Gegen Corona-Demos und Fake-News – Für eine differenzierte Kritik an der Regierungspolitik

Wir leben in einem Land, in welchem man während einer Pandemie mit einem Schild voller Blödsinn dicht gedrängt mit tausenden weiteren Quergeistern frei demonstrieren kann und welches man dennoch lauthals als Diktatur bezeichnen darf. Das ist großartig. Man sollte da aber trotzdem nicht mitmachen. Unter anderem, damit das Land so frei bleibt wie es ist.

Seit zwei Monaten müssen wir mit den Einschränkungen durch die Corona-Maßnahmen leben. Einschränkungen, die im Vergleich zu dem Lockdown in vielen anderen EU-Staaten milde sind und dennoch schmerzen. Diese zwei Monate sind zahlreichen „eigentlich doch vernünftigen“ Menschen, darunter auch mehrere Freund*innen von mir, Grund genug, um der Regierung grundsätzlich das Vertrauen zu entziehen, Fake-News zu verbreiten und teilweise sogar gemeinsam mit Nazis und Verschwörungstheoretiker*innen an Demos gegen die Corona-Maßnahmen teilzunehmen. Meine Generation ist hier alles in allem in kunterbunter Freiheit aufgewachsen. Ich hätte nie gedacht, dass schon eine kurze Einschränkung dieser Freiheit reicht, damit einige demokratieverwöhnte Menschen sich auf eine Weise politisieren, die genau diese Demokratie gefährdet.

Die Corona-Demos und wer daraus Nutzen zieht

Auch am vergangenen Wochenende sind wieder in einigen deutschen Städten „Corona-Demos“ mit mehreren tausend Teilnehmer*innen veranstaltet worden. Glücklicherweise hat die Polizei aus den Fehlern der vorherigen Woche gelernt und die Einhaltung der Abstandregeln strenger durchgesetzt (1). Hier demonstrieren unter anderem stramme Nazis und Verschwörungstheoretiker*innen, für deren Fantasie jede*r Science-Fiction-Autor*in literweise Kinderblut trinken würde. (Wer die Anspielung nicht versteht, hat alles richtig gemacht.) Den Großteil der Demonstrant*innen würde man wohl zu Unrecht einer dieser beiden Gruppen zuordnen. Es sind „normale“ Leute, die mit der Corona-Politik nicht einverstanden sind, nicht wenige auch mit grün-ökologischen Überzeugungen. Sie lassen sich weder von der Ansteckungsgefahr der andauernden Pandemie noch von den unsympathischen bis brandgefährlichen Mitdemonstrant*innen von Versammlungen mit tausenden Menschen abhalten. Zwar identifizieren sie die schrägsten Verschwörungstheorien als eben solche, der Mythos „Impfpflicht“ hält sich aber beispielsweise weiterhin zäh. Auch wenn selbst Bundestagsabgeordnete der Oppositionsparteien beteuern, dass eine solche Impfpflicht nicht in Vorbereitung ist. Auch das Kanzleramt stellt klar, dass es eine Pflicht für Corona-Impfungen nicht geben wird (2).

Der März hielt noch die Hoffnung bereit, dass die Ausbreitung des Virus mit einem Rückgang der Unterstützung für rechtspopulistische Parteien einhergehe. Diese haben keine Antworten auf die Pandemie und stellen dies in Ländern mit eigener Regierungsverantwortung, etwa den USA oder Brasilien, tatkräftig unter Beweis. Die Unterstützung für strenge Freiheitseinschränkungen durch demokratische Akteure, welche sich eng mit Wissenschaftler*innen abstimmten, war zunächst groß. Man muss betonen: Diese Situation hat sich nicht grundlegend verändert. Immer noch unterstützt eine klare Mehrheit die Corona-Politik. Das ZDF-Politikbarometer vom 15. Mai zeigt, dass nur 17% der Bevölkerung die staatlichen Corona-Maßnahmen als übertrieben betrachtet und lediglich 19% eine dauerhafte Einschränkung der Grundrechte befürchtet. Eine Mehrheit von 81% lehnt die „Corona-Proteste“ ab (3). Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass der Anteil der Gegner*innen hier in Konstanz größer ist, da viele Menschen direkt von den Grenzschließungen betroffen sind. Wissenschaftliche Untersuchungen über den Hintergrund der Demonstrationsteilnehmer*innen sind mir noch nicht bekannt. Mir fällt aber auf, dass einige Menschen in meinem persönlichen Umfeld der Regierung massiv misstrauen und sich zum Teil auch an den Protesten beteiligen. Das war bei der letzten vergleichsweise großen Herausforderung für unsere Demokratie, die Reaktion auf die Aufnahme der Geflüchteten im Jahr 2015, nicht der Fall.

