Ende der Harmonie zwischen Kirchen und Politik

Führende Protestanten fordern ein neues Sozialwort der Kirchen. Zu Recht – wenn die Basis es schreibt. Und das wäre gut so. Denn wann wollen sich Christen in den Kirchen zu Wort melden, wenn nicht jetzt – da die Menschen tief verunsichert sind und Politik und Gesellschaft vor tiefgreifenden Weichenstellungen stehen?

Dass dies so ist, dämmert inzwischen auch vielen Etablierten. Auch sie fragen: Wie soll es eigentlich in einer deutschen Gesellschaft weitergehen, in der die Vermögenden immer vermögender und die Armen immer ärmer und dazu noch verachtet werden? Gibt es noch so etwas wie Solidarität? Ist sie überhaupt noch erwünscht, wo doch höhere Bildung weiter vom Geldbeutel der Eltern abhängt?

Wie steht es um eine Arbeitsgesellschaft, in der es immer weniger Arbeitsplätze gibt, aber immer mehr zu tun? Welche Zukunft hat eine kapitalistische Wirtschaft, die möglichst viel Wachstum braucht, aber zunehmend an die Grenzen des Wachstums stößt? Wie geht es weiter mit einer Welt, in der die Dollarmillionäre ihren Wohlstand zwischen
1995 und 2005 um 24000 Milliarden Dollar gesteigert haben? Dieser     Wohlstandszuwachs ist dreißigmal höher als die gesamte Entwicklungshilfe, die alle Industrieländer in diesen zehn Jahren gewährt haben. Welche Perspektive hat eine
Welt, die in Ungerechtigkeit versackt – obwohl es genug Geld gibt, um alle Menschheitsprobleme zu lösen, die mit Geld zu lösen sind?

Wenig Lust auf Streit mit den Mächtigen

Angesichts dieser Entwicklung sind die Christen gefordert. Zweifelsohne gab und gibt es immer wieder mutige Äußerungen aus den Reihen der Kirchen. Andererseits sind die Kirchenspitzen in ihrer Mehrheit überaus vorsichtig. Die katholischen Bischöfe wettern zwar regelmäßig gegen den „primitiven Kapitalismus“, so der Münchner Reinhard Marx,
doch letztlich ist ihre Harmoniesucht größer als die Lust am Streit mit den Mächtigen.

Die evangelische Kirche praktiziert an der Spitze sogar einen Zickzack-Kurs. Früher eher als SPD-nahe Kirche verschrien, nutzten einige Spitzenleute das Reformpapier  ‚Kirche der Freiheit‘, um die Kirche an die Seite der Wirtschaftsliberalen zu rücken. Ein Ergebnis dieses Prozesses war die EKD-Denkschrift „Unternehmerisches Handeln in
evangelischer Perspektive“ vom Spätsommer 2008. Darin äußerte die zuständige EKD-Kammer großes Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes – sechs Wochen, bevor die Finanzkrise genau diese angeblichen Selbstheilungskräfte als Märchen entlarvte.

Der Wind in der evangelischen Kirche hat sich gedreht

Erst eine Kampagne gegen diese Denkschrift löste in der Kirche eine kritische Diskussion über die kapitalistische Wirtschaft aus. In einem Brief an die Urheber der Kampagne, die Theologie-Professoren Ulrich Duchrow und Franz Segbers, räumt die EKD vorsichtig ein, dass sich die Unternehmerdenkschrift „nicht deutlich genug vom sogenannten Neoliberalismus in der Wirtschaft distanziert“. Inzwischen hat sich der Wind in der
evangelischen Kirche gedreht. Im Juni vergangenen Jahres gab die evangelische Kirche den Text „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“ zur Wirtschafts- und Finanzkrise heraus. Darin gehen die Autorinnen und Autoren deutlich kritischer an die soziale und wirtschaftliche Realität heran als jene der Unternehmerdenkschrift. Ein Sozialwort der Kirchen könnte die Diskussion über  die Zukunft Deutschlands, aber auch der Welt deutlich beleben.

Prophetisch wird dieses Sozialwort allerdings nur, wenn es nicht von angeblichen Expertinnen und Experten in Hinterzimmern ausgearbeitet und dann nach den verschiedenen Interessen austariert wird. Stattdessen braucht es – wie vor dem Sozialwort 1997 – engagierte Diskussionen möglichst vieler Christen und Nichtchristen, deren Ergebnisse dann das Sozialwort prägen. Damit könnten die Kirchen zwei Ziele auf einmal erreichen: Die Regierenden müssten sich provokativen Forderungen stellen. Zugleich könnten die Diskussionen auf allen Ebenen viele Menschen aus jener
Resignation reißen, mit der sie der Politik heute begegnen. Die Demokratie ginge wieder vom Volke aus.

Unterstützung für ein neues Sozialwort

Nikolaus Schneider warf den ersten Stein. Nach Meinung des stellvertretenden Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland sollen die beiden großen Kirchen ‚erneut ein großes gemeinsames Wort zur sozialen Frage‘. erarbeiten. Der Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Alfred Buß, und sein Kollege von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Volker Jung, unterstützen Schneiders Vorstoß. Das letzte gemeinsame Sozialwort der großen Kirchen erschien 1997.

Foto: © Kassens Heiner/ PIXELIO
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Autor: Wolfgang Kessler/Publik Forum