehängten“ über die Protestwähler bis hin zu eingesessenen Rechtsradikalen, die auf Deutschlands Straßen Angst und Schrecken verbreiten.
Ist der Trend denn nun ein Armutszeugnis für die SPD – oder ein Achtungserfolg für die AfD? Letztlich wohl beides. Die Sozialdemokraten, die sich bis heute schwer damit tun, ob die neuerlich eingegangene Große Koalition der richtige Weg war – und die „Alternative für Deutschland“, der man nicht nur im Osten Deutschlands zumindest eher zutraut, die Fragen der Menschen ernst zu nehmen. Eine Blamage für die „etablierten“ Parteien, denn kurz vor den Landtagswahlen schwächelt auch die Union in ungeahnten Ausmaßen, droht dem Land ein Rechtsrutsch, den es seit mehreren Jahrzehnten nicht erlebt hat.
Mut zur Wahrheit
Und die Bürger scheinen mit ihrer Kritik an den Volksparteien wohl nicht ganz unrecht zu haben: Es geht nicht in erster Linie um Chemnitz, um eine Straftat, die gleichsam von einem Deutschen hätte begangen werden können, und anschließend für weitaus weniger Aufregung gesorgt hätte – wenngleich jeder Gewaltakt dieser Art seiner eindeutigen, rechtsstaatlichen Antwort bedarf. Vielmehr geht es darum, ob CDU/CSU, aber eben vor allem auch die SPD taub ist für die Rufe einer wachsenden Mehrheit, von der mindestens eine unverkennbare Menge nicht zu den Pöblern und „Wutbürgern“ gehört, die vom Staat wohl rein gar nichts mehr erwarten.
Es sind Menschen, die nicht wegen des Flüchtlings von nebenan um ihre Rente bangen müssen. Leere Versprechungen des sozialdemokratischen Finanzministers helfen nicht weiter, wenn es um die Alterssicherung der kommenden Jahrzehnte geht. Es fehlt eine glaubwürdige Antwort darauf, wie heute und vor allem morgen die Altersarmut in Deutschland in den Griff bekommen werden kann. „Die Rente ist sicher“, solchen Slogans traut der immer besser informierte Deutsche heute kaum noch. Da braucht es viel eher Mut zur Wahrheit: Ohne einen harten Einschnitt ins System werden wir in Teufels Küche kommen mit unserem derzeitigen Rentensystem.
Gefangenschaft des Nichtstuns
Solch klare Aussagen erwarten die Menschen. Doch mehr als die Hoffnungen des Olaf Scholz kann die SPD kaum bieten. Und genau das nimmt Deutschland der Sozialdemokratie übel. Gefangen in einem Käfig der Unionsparteien, ist die SPD darauf angewiesen, den nichtssagenden Kurs einer Kanzlerin, die ihre politisch besten Jahre mittlerweile weit hinter sich hat, mitzutragen. Sie kann gar nicht ausbrechen aus der Gefangenschaft des Nichtstuns, doch sie hätte die Chance gehabt, bereits früher von diesem Kurs abzubiegen. Nach den „Hartz“-Gesetzen und vielen weiteren, zumeist kleineren Fehltritten, war es ein großes Wagnis, sich auf die staatsmännische Erpressung hin zu einer weiteren „GroKo“ einzulassen.
Aber es ist nicht nur die Rente: Täglich hören wir Meldungen in den Medien, die eine sozialdemokratische Seele nicht nur aufschrecken, sondern kalt erstarren lassen müssten. Immer mehr Bundesbürger können ihre Miete nicht zahlen – sofern sie denn überhaupt eine adäquate Unterkunft für sich gefunden haben. Das Sommerloch half auch nicht weiter, denn es wurde noch stiller um die drängenden Fragen der Zeit, die so gar nichts mit der Migration nach Deutschland zu tun haben. Und doch profitiert vor allem diese Partei, die mit Ressentiments Stimmung macht: Die AfD ist Nutznießer eines Schweigens der SPD – und damit dürfen uns die 17 % für die „Alternativen“ auch nicht überraschen.