Es ist leicht, sich im Rahmen von Corona als „kritischer Geist“ zu gefallen. Jede*r findet bei der Vielzahl der politischen Maßnahmen Ungerechtigkeiten. Schwieriger ist es, die Wirkung des eigenen politischen Handelns kritisch zu hinterfragen. Welche politische Richtung zieht daraus Nutzen? Mit welchen Menschen macht man sich gemein? Welche Folgen hat die Teilnahme an einer Corona-Demo für unsere Gesellschaft? Antidemokratische Kräfte nutzen die Proteste für ihre Zwecke. Viele der Verschwörungstheorien entstammen der rechten Szene (4). Nach Erkenntnissen von Verfassungsschutz und BKA versuchen rechtsextremistische Gruppen die Proteste zu unterwandern (5). Klar kann man sagen: „Nur weil ein paar Nazis kommen, lasse ich mir nicht mein Demonstrationsrecht nehmen“. Man nimmt dann aber in Kauf, dass man rechte Gruppen durch die eigene Teilnahme unterstützt. Dass Krisen zu schlimmen politischen Machtverschiebungen führen können, sollten wir in diesem Land am besten wissen.

Kritik an den Corona-Maßnahmen

Selbstverständlich finde auch ich einige Corona-Maßnahmen schlecht. Nochmal: Wie sollte das bei der Vielzahl der Maßnahmen auch anders sein?

Am stärksten ärgere ich mich über den Vorschlag einer Autokaufprämie, welche sogar von meinem Parteikollegen, dem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, unterstützt wird (6). An diesem Vorschlag ist einiges falsch. Andere Länder beschließen ein zeitnahes Ende für den Verbrennungsmotor (Norwegen im Jahr 2025, Schweden, Dänemark, Island, Irland, die Niederlande, Slowenien und Israel im Jahr 2030) und hier soll der Kauf von neuen Autos, Verbrennern eingeschlossen, sogar gefördert werden (7). Nicht nur ökologisch, sondern auch sozialpolitisch ist die Idee schlecht: Während sich manche Menschen bewusst kein Auto kaufen wollen, gibt es andere, die dies auch trotz Prämie finanziell nicht können. Die Prämie würde also überwiegend finanziell gut gestellten Personen zugutekommen, die ein eigenes Auto besitzen wollen. Durch Corona werden andere Branchen stärker getroffen: Autos, die jetzt nicht gekauft wurden, können in den nächsten Monaten „nachgekauft“ werden. Von diesem Glück können andere Branchen (Kultur, Gastronomie, Tourismus oder auch die begehrten Friseur*innen) nicht profitieren. Wer wegen Corona zweimal Theater und viermal Konzert verpasst hat, wird diese Vorstellungen nicht zusätzlich nach der Krise besuchen. Eine Bevorzugung der Autobranche ist daher ungerecht.

Ein weiteres Beispiel: Für die Lufthansa werden Staatshilfen von 10 Milliarden Euro diskutiert (8). CDU und CSU wollen diese nicht an Bedingungen knüpfen, die SPD zögert. Warum einem Konzern, der Tochterfirmen in Steueroasen bemuttert, um selbst weniger Steuern zahlen zu müssen, nun mit Steuergeld bedingungslos unter die Arme gegriffen werden soll, erschließt sich mir nicht (9). Frankreich zeigt wie‘s geht: Air France wird mit sieben Milliarden Euro unterstützt. Im Gegenzug gelten Umweltauflagen: So darf der Konzern beispielsweise keine Kurzstreckenflüge mehr anbieten, wenn die Bahn für dieselbe Strecke weniger als 2,5 Stunden benötigt (10). Dass es nicht geht, wenn unterstützte Unternehmen weiterhin mit Boni & Dividenden um sich werfen, sollte selbstverständlich sein. Es ist schrecklich, welche geringe Rolle der Klimaschutz gegenwärtig spielt. Eine Verknüpfung der gigantischen Staatszahlungen mit Klimaschutz-Bedingungen ist eine historische Chance, welche gerade vergeben wird.

