In Europas Todeszone – das verstörende Buch von Timothy Snyder

20120930-215228.jpgTimothy Snyder, Professor an der Yale-University, beschäftigt sich mit osteuropäischer Geschichte und Holocaustforschung. Sein Buch „Bloodlands“ aus 2010 beleuchtet Massenmorde und Vernichtungspolitik von Nationalsozialismus und Stalinismus. Kritiker wie Jürgen Zarusky, Historiker am Institut für Zeitgeschichte, werfen Synder vor, er überbetone vermeintliche Ähnlichkeiten von NS-Herrschaft und Stalinismus. Der Konstanzer Historiker und Publizist Ernst Köhler hat sich das Buch vorgenommen

Die Deutschen genießen wegen ihrer Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Zeit ein hohes Ansehen in der Welt. Auch „Bloodlands“, das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegende bahnbrechende, aber auch umstrittene Werk des amerikanischen Historikers Timothy Snyder über die großen Mordschauplätze in Osteuropa, im „Europa zwischen Hitler und Stalin“, attestiert uns wieder: „Das deutsche Gedenken an die Ermordung der Juden ist ein einzigartiges Beispiel für eine unzweideutige politische, intellektuelle und pädagogische Verantwortung für den Massenmord und die größte Quelle der Hoffnung, dass andere Gesellschaften einen ähnlichen Weg einschlagen könnten“. Dabei konfrontiert uns gerade dieses Buch unnachsichtig und umfassend mit unseren Abwehrstrategien und selektiven Verfahren im Umgang mit den politisch gemachten Katastrophen der Menschenvernichtung, denen die jüdischen, polnischen, weißrussischen, russischen, ukrainischen Zivilbevölkerungen zwischen Posen und Smolensk, zwischen Tallinn, Leningrad und Odessa in den anderthalb Jahrzehnten von 1930 bis 1945 ausgesetzt waren.

Schon dass es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs etwa vier Jahrzehnte gebraucht hat, bevor die bundesdeutsche Geschichtswissenschaft sich den Massenmordverbrechen im Osten empirisch forschend zugewandt hat, wirft ein Licht auf den Fokus und den Horizont unserer Erinnerung. Jahrzehntelang haben wir uns ausschließlich mit uns selbst befasst. Die große Frage war: Wie konnten Hitler und der Nationalsozialismus in Deutschland an die Macht kommen? Auch die Studentenbewegung von 1968, in der viel von „Auschwitz“ die Rede war, hat da keinen Durchbruch gebracht – entgegen der Legende.

Aber auch nachdem wir es unserer Vorstellungskraft endlich gestattet haben, sich an die Orte der verbrecherischen Geschehen selbst zu begeben und das systematische Morden aus der Nähe und in allen monströsen Details anzusehen, haben wir das Schicksal der Juden vom Schicksal der anderen Völker der zentralen europäischen Todeszone abgetrennt und isoliert. Wenn beispielsweise vom Warschauer Aufstand die Rede war, war immer unwillkürlich der Ghetto-Aufstand von 1943 gemeint, nicht der polnische Aufstand von 1944. Verständlich, nachvollziehbar in Deutschland?

Das Aushungern von Leningrad ist nicht zu uns vorgedrungen

Liegt es am Gewicht unserer Schuld? Bereits 1991 hat Christian Streit sein Pionierwerk über das gezielte Verhungernlassen von drei Millionen sowjetischer Kriegsgefangenen der Wehrmacht vorgelegt (Keine Kameraden). Wiegt diese Schuld etwa leichter als die der Vernichtung der Juden? Die Blickverengung auf die Ermordung der Juden ist kein Tribut an die Schuld. Sie besitzt nicht die Legitimität der Übernahme von Verantwortung. Es fehlt unserer Erinnerung, unserer viel gelobten Aufarbeitung der Zeitgeschichte vielmehr an Universalität, an einem universalen Humanismus. Das ist vielleicht der wichtigste Denkanstoß, den uns die Lektüre von „Bloodlands“ bieten kann. Der ernst gemeinte Versuch, Warschau auszuradieren, die Hauptstadt Polens vom Erdboden verschwinden zu lassen, und der Tod der Hälfte seiner Bevölkerung sind bei uns ein Thema für Spezialisten geblieben. Das Aushungern von Leningrad, das willentliche, planvolle Sterbenlassen seiner Bewohner durch die deutschen Truppen, ist bis heute im öffentlichen Bewusstsein Deutschlands schemenhaft geblieben, ein bekanntes, aber entrücktes, abstraktes Faktum. Weder die Kalkulationen der Verantwortlichen noch die Erfahrungen der Opfer sind jemals zu uns gedrungen.

Aber Timothy Snyder geht noch weiter. Er bleibt nicht bei den Deutschen stehen. Er stellt ihren jüdischen Mordopfern nicht nur ihre slawischen Mordopfer an die Seite. Neben die unvorstellbaren Massenmorde des NS-Regimes im Weltkrieg stellt er die unvorstellbaren Massenmorde des sowjetischen Stalin-Regimes vor dem Weltkrieg. Das ist der Grundgedanke, die eigentliche Grundkonzeption des Werkes. Und so mancher Leser des bereits in viele Sprachen übersetzten Buches dürfte sich irritiert fragen, ob damit nicht die Judenvernichtung relativiert, historiographisch gewissermaßen eingeebnet und ihrer weltgeschichtlichen Einzigartigkeit entkleidet wird.