Man mag sich fragen, wie laut das Geschrei auf der Straße noch werden muss, damit die Koalitionäre in Berlin endlich aufmerken. An Themen mangelt es nicht, an Antworten aber sehr wohl. Flüchtlinge in Deutschland werden zu Opfern der Untätigkeit von Union und SPD – eine groteske Entwicklung. Besonders ärgerlich ist dabei, dass eine Vielzahl an Deutschen offenbar nicht bereit ist, den Sündenbock tatsächlich beim Namen zu nennen. Nein, der Asylsuchende aus Syrien ist lediglich der Verlierer einer Projektion, weil es wohl einfacher scheint, den Schwächsten für etwas verantwortlich zu machen, was die Arroganz der „Großparteien“ einfach abweist: Was eigentlich den Regierenden gebührt, wird auf dem Rücken der Migranten ausgetragen.
Der Populismus trägt den Zorn nach außen
Wo bleiben nun die konkreten Einlassungen zu den Ungerechtigkeiten im Land? Nein, die AfD liefert keine Konzepte. Doch das verlangt auch niemand vom Populismus, der lediglich den Zorn der Bevölkerung nach außen trägt. Dass die Löhne in Deutschland besonders im Niedriglohnsektor nicht steigen. Dass die Langzeitarbeitslosen sich auch weiterhin nur „verwaltet“ vorkommen und keine Chance auf Rückkehr ins Arbeitsleben sehen. Dass der ALG II-Empfänger sich bei Nichtigkeiten mit Sanktionen herumschlagen muss, obwohl er bereits mit dem Überleben zu kämpfen hat. Und dass die Pflege in Deutschland viel mehr Personal braucht, als ein Minister ermessen kann – und niemand weiß, wie man das alles bezahlen oder organisieren soll.
Ja, das klingt nach Linkspopulismus. Und nicht umsonst hat „Aufstehen“ dieser Tage eine große Resonanz erlebt. Markige Worte, die die Wahrheit beschreiben, ich weiß nicht, ob sie die SPD eher wachrütteln können als die 16 %, die ihr in der neuesten Umfrage beschert werden. Mit einem Gegengewicht an Stimmung, vor allem aber mit korrekten Zusammenhängen können wir als linke Opposition zumindest dafür sorgen, dass die AfD mit ihren nichtssagenden Anschuldigungen an Flüchtlinge in diesem Land kein Oberwasser gewinnt. Wahrheiten, die nach Lösungen suchen, sie prallen ab an der Regierung dieses Landes, von der ich selbst nicht mehr allzu viel erwarte – und weshalb ich es für dringend erachte, dass sich links der Mitte tatsächlich ein Bündnis der Objektiven sammelt.
Naivität der „Volksparteien“
Und gleichzeitig bange ich mit der SPD, denn ihr schleichender Untergang der letzten Monate und Jahre ist auch ein Verlust an mittiger Stabilität. Umso mehr müssen sich heute die Kräfte von links anstrengen, um dem Gebrüll des nationalistischen Mobs entgegenzuhalten. Wir wären heute an anderer Stelle in unserer Diskussion um die Zukunft Deutschlands, hätten die etablierten Parteien viel früher Feingefühl gezeigt für das, was die Menschen bewegt. Besonders den Sozialdemokraten kreiden viele enttäuschte Bürger ihr Unvermögen an, sich nicht um die Alten, Schwachen, Kleinbürger gekümmert zu haben. Und sie haben recht – denn mittlerweile erreichen die Probleme auch die Mittelschicht, diejenigen, die für die SPD eine sichere Wählerklientel waren.
Heute braucht es ein gravierendes Umdenken der beiden „Volksparteien“. Die CDU, die zumindest in Sachsen bewiesen hat, dass sie es mit Rechts nicht ganz so genau nimmt. Die SPD, die für ihre selbst bescherte Handlungsunfähigkeit abgestraft wird. Eigentlich zwei hoffnungslose Fälle, denen man nicht einmal attestieren kann, lernfähig zu sein. Denn in Deutschland rumort es nicht erst seit gestern. In Zeiten, in denen die Zivilgesellschaft auf die Barrikaden geht, braucht es eine gehörige Portion an Naivität, um nicht zu begreifen, dass man auf dem falschen – respektive: auf gar keinem Kurs mehr ist. Vielleicht können die nächsten Wahlen das Ruder noch herumreißen. Es wäre uns zu wünschen, vor allem aber den echten Verlierern unserer Gesellschaft, die jeden Tag neu an die Grenzen ihrer Existenz stoßen …
Dennis Riehle