Auch die Hängepartie bezüglich der Corona-App regt mich auf. Viel zu viel wichtige Zeit wurde verspielt, indem die Regierung bis Ende April mit dem zentralen, und damit dem aufgrund des ungenügenden Datenschutzes falschen App-Ansatz liebäugelte. Nun ist endlich die Entscheidung für die dezentrale App da. Bis zur Veröffentlichung wird es aber noch einige Wochen dauern. Wenn man bedenkt, dass der Regierung seit spätestens Anfang März das Ausmaß der Pandemie bewusst ist, ist dieses lange Warten schwer zu rechtfertigen und sagt einiges über den Stand und die Wertschätzung der Digitalisierung aus. Der Chaos Computer Club (CCC) hat zehn Kriterien für die App definiert, etwa die freiwillige Nutzung und einen einsehbaren Quellcode (11). In einem interessanten Interview spricht Constanze Kurz, Mitglied des CCC, über das Potenzial der App. Diese solle nicht als Allheilmittel betrachtet werden, könne aber eine wichtige Hilfe zur Eindämmung der Pandemie leisten. Wenn die App den Kriterien des CCC entsprechend auf den Markt kommt, würde Kurz sie im Sinne der Solidarität nutzen (12). Das würde ich auch machen.

Selbstverständlich kann auch die Grenzpolitik kritisiert werden. In kitschig-plakativer Zuspitzung zeigt sich die unangemessene Bevorzugung der wirtschaftlichen gegenüber den sozialen Interessen in meiner Konstanzer WG: Mein Mitbewohner darf mehrmals wöchentlich fröhlich die Grenze passieren, um von Zürich aus Bankkund*innen telefonisch zu Vermögensberatungsgesprächen einzuladen. Zeitgleich stand meine Mitbewohnerin über Wochen täglich mehrere Stunden an der Grenze, um sich durch die beiden Zäune hindurch mit einem Freund aus Kreuzlingen anzuschmachten. Während die Bankkundschaft den Beratungsofferten meines Mitbewohners, wohl der Krise geschuldet, nur geringes Interesse entgegenbringt, wartete das Zaunpärchen sehnsüchtig darauf, sich endlich besuchen zu dürfen. Den hoffnungsvollen Signalen aus Berlin zum Trotz, war der Grenzübertritt für sie aber lange nicht möglich. Das vergangene Wochenende hat nun endlich eine späte Wende gebracht. Ich finde es falsch, dass sich Familienmitglieder oder Paare so lange nicht besuchen durften, während für den beruflichen Grenzübertritt von Beginn an sehr großzügige Ausnahmen galten.

Ich könnte einige weitere Kritikpunkte nennen, etwa die harten Personenbeschränkungen bei Beerdigungen, die mangelnde europäische Solidarität Deutschlands (die Hälfte der bewilligten EU-Corona-Hilfen kommt der Bundesrepublik zugute, obwohl andere Länder stärker betroffen sind (13)) oder die Notsituation in der Kinderbetreuung, welche die Gefahr eines Rückschrittes in der Gleichstellung von Frau und Mann birgt, da es vor allem Frauen sind, die für ihr Kinder nun beruflich zurückstecken.

Ein differenzierter Ausdruck der Kritik ist schwierig

Auch ich verstehe also, dass es Anlass zur Kritik gibt. Eine unangemessene Einschränkung der Grundrechte sehe ich aber nicht. Es ist gut, dass die Demonstrationsfreiheit schnell wieder ermöglicht wurde und dass die Corona-App dezentral und freiwillig gestaltet werden soll. Ich verstehe, dass es in der populistisch aufgeladenen Situation nicht einfach ist, einen guten Weg zu finden, um differenzierte Kritik zu äußern. Sich auf Demonstrationen zu begeben, die dominiert werden von Verschwörungstheoretiker*innen und Nazis, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, und diese spielt für die Instrumentalisierung der einzelnen Teilnehmer*innen die entscheidende Rolle, ist aber definitiv der falsche Weg! Gleiches gilt für eine pauschale Ablehnung der Regierungspolitik und die Verbreitung von Fake-News (z.B. Impfpflicht). All diese Reaktionen offenbaren eine erschreckende Instabilität im demokratischen Denken dieser Menschen. Ja, es ist wichtig kritisch zu sein, sowohl gegenüber den Regierungsmaßnahmen als auch gegenüber Mythen wie der Impfpflicht. Kritik soll geäußert werden, aber in differenzierter Form und in strikter Abgrenzung von antidemokratischen Gruppen. Ich denke, dass dies auf keiner der Corona-Demos möglich ist, die sich pauschal gegen die Regierungspolitik wenden. Auch nicht auf den Konstanzer Demonstrationen, welche gerade an vielen Orten in der Stadt beworben werden. Das Ausmaß dieser Proteste ist zwar deutlich kleiner als in den Großstädten, dass aber auch hier wirre Vermutungen verbreitet werden, ist im seemoz dokumentiert (14). Daher nutze ich andere Wege für meine Kritik, etwa diesen Text.

