Eitle Hennen- und Hahnenkämpfe
Die Frage, wer das Gedicht „The hill we climb“ übersetzen darf, das die afroamerikanische Junglyrikerin Amanda Gorman zur Amtseinführung des US-Präsidenten Joe Biden am 20. Januar dieses Jahres verfasste und vortrug, hat auch im deutschsprachigen Raum eine Debatte über Kultur und kulturelle Identität entfacht, die Jochen Kelter für die Zukunft wenig Gutes ahnen lässt. Der Schriftsteller macht sich so seine Gedanken zu Debatten über „Politische Korrektheit“ in der Kulturszene.
Im puritanischen Amerika ist es schon länger gang und gäbe: An Elite-Universitäten wie Berkeley oder Harvard ist die Beschäftigung mit antiker Literatur von einem Sicherheitszaun und der Hinweistafel eingehegt, auf der darauf hingewiesen wird, man möge das Gelände nicht ohne Anleitung einer/s fachkundigen Dozenten/in betreten: Die griechischen und lateinischen Dramen und Epen steckten voller physischer und sexueller Gewalt. Die deutsche Latinistin Melanie Möller schreibt dazu, wer Literatur und Leben nicht auseinanderhalten könne, solle auf Literatur am besten verzichten. Ich würde hinzufügen: und gleich auch auf das Leben.
Just in der dritten Pandemiewelle hat das lang überwunden geglaubte viktorianische Zeitalter indessen auch hiesige Breiten heimgesucht. Da haben sich ein paar Dutzend Schauspieler/innen erdreistet, die Corona-Politik der deutschen Regierung und der Bundesländer mit Spott und sanfter Häme zu überziehen. Blitzartig ergossen sich Kübel von Kritik über die Waghalsigen. So etwas dürfe man sich in der augenblicklichen Lage doch wohl keineswegs erlauben. Einige der so Gescholtenen zogen augenblicklich den Schwanz ein und ihr Video aus dem Verkehr. Aber nicht alle. Der Schauspieler Ulrich Tukur etwa gab zu Protokoll, wenn man diese Art von satirischer Kritik nicht mehr äußern könne, sei es um die Meinungsfreiheit übel bestellt. Wohl wahr. Zumal sich die meisten Medien selber gleichgeschaltet haben (‚Wir haben keine Meinung ausser der Meinung der lauten Mehrheit‘).
Die zwanzigjährige afroamerikanische Junglyrikerin Amanda Gorman hat zur Amtseinführung des US-Präsidenten Joe Biden am 20. Januar dieses Jahres das Gedicht „The hill we climb“ verfasst. Eine Art optimistischer Hymne auf den Glauben an die Stärke Amerikas. Das mag ihrem Alter oder ihrer grenzenlosen Zuversicht geschuldet sein, und etwas anderes wäre zu diesem Anlass wohl fehl am Platz gewesen. Nun soll dieses Gedicht von Gorman (und nicht nur dieses) in zahlreiche Sprachen übersetzt werden. Und schon ging’s los, identitäre Kulturbewegung beherrschte alsbald die Szene. Kann ein männlicher Übersetzer, eine weiße Übersetzerin oder eben doch nur eine Schwarze diesen Text adäquat in eine andere Sprache übertragen? Sprachlich-kulturelle Kenntnisse, linguistisches Wissen, Erfahrung im Umgang mit Literatur? Fehlanzeige. Es ging einzig um die (höchst fragliche) Fähigkeit zur ‚rassischen‘ Identifikation. Zu etwa der gleichen Zeit brach in unseren Gefilden ein verwandter Streit darüber los, ob ein heterosexueller Schauspieler in der Lage sei, einen schwulen Mann zu spielen. Schauspielerisches Können, Erfahrung, Talent? Auch in diesem Fall nicht gefragt.
Und das alles ist nur die Spitze des Eisbergs. Mangelnde Empathiefähigkeit für Schwule, Lesben, Schwarze, Andersfarbige und Fremde werden in den sogenannt gebildeten und aufgeklärten Kreisen derzeit nicht sonderlich geschätzt. Wenn die derzeitige Pandemie einmal an ihr Ende kommen sollte, werden andere Tugenden gefragt sein: Soziale Empathie und Wehrhaftigkeit. Wenn die milliardenschweren Haushaltslöcher der Staaten gestopft werden müssen, wird die soziale Kluft noch weiter wachsen, werden nicht die mit Forschungs- und Produktionsgeldern zugeschütteten Pharmaunternehmen oder die börsenkotierten Konzerne zur Kasse gebeten, sondern wie stets noch Otto Normalverbraucher. Ob der dann die so soziale Konfrontation nicht scheuen wird, bleibt abzuwarten. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.
Jochen Kelter (Bild von Katzenspielzeug auf Pixabay)