Gedenken – tiefergelegt
Gerade wurde sie im „Südkurier“ vorgestellt: Miss Tuning, die Protagonistin des „Miss-Tuning-Kalenders 2014“. Sie ist stolz auf ihren Titel, und ihr Urteil über ihr Produkt wird so zitiert: Der Kalender sei sehr edel geworden, nicht billig, sehr ästhetisch, „Arztpraxis-fähig“. Riskieren wir also einen Blick: Man muss nicht durch die Schule des „Old-school-Feminismus“ gegangen sein, damit einem doch die eine oder andere Anbietpose auffällt
Spätestens beim Bild zum schönen Monat Mai aber beginnt es zu flimmern vor den Augen des Betrachters: Zwar erkennt man die Dame, auch das Auto ist unschwer als solches auszumachen, was aber sind das für seltsame Metall-Stelen, die da aus dem wabernden Dunst auftauchen? Sind es die Abgasschwaden des laufenden Motors, die der Szene im Gegenlicht einen dramatischen Anstrich geben sollen?
Die Bildunterschrift erklärt es: Es handelt sich um das nationale Denkmal (memorial 1956) in Budapest, das an die beim Ungarnaufstand 1956 getöteten Patrioten erinnert. Sancta simplicitas. Ist es schlicht die Unschuld der Ignoranz, die die „Zwanglosigkeit“ der Szene ermöglicht? Oder ist da die Gedenkkultur im wahrsten Sinne des Wortes da angekommen, wo sie ja immer hin will: im Alltag?
Auf jeden Fall wird durch die schräge Konstellation das Gedenken tiefergelegt – tieferlegen ist ja das erste, was man in der Tuningszene mit der Karre macht. Tieferlegung im Sinne von Runterholen des Gedenkens vom Sockel sakrosankter Feierlichkeit. Bitte keine Einwände wie: „Das kann doch bestimmt keine wichtige Sache (mehr) sein für die Ungarn, um was es da geht.“ Weit gefehlt: Gerade dem heutigen Ungarn sind seine toten Söhne und Töchter von `56 so viel wert wie nie, mindestens genau soviel wie dem heutigen Deutschland „seine“ Juden (die toten natürlich).
Es ist schon merkwürdig: Während hierzulande eine Debatte um das „richtige“ Gedenken an unsere schlimme Geschichte erst gar nicht in Gang kommen will, weil sofort die Wellen des Beleidigtseins hoch gehen bei den Gralshütern des allein seelig machenden Weges, sobald allein nur die Frage danach gestellt wird, reist da eine sehr blonde deutsche junge Dame nach Budapest, um dort vor „pittoresken“ Hintergründen, wichtigen Objekten im öffentlichen Raum, zu posieren. Und zu denen, da kann man nicht widersprechen, gehört memorial 1956 allemal.
„Sie ist stolz auf ihren Titel“.In aller Unschuld. Anlass zur Empörung, oder eine erfrischend neue Sicht auf die Dinge? Sollte sich letztere durchsetzen: Wer weiß, wann wir hier in Konstanz eines Tages neue, tolle Autos vorgeführt bekommen vor dem Hintergrund des Obelisken in der Sigismundstraße vor der Dreifaltigkeitskirche – das Ganze „verschärft“ von einer pikanten Ungarin.
PS: Wer ihn nun haben will, den tollen Miss-Tuning-Kalender, der macht mit beim Gewinnspiel im „Südkurier“. Muss aber nicht sein.
Autor: Christoph Linge