Geistige Dehnübungen
Ingrid Kurz-Scherf, feministische Marxistin an der Universität Marburg, staunte jüngst anlässlich einer Diskussion: Warum denn niemand das Naheliegende fordere, die griechischen Reeder zu enteignen und ihre Unternehmen von einem im öffentlichen Interesse arbeitenden Management effektiv führen zu lassen.
Keine Angst: Wer dies forderte, der müsste sich nicht als radikaler Linker outen, sondern lediglich des Verdachtes aussetzen, er sei ein wirtschaftlich vernünftig denkender europäischer Bürger, der das deutsche Grundgesetz noch kennt. Für die Jüngeren unter uns: Das ist ein heute altertümlich anmutendes Dokument, das im wirklichen Leben keine Rolle mehr spielt, weil in ihm Sätze stehen, die so unwirklich wie dieser klingen: „Eigentum verpflichtet“. Das Grundgesetz anerkennt das Institut des Privateigentums und die Freiheit, über es zu verfügen. Aber: Dieser Gebrauch dürfe im schlechtesten Fall dem Gemeinwohl nicht widersprechen, in der Regel müsse er ihm zugutekommen. Deshalb Grundgesetz, Artikel 14, Abs. 2: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Nun steht fest: Die Branche der Reeder (15 Prozent der weltweiten Handelsflotte) und weitere 2000 griechische Familien – die sich, heißt es, etwa 80 Prozent des Volksvermögens unter den Nagel gerissen haben – kaperten mit tatkräftiger Unterstützung der Parteifamilien Pasok und Nea Dimokratia, Schwesterparteien von SPD und CDU/CSU, das Land und plündern es bis heute aus; inbegriffen der Verelendung von Teilen der Bevölkerung.
Die deutsche Regierung exportiert gerne ihre Politik. Sie könnte ihre Strategie des Totsparens mal austauschen gegen das Rezept des Reeder-Enteignens. Das macht sie natürlich nicht. Merkwürdigerweise scheinen auch Regierungskreise in Athen viel lieber auf die nationale Karte zu setzen, wonach die Deutschen an allem schuld sind – so wird Politik eben, wenn sie mit Rechtsradikalen zusammen betrieben wird -, anstelle mit aller Kraft und Energie gegen die mächtigen Reichen im eigenen Land vorzugehen; und dafür die Hilfe der EU-Regierungen offensiv einzuklagen.
Wir haben doch alle Interesse daran, diesen Blutsauger-Familien – machte „Bild“ eine Kampagne gegen griechische Reiche, wäre dieses Koppel-Wort heißer Kandidat für die erste Headline – das Handwerk zu legen: Mit den EU-Rettungspaketen werden die aus der Verantwortung entlassen, und mit ihren Milliarden-Vermögen kaufen sie sich nicht nur in EU-Großstädten auf den Immobilienmärkten ein und treiben Mieten (auch in Berlin) in die Höhe, sondern liefern zudem ständig Treibstoff für spekulative Finanzmärkte.
Also gute Gründe en masse.
Können nicht unsere Medien diese schmerzliche Lücke beim Thema Reeder-Enteignen schließen? Leider, leider: Nein. Sie müssen leider absagen, mussten sie doch in diesen Monaten gleich zwei Irrflüge antreten, von denen niemand weiß, wie lange sie dauern werden. Robert Misik, kundiger politischer Publizist, diagnostiziert seit geraumer Zeit einen „abstoßenden Kampagnenjournalismus der nahezu gesamten deutschen Publizistik“ in Sachen Griechenland.
Den zweiten Irrflug mussten die deutschen Medien Anfang vorletzte Woche überraschend antreten. 25 Redakteure beim „Spiegel“ arbeiteten bis zur Erschöpfung an dem Titel „Der Amokflug“, ein Team von immerhin vier „FAZ“-Redakteuren lüftete in bundeskreuz-verdienstvoller Recherchearbeit „Das tödliche Geheimnis des Andreas Lubitz“ und so weiter. Jetzt sind alle erst einmal erschöpft, vergleichbar wie nach den einjährigen Anstrengungen, den absolut korruptionsfreien Christian Wulff zu erlegen. Verständlich, dass da keine Kapazitäten für die Titelgeschichte „Blutsauger-Familien plündern Volk aus“ übrig bleiben.
