Kapitalversteher Steinbrück auf der Suche nach Fettnäpfchen

Man fragt sich, was SPD-Mitglieder auch hierzulande dazu treibt, für diesen Kanzlerkandidaten noch Wahlkampf zu machen, Flyer zu verteilen, Plakate zu kleben, sich die Füße im Straßenwahlkampf in den Bauch zu stehen. Mit der guten, alten SPD hat dieser Kandidat schon lange nichts mehr zu tun, wie Wolfgang Storz faktenreich nachweist. Und – das ist der eigentliche Skandal – sein Mandat als Abgeordneter nimmt Peer Steinbrück auch nicht ernst, wie seemoz schon vor über zwei Jahren belegte

Peer Steinbrück beteuert, er wolle die Finanzmärkte bändigen und mehr Gerechtigkeit durchsetzen. Insgeheim scheint er jedoch auf ein anderes Ziel programmiert zu sein: Wie schrumpfe ich die SPD? Peer Steinbrück plus Kanzlerkandidatur plus SPD, das heißt offenkundig, Unvereinbares aneinander zu ketten. Geht es mit seiner Kanzlerkandidatur so weiter, wie es angefangen hat, dann könnte sie zu der Tragikomödie 2013 werden.

Am Abend der Bundestagswahl 2009 erreichte die SPD ihren Tiefpunkt. Weniger geht nicht, da waren sich alle sicher: 23 Prozent fuhr der damalige Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier als Ernte ein; 2005 waren es 11,2 Prozent mehr gewesen. Steinmeier, Architekt der weithin als unsozial empfundenen Agenda 2010, engster Mitarbeiter von SPD-Kanzler Gerhard Schröder. Peer Steinbrück sät Zweifel: Warum soll es nicht noch tiefer gehen?

Wie eine Partei ihre Prinzipien aufgibt

Der SPD geht es ohne den schnell-, schnoddrig- und scharfredenden Peer Steinbrück schon schlecht genug. In den letzten zehn Jahren verlor die Partei hunderttausende Mitglieder. Der Schwund hat sich verlangsamt: knapp 480 000 Mitglieder zählt sie heute. Die Zahl illustriert bestenfalls die Hälfte des Dramas: zu viele Alte (knapp die Hälfte über 60 Jahre und älter), zu viele Männer (70 Prozent) und Beamte, zu wenige Junge (knapp 2 Prozent unter 21 Jahre), zu wenige Frauen und Hochqualifizierte. Und: Oft gingen und gehen die Aktiven. Die Partei magerte bis auf die Knochen ab, weil sie ihren Markenkern, die soziale Gerechtigkeit, ruinierte: Nach Umfragen sind etwa zwei Drittel aller Bürger der Meinung, die SPD habe mit der Agenda-Politik – Beispiele: Arbeitslose werden schon nach 12 Monaten, unter Anrechnung ihres Ersparten, auf Sozialhilfe-Niveau gesetzt, das Rentensystem wurde teil-privatisiert – ihre Prinzipien aufgegeben.

Wahl- und Politik-Strategen gehen davon aus, dass die Landtags-Wahl in Niedersachsen an diesem Sonntag, 20. Januar, die Stimmung des Wahlkampfjahres 2013 prägen wird. Bisher regierte eine CDU/FDP-Regierung. SPD und Grüne wollen sie ablösen. Die Umfragen deuten auf ein Patt zwischen dem schwarz-gelben und dem rot-grünen Lager hin. Entscheidend ist, ob die FDP wieder einzieht oder scheitert. Die SPD-Spitze hat klar gemacht, sie werde auch bei einer Wahlniederlage an Steinbrück festhalten. Bei aktuellen Umfragen liegt die CDU bei etwa 40 Prozent, die SPD bei 30, die Grünen bei 13 und die Linke unter 5 Prozent. Die Piraten würden mit prognostizierten drei Prozent deutlich scheitern.

Die CDU ist also relativ stark, die FDP schwankt um die Fünf-Prozent-Hürde. Dieses letztlich sehr schwache Lager hat nur deshalb in Ländern und im Bund die Gelegenheit zu regieren, weil die inzwischen viergeteilte Opposition in den entscheidenden Regierungs- und Machtfragen nicht gemeinsam handelt, sich darüber nicht einmal berät. Kanzlerkandidat Steinbrück ist die Garantie dafür, dass sich die SPD nicht öffnet, um die gesamte Opposition zu einen.