Auch ich habe Bock auf mehr Freiheiten für mich. Macht nicht kaputt, wofür wir diese in den letzten Wochen eingeschränkt haben. Und vor allem: Sägt nicht an unserer solidarischen und demokratischen Gesellschaft! Geht den Nazis und Verschwörungstheoretiker*innen nicht auf den Leim! Und verdammt, schaut mal in andere Länder! Wir hatten hier vergleichsweise milde Einschränkungen und trotzdem wenig Infizierte und Tote. Ich bin dankbar dafür. Es überrascht nicht, dass aus dem Ausland mit Verwunderung auf die Proteste in Deutschland geblickt wird (15, 16). Die Politik befindet sich in einer misslichen Lage: Wäre die bisherige Infektionsentwicklung nicht so glücklich verlaufen, würden sich wohl einige der Corona-Demonstrant*innen über Regierungsversäumnisse aufgrund zu geringer Maßnahmen beschweren.

Lasst uns unsere Freiheit wertschätzen und gegen antidemokratische Kräfte verteidigen, damit man auch in Zukunft das Recht hat, mit einem Schild voller Verschwörungstheorien uneingeschränkt auf Demos zu spazieren. Vielleicht wird man selbst ja mal komisch.

Samuel Hofer (Bild: privat)

Der Autor ist Mitglied im Kreisvorstand von Bündnis 90/Die Grünen Konstanz, Mitglied der Grünen Jugend Konstanz und Politikwissenschaftsstudierender.


Quellen:

  1. Stuttgarter Zeitung: Gegner der Corona-Maßnahmen demonstrieren auf dem Wasen (https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.corona-demo-in-stuttgart-gegner-der-corona-massnahmen-demonstrieren-auf-dem-wasen.79f6af4e-3a42-411c-85e8-e8591d809de8.html).
  2. Spiegel: Kanzleramt schließt Impfpflicht gegen Corona aus (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/kanzleramt-schliesst-impfpflicht-gegen-corona-aus-a-00f0354a-f131-43cb-8ed4-ca82a4e69f40).
  3. ZDF-Politikbarometer: Mehrheit für vollständige Grenzöffnung in EU (https://www.zdf.de/nachrichten/politik/politbarometer-coronavirus-grenzoeffnung-eu-100.html?slide=1587653856814).
  4. Spiegel: „Rechte Narrative dominieren die Proteste“ (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-proteste-rechte-narrative-dominieren-a-4179fb8c-18b9-4624-ac46-4a2dc5f09bb3?sara_ecid=soci_upd_wbMbjhOSvViISjc8RPU89NcCvtlFcJ).
  5. Tagesschau: „Rechtsextreme instrumentalisieren Proteste“ (https://www.tagesschau.de/inland/haldenwang-corona-demos-101.html).
  6. Süddeutsche Zeitung: Wer am lautesten schreit (https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/auto-praemie-2020-corona-1.4896316).
  7. Tagesschau: Norwegen gibt das Tempo vor (https://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbrennungsmotor-international-101.html).
  8. Spiegel: Der Insolvenz-Bluff der Lufthansa (https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/lufthansa-streit-um-staatshilfe-der-insolvenz-bluff-a-00000000-0002-0001-0000-000170716195).
  9. Tagesspiegel: Steueroasen und Staatshilfen – passt das zusammen? (https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/streit-um-bedingungen-fuer-corona-hilfen-steueroasen-und-staatshilfen-passt-das-zusammen/25827392.html).
  10. Aero: Regierung definiert Zielvorgaben für Air France (https://www.aero.de/news-35241/Air-France-soll-die-umweltfreundlichste-Airline-der-Welt-werden.html).
  11. Chaos Computer Club (CCC): 10 Prüfsteine für die Beurteilung von „Contact Tracing“-Apps (https://www.ccc.de/de/updates/2020/contact-tracing-requirements).
  12. Jung & Naiv: Constanze Kurz über die „Corona-App“ (http://www.jungundnaiv.de/2020/05/03/constanze-kurz-ueber-die-corona-app-folge-460).
  13. Süddeutsche Zeitung: Vestager sieht Bevorzugung Deutschlands bei Staatshilfen (https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/eu-corona-staatshilfen-margrethe-vestager-1.4911083).
  14. Seemoz: Ganz normale Wirrköpfe (https://archiv.seemoz.de/lokal_regional/ganz-normale-wirrkoepfe/).
  15. Le Monde: Coronavirus: les paradoxes du déconfinement en Allemagne (https://www.lemonde.fr/international/article/2020/05/12/coronavirus-les-paradoxes-du-deconfinement-allemand_6039407_3210.html).
  16. The Guardian: Fears grow in Germany of second wave of coronavirus infections (https://www.theguardian.com/world/2020/may/10/fears-rise-in-germany-over-second-wave-of-coronavirus-infections).