Aufklärung, nicht Revisionismus

Der Zweifel ist alt und geht tief. Er ist so legitim, wie eine kritische historische Frage nur legitim sein kann. Aber in diesem Fall ist er gänzlich unangebracht. Die Gegenüberstellung der Verbrechen Deutschlands bei seinem früh und definitiv kollabierenden Versuch, sich aus einem europäischen Nationalstaat in ein großes kontinentales Kolonialimperium zu verwandeln, und der Verbrechen der Sowjetunion beim entschieden erfolgreicheren Versuch, nach dem Verlust der weltrevolutionären Perspektive den „Sozialismus in einem Land“ zu konsolidieren, ist im Text von Snyder Aufklärung, kein Revisionismus.

Der eine Fall von totalitärer Machtentfaltung und Menschenverachtung verdeckt, verschleiert, nivelliert hier nicht den anderen. Er beleuchtet ihn. Der Vergleich lässt die konkrete Strategie, die politischen Entscheidungen hinter dem uferlosen Morden der beiden Regime, die ab 1939 als Bündnispartner, ab 1941 als Todfeinde interagieren, deutlicher hervortreten denn je. Er holt die Mordkampagnen dieser Epoche in die politische Geschichte zurück.

Anfang der 30er Jahre – ein Jahrzehnt, bevor NS-Deutschland mit der Invasion in die Sowjetunion zum weltführenden Mordstaat avanciert und anfängt, wehrlose Menschen in bis dahin unerreichten Dimensionen verhungern zu lassen, am Rande von Gruben und Gräben zu erschießen (östlich der Molotow-Ribbentrop-Linie), schließlich in speziellen Einrichtungen zu vergasen (westlich dieser Linie), sterben in der sowjetischen Ukraine Millionen von Menschen an politisch gewolltem und mit der ganzen Macht des Regimes durchgesetzten Hunger.

Im Westen kein sonderlich beachteter „Zivilisationsbruch“ – damals nicht, weil die zeitgenössische linksliberale und linke Öffentlichkeit nichts auf die Sowjetunion kommen lassen wollte; heute immer noch nicht, weil die postkommunistischen ukrainischen Nationalisten aller Schattierungen an dem Thema zuviel herumgefummelt haben.

Timothy Snyder gibt dieser Hungerkatastrophe ihren Rang, ihre Wirklichkeit zurück. Er schreibt darüber mit der Genauigkeit, Schonungslosigkeit, Sensibilität, Anteilnahme, wie wir sie von den besten Hintergrundberichten und Reportagen über aktuelle afrikanische Hungersnöte kennen und erwarten. Oder eben auch von unseren historischen Meisterwerken über die Shoah. Der angstvolle, verzweifelte, todkranke, hoffnungslose, sterbende Mensch wird hier sichtbar. Er tritt hinter den sorgfältig erarbeiteten, dem Geist aber unfassbaren Zahlen hervor, wie es der Autor im fulminanten Schlusskapitel seines Buches unter der Überschrift „Menschlichkeit“ von der Geschichtsschreibung auch grundsätzlich verlangen wird. Hier wie überhaupt im gesamten Text ist immer wieder die Stimme der Verlorenen zu vernehmen – nicht selten auch das Zeugnis von Kindern, die bald darauf sterben müssen.

Eine perverse Fiktion von Klassenkampf

Aber auch die Führung und ihr Vorhaben, über die „Kollektivierung“ der bäuerlichen Landwirtschaft um jeden Preis und in wenigen Jahren eine Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft umzuformen, wird hier transparent. Die Bauern müssen sich versklaven lassen. Sie müssen den neuen Staat, die neuen Städte, die neuen Industriezentren ernähren und – über den Export des von ihnen produzierten und ihnen dann geraubten Getreides – finanzieren, auch wenn sie selbst nichts mehr zu essen haben. Wer dabei zugrunde geht, war eben überflüssig. In der Vorstellungswelt Stalins wimmelt es von überzähligen Menschen. Es ist absolut egal, wenn sie verschwinden. Es ist gleichgültig, wie sie verschwinden.

Das alles ist nicht neu. Aber wie sich das maßlose Modernisierungsprojekt in seinem Misslingen und in seinen verheerenden Folgen mit einer perversen Fiktion von Klassenkampf verbindet – in der die Hungernden dann nur aus Hass hungern und die Sterbenden nur aus ideologischer Feindschaft sterben -, muss man lesen. Das hier entfaltete Bild der zahllosen mittleren und kleinen Parteifunktionäre, die es in ihrer Bodenständigkeit eigentlich besser wissen und sich dennoch – aus Furcht, aus dem Bedürfnis nach Rechtfertigung, im krampfhaften Bemühen um Sinnstiftung – selber eine bewusstseinsvernichtende Gehirnwäsche verpassen, gehört zu den Höhepunkten des Werkes. Die Täter zu verstehen suchen, ist viel schwerer und letztlich auch moralischer, als sich mit den Opfern zu identifizieren und sich womöglich auch noch in ihnen wieder zu erkennen – auch dies eine der harten Forschungsmaximen des Schlusskapitels.