Wer könnte also was tun, um das Thema Reeder-Enteignen auf die Tagesordnung zu setzen? Denn damit würden endlich die Bandbreiten öffentlich zugelassener Meinungen wieder etwas gedehnt werden; die sind ja arg zusammengeschrumpft. Ob die Rosa Luxemburg-Stiftung einen ersten Schritt gehen könnte? Die publiziert oft so anschauliche kompakte Broschüren. Vielleicht als nächstes einen Ratgeber „Grundgesetz konkret: Enteignen leicht gemacht“ – so aufbereitet, dass es auch ein eindimensional auf Totsparen gedrillter Jurist wie Wolfgang Schäuble versteht.
Wolfgang Storz
Neoliberalnationalismus
Befehlen, Abkanzeln, Schulmeistern: Die deutsche Politik und Öffentlichkeit & „Die Griechen“ – Der österreichische Journalist und Sachbuchautor Robert Misik fragt sich, wie es sein kann, dass sich eine „ganze nationale Öffentlichkeit in einen Tunnelblick hineinschreibt“.
„Der Geisterfahrer“, titelte der „Spiegel“ unmittelbar nach der Wahl von Alexis Tsipras, in den „Tagesthemen“ der öffentlich-rechtlichen ARD wird EU-Parlamentspräsident Martin Schulz von einer Moderatorin mit Objektivitätsverpflichtung salopp gefragt, ob er dem Griechen-Premier auch ordentlich „auf die Finger geklopft“ habe, die BILD-Zeitung bittet ihre Leser, Poster gegen die „gierigen Griechen“ ins Internet hochzuladen, und auch die normalerweise seriöse Süddeutsche Zeitung fährt seit Wochen eine Kampagne mit einem Stakkato an antigriechischen Kommentaren, die oft nicht einmal mehr tangential etwas mit der Realität zu tun haben – so wird das Ergebnis einer demokratischen Wahl ungeniert als „Machtübernahme links-rechter Radikalpopulisten“ bezeichnet. Von FAZ & Co. brauchen wir gar nicht zu reden. Dass in öffentlich-rechtlichen Talkshows Videos manipulativ zusammengeschnitten werden und die Diskreditierungsabsicht gar nicht einmal mehr verborgen wird, ist dann nur mehr die letzte Zugabe. Der abstoßende Rudel-, Meute- und Kampagnenjournalismus der (nahezu gesamten) deutschen Publizistik ist mittlerweile derart augenfällig, dass man darüber keine besonderen Worte mehr verlieren muss. „Langsam glaub ich auch an die Lügenpresse“, Worte wie diese kann man hinter vorgehaltener Hand mittlerweile von nüchternen Zeitgenossen ebenso hören wie von TV-Chefredakteuren und den paar anderen verbliebenen dissidenten Stimmen, die das Ausmaß an flächendeckender Einseitigkeit gar nicht mehr fassen können.
Es ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich eine ganze nationale Öffentlichkeit in einen Tunnelblick hineinschreibt, eine Überbietungsstrategie, bis sich der Diskurs in immer groteskere Sphären hochgeschraubt hat. Bis sich der nüchterne Leser fragt: Wie kann das denn sein?