Seit Jahren versucht die SPD, sich von eben dieser Agenda-Politik zu verabschieden – es gelingt ihr nicht. Was es gibt, das ist Stimmenwirrwarr. Sigmar Gabriel, seit 2009 Vorsitzender, ging ein bisschen auf Distanz zu den Agenda 2010-Protagonisten Gerhard Schröder und Franz Müntefering: Die Partei habe ihr Herz verloren unter deren Regentschaft. Aber: „Es war bei weitem nicht alles falsch, was war.“ Und: Es gelte zudem, „dass wir alle die Politik der letzten Jahre gemeinsam zu verantworten haben … .“ In einem Interview kurz nach seiner Amtsübernahme sagte Gabriel: „Der Wähler hat einfach kein klares Bild mehr davon, wofür wir stehen.“

Peer Steinbrück erkannte schon 2007: „Wir heulen ein bisschen über Hartz IV und über die Agenda 2010. Da sagen die Menschen: Wenn die sich nicht vertrauen, warum soll ich ihnen vertrauen?“ Frank-Walter Steinmeier bekennt: Er sei unverändert „stolz“ auf die Ergebnisse der elfjährigen Regierungsarbeit unter Kanzler Schröder und Kanzlerin Merkel. Außenstehende können diese letztlich seit 2005 und bis heute andauernde Quälerei nur so zusammenfassen: Irgendwie steht die SPD zur Politik der Agenda 2010, irgendwie aber auch nicht. Sie ist mit sich nicht im Reinen.

Drei Wahlverlierer dominieren die SPD

Diese Fragilität und Kraftlosigkeit spiegelt sich auch in der Führung, in Kopf-Losigkeit wider. Kurt Beck, langjähriger Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz und kurzzeitiger Parteivorsitzender, hat sich – auch beschädigt wegen Missmanagement – zurückgezogen. Die früheren Hoffnungsträger Klaus Wowereit, Berlin, und Matthias Platzeck, Brandenburg, demontieren sich selbst: Sie haben das Desaster rund um den geplanten Groß-Flughafen Berlin-Brandenburg zu verantworten. In den meisten anderen Bundesländern stecken die SPD-Spitzen in Alltagsgeschäften fest, ohne Fortüne und Profil.

Es bleiben die strahlende Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft, und der eher biedere, aber politisch profilierte Olaf Scholz, Regierungschef im klitzekleinen Hamburg. Und weil von `unten` keiner und keine drängen, standen und stehen an der Spitze der Partei: ein mittelalterlicher und zwei ältere Herren, eine frauenfreie Zone aus Sigmar Gabriel, Parteivorsitzender, Frank-Walter Steinmeier, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, und Peer Steinbrück, bis vor wenigen Wochen ohne Amt. Diese Troika aus zwei Agenda 2010-Anhängern und einem sich in die politische Umtriebigkeit flüchtenden Vorsitzenden hat ein besonders markantes Alleinstellungsmerkmal: Alle drei haben bisher Wahlen nur verloren, noch nie eine gewonnen.

Sigmar Gabriel machte rasch klar, er wolle nicht als Kanzlerkandidat antreten: Er galt wegen seiner schlechten Umfragewerte als nicht vermittelbar; Steinbrück hat ihn – von weit oben kommend – inzwischen eingeholt. Steinmeier sagte im Sommer ab. So blieb Steinbrück. Er hatte im letzten Jahr meist gute Umfragewerte und wichtige Medien wie „Spiegel“ und „Die Zeit“ hielten ihm die Steigbügel. Helmut Schmidt salbte ihn öffentlich, der Peer, der kenne sich in Sachen Finanzmärkte aus, sie spielten Schach, schrieben Bücher, tourten durchs Fernsehen. Gerhard Schröder gab auch den Segen dazu und Sigmar Gabriel behauptete kühn: Steinbrück verkörpere die entscheidenden Themen der SPD – die Bändigung der Finanzmärkte und ein neues soziales Gleichgewicht – und sei deshalb „der beste Kanzler, den Deutschland finden kann“.

Das personifizierte Fettnäpfchen

Mit Gerhard Schröder hatte die SPD bis 2005 das Original. Mit Steinmeier hatte sie 2009 einen Schröder-Mitarbeiter zum Kanzlerkandidaten und heute eine Schröder-Kopie. Fortschritt wird bei der SPD neu buchstabiert. Nun hat sie ihn und ist unglücklich mit ihm von Anfang an.

Vordergründig geht es um Fettnäpfchen, in die der Kandidat inzwischen so oft getreten ist, als sei er eines. Eine genaue Betrachtung zeigt, es geht um mehr als nur um peinliche, kleine Fehltritte. Peer Steinbrück ist seit 2009 – erstmals – Parlamentarier: Bundestagsabgeordneter. Das Mandat scheint ihm unwichtig, eher lästig: Er ist in zwei Ausschüssen des Parlamentes – dem Ausschuss für Kultur und Medien und dem für EU-Politik – jeweils stellvertretendes Mitglied. Mehr schätzt er das Geldverdienen: als Buchautor, als Redner, als Aufsichtsratsmitglied bei Thyssen-Krupp. Seine Geschäfte brummen, denn er ist in Kreisen der Wirtschaft sehr beliebt: Vor allem, weil er in ihrem Sinne `tickt`, weil er wie andere Sozialdemokraten gerne laut sagt, wie wenig seine SPD von Wirtschaft versteht. Das macht ihn interessant: der Sozialdemokrat, der den Widerwillen gegen seine Partei wie eine Monstranz vor sich herträgt. So verdiente er seit 2010 als Buchautor hunderttausende Euro. Von 2010 bis 2012 saß er für 120 000 Euro im Aufsichtsrat von Thyssen-Krupp, auch um sich politisch für den Konzern um Rabatte beim Energie-Einkauf zu verwenden, so jüngste Medien-Berichte. Fast 1,5 Millionen Euro strich er seit 2010 als Redner ein: mal gab es 15 000 Euro, mal 25 000 Euro für eine meist allseits bekannte Rede und etwas Diskussion danach.