Von der Umdeutung der ukrainischen Massen im Elend zur Klasse im reaktionären Widerstand führt uns die Darstellung in die abgründige Welt der stalinistischen Terrorwellen, des Gulag, der ethnischen Säuberungen, der Deportation halber und ganzer Völker in die endlosen, zivilisationsfernen Räume des Riesenreichs. Über diese jeweils auch wiederum Hunderttausende von Toten kostenden Gewaltpolitiken ist in den letzten Jahren intensiv geforscht worden.

Timothy Snyder siedelt sie zwischen der konventionellen Sicherheitspolitik eines Staates und den Verschwörungstheorien – authentisch oder vorgetäuscht und nur inszeniert – eines System totaler Macht an. Das Stalinsche Paradigma der Einkreisung der Sowjetunion von allen Seiten – im Westen von den kapitalistischen Staaten Europas, im Osten von Japan – kennt keine loyalen, patriotischen Bürger. Es gibt nur unberechenbare Elemente, schillernde, unergründliche, verdächtige Subjekte. Jeder, auch jeder Parteigenosse, ist ein potentieller Staatsfeind, der morgen schon aus Partei und Staat hinaus gesäubert, das heißt: liquidiert werden muss. Die eigene Bevölkerung ist rechtloses Menschenmaterial, aber zugleich ein Sicherheitsrisiko. Wenn man sie aus den Grenzgebieten im Westen in den fernen Osten des Landes verschiebt – wie die Ukrainer zum Beispiel, arbeitet sie dort höchstwahrscheinlich auch wieder heimlich mit einer fremden Macht zusammen.

Sicherheit ist Sisyphusarbeit. Nur schrankenlose Macht und die absolute Verfügungsgewalt über die vorhandenen gesellschaftlichen Ressourcen sind der allgegenwärtig drohenden Instabilität gewachsen. Japan richtet seine imperialistischen Ambitionen dann aber bekanntlich nach Süden, in den pazifischen Raum. Der Überfall auf die Sowjetunion kommt unerwartet, jedenfalls unerwartet früh von Westen – von Deutschland, mit dem man sich gerade erst auf die Aufteilung, Enthauptung, Versklavung Polens geeinigt hatte.

Surrogat für die entschwindende Perspektive auf Sieg

Wesentlich kühner mutet die in „Bloodlands“ vorgelegte Darstellung der nationalsozialistischen „Endlösung der Judenfrage“ an. Auch diese Darstellung präsentiert sich als ein Stück klassischer politischer Geschichte. Sie rekonstruiert die politische Entscheidung zum Völkermord im Kontext des Kriegsverlaufs – des Scheiterns der ökonomisch grundierten deutschen Eroberungspläne. Samt dem „Generalplan Ost“ und einem Hungerplan, der als erstes schon einmal 30 Millionen Menschen die Nahrung entziehen wollte – im Interesse einer gesicherten Versorgung Deutschlands. Die Judenvernichtung ist danach der Ersatz für die sich in der Realität schnell und restlos zerschlagende Ambition, nach dem gewohnten Blitzkrieg die Sowjetunion aufzulösen und in ihren westlichen Teilen eine Kolonialherrschaft und ein Sklavensystem zu errichten.

Die Ermordung der europäischen Juden in ihrer Gesamtheit wird erst Ende 1941 angesichts des fehlgeschlagenen Vorstoßes auf Moskau zur maßgeblichen Politik der NS-Führung. Es ist vor allem Heinrich Himmler, der Hitler und sich selbst angesichts der sich bereits abzeichnenden Kriegsniederlage einen Sieg, ein Surrogat für die entschwindende Perspektive auf Sieg verschaffen möchte – einen Pseudotriumph also, der den „Führer“ vor der Wirklichkeit des verlorenen Krieges bewahren und abschirmen kann. Das ist die These. Wohlgemerkt: sie spielt den speziellen Antisemitismus des Nationalsozialismus nicht herunter. Sie leugnet keineswegs, dass ein Europa ohne Juden immer ein eigenständiges, grundlegendes Ziel Hitlers gewesen war.

Die Juden sollten nach seinem Willen immer restlos verschwinden aus dem nationalsozialistisch kontrollierten West,- Mittel- und Osteuropa. Aber die „Endlösung“ im Sinne der ausnahmslosen physischen Vernichtung – statt erzwungener Massenauswanderung; statt Ghettoisierung zwecks späterer Deportation in noch zu erobernde Randgebiete; statt allmählicher Dezimierung durch Schwerstarbeit bei Unterernährung – war nach Timothy Snyder eine Ersatzhandlung, eine Form des Siegtheaters, ein Versuch des NS-Regimes, sich über seine Aussichtslosigkeit hinweg zu täuschen.

Autor: Ernst Köhler

Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. Aus dem Englischen von Martin Richter, München 3.Auflage 2011 (Verlag C.H. Beck)