Kein Wunder, dass der Beobachter, der nur oberflächlich mit dem Funktionieren von Medien vertraut ist, da sogar an eine gesteuerte „Lügenpresse“ zu glauben beginnt oder den Verdacht hegt, Journalisten würden einfach gekauft. Aber so funktioniert das natürlich nicht. Im Grunde ist es ja in vielen anderen Fragen ähnlich, wenngleich nicht so krass: Es entwickelt sich in der medialen Berichterstattung eine hegemoniale Haltung, sodass klar ist, welche Meinung eher dominant, welche eher die dissidente Meinung ist. Das spiegelt sich in aller Regel dann auch schnell im politischen Feld wieder, weil Politiker und Parteien sich der hegemonialen Meinung oft unterwerfen, sei es, weil sie sich nicht isolieren, sei es, weil sie nicht anecken wollen. Auch Journalisten, sofern sie eine abweichende Meinung haben, entscheiden sich bisweilen dann dafür, besser nicht querzutreiben. Oder sie haben keine Meinung und schließen sich instinktiv der gängige Deutung an. Herdentrieb ist der grundlegende Mechanismus. Aber das ist natürlich längst nicht alles: mächtige Interessensgruppen sehen nicht unbeteiligt zu, wie sich eine hegemoniale Haltung entwickelt, sondern versuchen diese Entwicklung aktiv zu beeinflussen. Sie gründen Lobbygruppen, Spin-Doktoren werden aktiv, sogenannte „unabhängige“ Think-Tanks bringen ihre Deutung unter die Leute. Je mehr Geld zur Verfügung steht, umso größer das Rad, das man drehen kann. Eitelkeit spielt natürlich auch eine Rolle, wenn sich Journalisten die Meinung der herrschenden Macht zu eigen machen – denn die lockt schmeichelnd mit Nähe, gibt dem Journalisten das Gefühl, „wichtig“ zu sein, wenn sie ihn mit Informationen versorgt, und der Journalist macht sich dann zum Propagandainstrument der Macht, oft ohne es überhaupt zu merken. Der hegemoniale Diskurs ist auch der, innerhalb dessen die „seriösen Haltungen“ angesiedelt sind, während man jenseits davon allenfalls als Querdenker reüssieren kann. Es sind Prozesse wie diese, in denen sich eine regelrechte mediale Einheitsmeinung, ein Einheitsdenken breit macht.
All diese Mechanismen können bei jeder beliebigen politischen Frage ähnliche Resultate zeitigen und das geschieht auch: dass Deregulierung eine „Modernisierung“ ist, dass es sich beim Abbau von Arbeitsmarktregeln um „Reformen“ handelt, die „fit machen“ für den internationalen „Wettbewerb“, dass „Strukturreformen“ (welche immer), eine gute Sache sind, die Linken dagegen „rückwärtsgewandt“, das sind ähnliche zu Phrasen und leerem Jargon gewordene Ideologiebruchstücke, die schon in der Vergangenheit zu schieren Einheitsmeinungen geworden sind. Allerdings gibt es eine Sache, die es erheblich erleichtert, in nationalen Öffentlichkeiten eine Einheitssicht zu etablieren und – im Umkehrschluss – Gegenpositionen zu marginalisieren: und zwar indem man sie nationalistisch „einframed“, wie das die Fachleute sagen, also in einen nationalistischen Deutungsrahmen einbaut.
Im konkreten Fall lauten die Storyline ja nicht bloß „Austerität gut, Keynesianismus böse“ oder „Neoliberalismus gut, Sozialismus böse“, was eine Differenz entlang der politischen links-rechts Achse eröffnen und somit nie zur Auslöschung jeder Gegenposition führen würde, sondern sie ist nationalistisch kodiert: Fleißige Deutsche gegen faule Griechen. Solide Deutsche gegen südlich-mediterranen Schlendrian. „Sie“ sind pleite und wollen „unser“ Geld. Und frech sind „sie“ auch noch. Es ist eine Art „Neoliberal-Nationalismus“, der langfristig diskursiv aufgebaut wurde. „Das Deutschland-Prinzip. Was uns stark macht“, lautet beispielsweise ein Buch, das jüngst eine wirtschaftliberale Lobbyorganisation auf den Markt brachte.
In den europäischen Gläubigerländern, Deutschland voran, hat sich in den vergangen fünf Jahren ein „ökonomischer Rassismus“ breit gemacht. Es wird nicht nur scheel auf die „unsoliden Schuldnerländer“ herabgeblickt, sondern deren ökonomische Probleme werden mit angeblichen ethnisch-kulturellen Eigenschaften verbunden: Schlendrian, Faulheit, ein Hang zur Korruption.
