Geschichte wird gemacht, es geht voran
170 Jahre ist sie erst her, die badische Revolution, doch das Ländle ist heute kaum mehr wiederzuerkennen. Die Eisenbahn zwischen Karlsruhe und Basel ist fertig, Stuttgart 21 vielleicht auch bald. Die SPD wurde erfunden – und ist schon beinahe wieder verschwunden. Baden und Schwaben haben sich zwangsvereinigt. Ein grüner Ministerpräsident stürzt die gesellschaftlichen Verhältnisse entschlossen um. Alles ist anders geworden. Wirklich alles. Hier ein Text aus der Zeit der Revolution 1848/49.
In Baden, wie überhaupt in Süddeutschland, gibt es fast gar keine große Bourgeoisie. Die Industrie und der Handel des Landes sind unbedeutend. Es gibt daher auch nur ein sehr wenig zahlreiches, sehr zersplittertes, wenig entwickeltes Proletariat. Die Masse der Bevölkerung teilt sich in Bauern (die Mehrzahl), Kleinbürger und Handwerksgesellen. Die letzteren, die städtischen Arbeiter, in kleinen Städten zerstreut, ohne irgendein größeres Zentrum, in dem sich eine selbständige Arbeiterpartei ausbilden könnte, stehen oder standen wenigstens bisher unter dem vorwiegenden gesellschaftlichen und politischen Einfluß der Kleinbürger. Die Bauern, noch mehr über die Oberfläche des Landes zerstreut, ohne Bildungsmittel, haben mit den Kleinbürgern ohnehin teils zusammenfallende, teils sozusagen parallellaufende Interessen und standen daher ebenfalls unter ihrer politischen Vormundschaft. Die Kleinbürger, vertreten durch Advokaten, Ärzte, Schulmeister, einzelne Kaufleute und Buchhändler, beherrschten also teils direkt, teils durch ihre Vertreter die ganze politische Bewegung in Baden seit dem März 1848.
Dieser Abwesenheit des Gegensatzes von Bourgeoisie und Proletariat und dem daraus hervorgehenden politischen Übergewicht der Kleinbürgerschaft ist es zuzuschreiben, daß eine sozialistische Agitation in Baden eigentlich nie existiert hat. Die sozialistischen Elemente, die von außen hineinkamen, sei es durch Arbeiter, die in entwickelteren Ländern gewesen waren, sei es durch den Einfluß der französischen oder deutschen sozialistischen und kommunistischen Literatur, konnten sich nie Bahn brechen. Das rote Band und die rote Fahne bedeuteten in Baden nichts andres als die bürgerliche Republik, wenn es hoch kam, mit etwas Terrorismus versetzt […]. Das höchste Ideal des badischen Kleinbürgers und Bauern blieb immer die kleine bürgerlich-bäuerliche Republik, wie sie in der Schweiz seit 1830 besteht. Ein kleines Tätigkeitsfeld für kleine, bescheidene Leute, der Staat eine etwas vergrößerte Gemeinde, ein „Kanton“; eine kleine, stabile, auf Handarbeit gestützte Industrie, die einen ebenso stabilen und schläfrigen Gesellschaftszustand bedingt; wenig Reichtum, wenig Armut, lauter Mittelstand und Mittelmäßigkeit; kein Fürst, keine Zivilliste, keine stehende Armee, fast keine Steuern; keine aktive Beteiligung an der Geschichte, keine auswärtige Politik, lauter inländischer kleiner Lokalklatsch und kleine Zänkereien en famille [untereinander]; keine große Industrie, […] kein Welthandel, keine sozialen Kollisionen zwischen Millionären und Proletariern, sondern ein stilles, gemütliches Leben in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit, in der kleinen, geschichtslosen Bescheidenheit zufriedener Seelen – das ist das sanfte Arkadien [fiktive, von einfachen, glücklichen Hirten bevölkerte Landschaft], das im größten Teile der Schweiz existiert und für dessen Einführung der badische Kleinbürger und Bauer seit Jahren geschwärmt hat. Und erweitert sich in Momenten kühnerer Begeisterung der Gedanke des badischen und, sagen wir es, des süddeutschen Kleinbürgers überhaupt zu der Vorstellung von ganz Deutschland, so schwebt ihm das Ideal von Deutschlands Zukunft vor in der Gestalt einer vergrößerten Schweiz, in der Gestalt der Föderativrepublik [Bundesrepublik]. Könnte Deutschland sich jemals in ein solches Arkadien verwandeln, so wäre es damit auf einer Stufe der Erniedrigung angekommen, von der es bisher selbst in seinen schmachvollsten Zeiten keine Ahnung hatte.
Auszug aus Friedrich Engels, Die deutsche Reichsverfassungskampagne [geschrieben 1849-1850], in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 7, S. 133-145, Berlin/DDR 1960. Auslassungen und Ergänzungen in Kursivschrift wurden von seemoz eingefügt.
Abbildung: Tod des Generals Friedrich von Gagern im Gefecht bei Kandern am 20. April 1848, zeitgenössische Lithographie, Quelle: Unknown [Public domain], via Wikimedia Commons