Ist der Landtag von Baden-Württemberg zu groß? Zumindest ist das Wahlrecht reformbedürftig!

Gewinner und Verlierer der jüngsten Landtagswahl stehen fest. Der Wahlausgang vom 15.3. gewichtete aber nicht nur die politischen Kräfteverhältnisse neu, sondern führte auch zu einer Vergrößerung des Landtags von 143 auf 154 Abgeordnete. Das hat den Bund der Steuerzahler auf den Plan gerufen, dem das „eindeutig zu viel“, weil teurer ist. Auch unser Autor hält das Wahlrecht für reformbedürftig, indes aus anderen Gründen. Es sei undurchsichtig und berge die Gefahr, den WählerInnenwillen zu verzerren.

Aktuell fordert der Steuerzahlerbund, den Landtag von Baden-Württemberg zu verkleinern. Aus meiner Sicht bedarf es in erster Linie einer Änderung im Wahlrecht, denn die Landtagswahl 2021 in Baden-Württemberg hat erneut massive Defizite am Wahlsystem zutage geführt. Zweifelsfrei: Das Zustandekommen der Sitzverteilung im baden-württembergischen Landtag ist für den Laien kaum nachvollziehbar. Das belegt eine große Unsicherheit der Wähler bei der Abgabe ihrer Stimme, wenn sie im Vergleich zur Bundestagswahl lediglich ein Kreuz setzen dürfen – und dabei Parteien- und Personenpräferenz miteinander vereinen müssen. Dass das Wahlsystem zudem zu manch merkwürdigem Wildwuchs führt, wurde auch beim aktuellen Urnengang deutlich: Bewährt hat sich unumstritten die Mischung aus Persönlichkeits- und Verhältniswahl, die eine nachvollziehbare Abbildung des Wählerwillens in Direktmandaten garantiert, welche dem unmittelbaren Wunsch des Souveräns entspricht – sowohl im Hinblick auf den Kandidaten wie auch auf seine politische Couleur.

Höchst fragwürdig bleibt – trotz einer Änderung des Wahlrechts seit 2011 – die Zuteilung der sogenannten Zweitmandate, eine Eigenheit des baden-württembergischen Abstimmungssystems: Erreicht eine Partei nach Umrechnung ihres prozentualen Stimmenanteils mehr Sitze, als sie durch Erstmandate abdecken kann, wird die Differenz durch die Zweitausteilung aufgefüllt. Diesem Prozess liegt seit der Reform von vor zehn Jahren zwar nicht mehr die absolute Stimmenanzahl zugrunde, trotzdem ist auch die heutige Regelung nach meinem Dafürhalten nicht mit dem Gleichheitsgrundsatz unserer Verfassung in Einklang zu bringen. Denn sie ermöglicht einen kuriosen Umstand, welcher auf der entsprechenden Bestimmung der Zweitmandate beruht: Demnach ziehen jene Verlierer einer Partei, die die ihr zustehenden Sitze nicht allein aus Direktmandaten ausfüllen kann, ins Parlament ein, welche im jeweiligen Wahlkreis in einem der vier Regierungsbezirke per Rangfolge die meisten Stimmen unter den nichtgewählten Kandidaten der antretenden Parteien erreicht haben. Als Konsequenz ergibt sich daraus die Möglichkeit, dass einzelne Wahlkreise lediglich durch den per Direktmandat gewählten Abgeordneten in Stuttgart repräsentiert werden, während andere bis zu drei zusätzliche Vertreter als Zweitmandatare entsenden können – und damit insgesamt mit vier Landtagsabgeordneten ins Parlament einziehen.

Auch dieses Mal kommen erneut Wahlkreise in den Genuss, von einer Bandbreite an Funktionsträgern vertreten zu werden. Damit haben sie nicht nur den Vorteil, dass das Resultat der Abstimmung in ihrem Wahlkreis pluralistischer – und damit authentischer dem Wählerwillen nahekommend – abgebildet wird, sondern dass sie auch auf das Engagement verschiedener Abgeordneter für die Belange ihrer Region vertrauen können. Der Ansatz der genannten Reform, größere Wahlkreise nicht überproportional zu bevorzugen, ist gründlich schiefgegangen. Heute werden beliebige Kreise überdurchschnittlich vertreten, in denen mehrere unterlegene Bewerber unterschiedlicher Gruppierungen gleichzeitig und zufällig den in der Reihenfolge ihrer Partei größten Stimmenanteil in Bezug auf das prozentuale Ergebnis im entsprechenden Regierungsbezirk eingefahren haben. Die so entstehende Verzerrung durch die überschießende Repräsentanz einzelner Wahlkreise entspricht aus meiner festen Überzeugung nicht dem grundgesetzlichen Egalitätsprinzip, welches auch einem Landtagswahlergebnis die größtmögliche Transparenz abverlangt.

Um ein neues Wahlgesetz auf den Weg zu bringen, sollte einerseits an Angleichung der Wahlkreisgrößen gedacht werden, da die Rangfolge der Wahlbewerber im Hinblick auf die Zweitverteilung maßgeblich von der Größe des Wahlkreises abhängt. Daneben scheint es mir dringend geboten, dass die Vergabe der Zweitmandate nach dem prozentualen Ergebnis im Wahlkreis vorgenommen wird, statt anhand der absoluten Stimmen. Die Verteilung der Sitze auf die Regierungsbezirke muss für mein Dafürhalten nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung erfolgen, um die konsequente Benachteiligung von kleinen Wahlkreisen durch das aktuell gültige D’Hondt-Verfahren zu beenden. Überhang- und Ausgleichsmandate sollten nicht innerhalb eines Regierungsbezirks, sondern auf Landesebene vergeben werden, um kleine Parteien nicht gleichzeitig in mehreren Wahlkreisen zu benachteiligen. Und nicht zuletzt müssen für mein Empfinden Überhangmandate nur noch extern verteilt werden, wenn die Zahl der Direktmandate einer Partei jene der Zeitmandate übersteigt. Die bisherige Praxis interner Überhangmandate führte dazu, dass nicht gewollte Landeslisten der Parteien entstehen, die bei der Zweitverteilung Bewerber in großen Wahlkreisen bevorzugt hatten. Sollten diese Vorschläge beherzigt werden, könnte am grundlegenden Wahlsystem ohne Erst- und Zweitstimme festgehalten und auf die Aufstellung von Landeslisten durch die Parteien verzichtet werden – was letztlich den für das Bundesland einzigartigen Charakter seines Wahlrechts mit einer Fokussierung auf die zur Wahl antretenden Bewerber statt auf imaginäre Parteilisten beibehalten würde.

Dennis Riehle (Bild: Landtag von Baden-Württemberg)