So redete er im September 2011 für 15 000 Euro auch bei der Wirtschaftskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer. Dabei ist wichtig zu wissen, dass das Bundesfinanzministerium unter Peer Steinbrück diese Kanzlei im Umfang von gut 1,8 Millionen Euro beauftragte, Gesetze im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise auszuarbeiten. Tritt Peer Steinbrück hier in Fettnäpfchen, wie es in Politik und Medien heißt? Was wird hier gehandelt? Beste Rede gegen enorm hohes Honorar? Geht es um kleine Geschenke im Nachhinein? Oder um die Pflege einer guten Freundschaft?

Experten“ und „Kapitalversteher“

Wolfgang Streeck, renommierter Soziologe, hat sich unter anderem mit der Frage beschäftigt, warum beispielsweise Goldman Sachs Experten, Wirtschaftswissenschaftler zu Reden einlädt und diese extrem hoch dafür bezahlt. Experten, die dann auch mal US-Finanzminister sind oder Leute wie Mario Draghi und Mario Monti mal Präsident der Europäischen Zentralbank oder Ministerpräsident von Italien. Seine Antwort: Sie seien im Kern keine Experten, sie seien im Kern Interessenvertreter und `Kapitalversteher`. Und deshalb, weil sie `Kapitalversteher` seien, ernteten sie so ungewöhnlich hohe Honorare. Es spricht viel dafür, das Motiv derjenigen, die Steinbrück so viel Geld für seine Reden spenden, darin zu sehen, dass sie ihn als `Kapitalversteher` sehen und ihn als solchen pflegen wollen. Sie liegen damit nicht falsch. Die politische Biografie von Peer Steinbrück gibt dies allemal her.

Politisch ist Steinbrück – Diplom-Volkswirt, viele Jahre politischer Bürokrat, dann Landesminister, Ministerpräsident, Bundesfinanzminister – klar verortet: Die Agenda 2010, den Arbeitsmarkt deregulieren, einen Niedriglohn-Sektor schaffen, Unternehmens-Steuern und Spitzensteuersatz drastisch senken, die Finanzmärkte los lassen – das ist seine Welt und seine Politik, immer mit der Begründung, anders werde Deutschland nicht wettbewerbsfähig. Als Bundesfinanzminister tat er nichts, um die Vermögenssteuer wieder einzuführen. In seinem Buch „Unterm Strich“ erläuterte er, die Behauptung von der zu geringen Besteuerung der Reichen, das sei ein „Mythos“. Und wenn Steinbrück heute Gerechtigkeit zu seinem wichtigsten Wahlkampf-Thema machen will, dann ist es gut zu wissen, wie er diesen Wert definiert: „Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun, die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum die Leistung für sich und die Gesellschaft erbringen“; so im Jahr 2003 in „Die Zeit“.

Mit anderen Worten: Was Peer Steinbrück als Kanzlerkandidat heute verkörpern will, ist das Gegenteil seiner Politik der letzten zehn Jahre. Der ostdeutsche Soziologe Wolfgang Engler hat 2012 geschrieben: „Mir hätte gefallen, wenn jemand gesagt hätte: Wir sind Koautoren dieser Krise. … Das war ja weitgehend ein Produkt der rot-grünen Regierung, die riskante Finanzprodukte zugelassen und in der Steuergesetzgebung Schleusen geöffnet hat.“ Peer Steinbrück fühlt sich von solchen Reden nicht angesprochen.

Autor: Wolfgang Storz/WOZ

P.S. in eigener Sache: Wir wollen ja nicht strunzen, aber schon 2010 – lange vor dem Kandidatur-Wagnis und den Honorar-Eskapaden – berichtete seemoz über Recherchen von abgeordnetenwatch.de zu den Nebengeschäften des Peer Steinbrück. Und wies auf den eigentlichen Skandal hin: Der Abgeordnete Steinbrück schwänzt für seine Vorträge die Sitzungen des Bundestages – sein Mandat, für das er monatlich auch gute 10 000 Euro einstreicht, leidet unter seiner Vortragstingelei. Doch lesen Sie selbst: Wie ein Abgeordneter sein Mandat versilbert