Einher geht damit eine Rhetorik des Herrenreitertums und der Arroganz, man glaubt, das Recht zu haben, andere von oben herab belehren zu können. Europäische Regierungen, ja, ganze Gesellschaften werden wie infantile Pennäler geschulmeistert. Der Jargon der Zuspitzung wird immer haarsträubender. Da höhnt Finanzminister Wolfgang Schäuble, „die Griechen tun mir leid“ (weil die Dummchen die falsche Regierung gewählt hätten), in jedem zweiten Satz wird drohend verlangt, irgendjemand habe „seine Hausaufgaben“ zu machen und täte das „nicht ausreichend“. Legendär der Ausruf von CDU-CSU-Fraktionschef Volker Kauder, der in nationalbesoffenem Jubel postulierte, nun werde „in Europa Deutsch gesprochen“. Selbst die sozialdemokratische SPD glaubt, sich dem rhetorischen nationalen Schulterschluss nicht entziehen zu können und erweckt bisweilen den Eindruck, sich mit den Konservativen einen Überbietungswettbewerb zu liefern, wer die Griechen am schroffsten abkanzelt.
Deutschland führt zur Zeit vor, wie gut Wirtschaftsliberalismus und Krawallnationalismus zusammenpassen.
Robert Misik
„Juden, Lombarden, Wucherer und B l u t s a u g er waren unsre ersten Bankiers, unsre ersten Bankschacherer.“
So zu finden in Marx`“Kapital“.
Aber nur als Zitat, aus Hardcastles „Banks and Bankers“ von 1843 .
Für Marx ein schönes Beispiel irregehender, verkürzter Kapitalismuskritik. Er selber schreibt dazu:
„Der Unterschied zwischen Verkaufen und Verleihen ist hier ein völlig gleichgültiger und formeller, der, wie schon gezeigt, nur der völligen Unkenntnis des wirklichen Zusammenhangs als wesentlich erscheint.“
Also nix mit „gutem“ schaffenden Kapital hier und „bösem“ raffenden Kapital dort.
Und folgerichtig waren es genau die Nazis, die im Sinne einer solch verkürzten Vulgärkritik den Terminus B l u t s a u g e r mit Wonne verwendeten (und den die Volksgenossen gerne glaubten):
für das jüdische „raffende“ Kapital.
„Blutsauger-Familien plündern Volk aus“, wie der Autor sich das heute als Zeitungstitel wünscht, das gab es schon: Im „Stürmer“.
Vom Begriff „Blutsauger“ ist es ja nicht weit zum „Schädling“ und dessen Vernichtung.
Schon das sollte eigentlich Zurückhaltung beim Gebrauch einer solchen Terminologie gebieten.
Davon abgesehen: besser werden die Verhältnisse sicher nicht schon dadurch, dass man mal flott den so benannten „……-Familien“ ihr „böses“ kapitalistisches Handwerk legt.
Eine solch schlichte populistische Sicht eines „Ihr Bösen da oben -wir Guten hier unten“ sorgte schon bei einem Karl Marx für Übelkeit.
Und, was die Auseinandersetzung mit den „reichen Reedern“ angeht, die sich erfrechen, auch „bei uns“ in Berlin (pfui!) die Mieten zu treiben, wie der Autor meint:
Hier ist es zunächstmal ja wohl nicht die Medienlandschaft hierzulande, sondern Syriza, von der eine solche zu fordern ist.
Genauso wie ein „im öffentlichen Sinne arbeitendes Management“, das eingangs gefordert wird.
Btw:
vom aktuellen Zustand des Hafens von Piräus, wo ganze Strassenzüge verfallen, konnte ich mich vor wenigen Tagen selbst überzeugen.
Bislang noch unter griechischer Regie.
Demnächst werden dort wohl chinesische Investoren das Sagen haben, und in (jetzt) unvorstellbar kurzer Zeit wird es dort anders aussehen.
Wenn auch dann nicht — leider — „zum Wohle Aller“…..