Kein Fall von Zensur

Seit Wochen wird intensiv und heftig über die Causa Südkurier/Lünstroth debattiert. Ausgehend von der seemoz-Berichterstattung schwappte das Thema weit über den lokalen Suppenteller hinaus, sehr zum Verdruss der Südkurier-Chefredaktion. seemoz hat sich in den zurückliegenden Wochen eindeutig positioniert und wähnt weiterhin, wie viele andere auch, die Presse- und Meinungsfreiheit in Gefahr. Nun meldet sich mit Tobias Engelsing eine in der Stadt prominente Stimme, die anderer Meinung ist und kritisch gegensteuert.

Die Tränenschale für den bisherigen Kulturredakteur der Südkurier-Lokalredaktion Konstanz, Michael Lünstroth, füllt sich zunehmend mit Krokodilstränen: Einige stadtbekannte Aktivisten, Kommunalpolitiker, Gewerkschafter, Hochschulpressesprecher samt Rektoren, verbitterte ehemalige Südkurier-Redakteure und basisdemokratisch bewegte Kino-Retter beklagen einen vorgeblich schmählichen Angriff auf die Pressefreiheit und auf den edlen Ritter Lünstroth.

Manche Mitglieder dieses Trauerchores habe ich in den vergangenen neun Jahren allerdings über diesen Redakteur bitter klagen hören, dem sie nun ihre späte Liebe nachtragen. In diesen Chor kann ich nicht einstimmen. Denn der „Fall“ Lünstroth spielte auf einer weitaus weniger spektakulären Ebene. Nach meiner Kenntnis der relevanten Fakten des arbeitsrechtlichen Falls ging es hier ersichtlich nicht um eine Gefährdung der Pressefreiheit. Es ging auch nicht um Zensur, also um die Unterdrückung von Nachrichten oder zulässiger Meinungsäußerung.

Zunächst standen – ganz alltagspraktisch – berufsethische und arbeitsrechtliche Fragen im Raum, mit denen jeder Redakteur konfrontiert sein kann, wie ich aus eigener Erfahrung als früherer Konstanzer Lokalchef des Südkuriers weiß. Die Fragen lauteten: Hatte der engagierte Autor Lünstroth in mehreren Berichten Kommentar und Nachricht vermischt, hatte er, wie die Stadtverwaltung vortrug, Fakten zum Fall „Scala“ ausgelassen, einseitig berichtet und damit die presserechtlich gebotene Sorgfaltspflicht verletzt? Und: Hatte er einen Text ohne Absprache mit seiner Redaktionsleitung ins Blatt gehoben und damit eine Verletzung seiner Dienstpflichten begangen?

Das war der arbeitsrechtliche Vorwurf seines Arbeitgebers, der deshalb auf übliche Weise abgemahnt und seinen Redakteur für einige Zeit aus der journalistischen Tagesproduktion abgezogen hat. Damit muss jedoch rechnen, wer seiner Leserschaft Tag für Tag gedruckt vorhält, was richtig und falsch sei. Journalisten – auch dafür mache ich eigene Erfahrung geltend –  neigen jedoch dazu, selbst alltägliches eigenes Versagen zu negieren und in ein Versagen der Mächtigen umzudeuten: Danach ist immer gleich die Pressefreiheit in Gefahr, wenn die Arbeit eines Redakteurs kritisiert, an Grundsätzen des Arbeits- oder Presserechts gemessen und sanktioniert wird.

Im konkreten Fall hat Michael Lünstroth sachlich reagiert: Er hat der Abmahnung unter Hinweis auf die seiner Ansicht nach unklaren Verfahrensabläufe in der Redaktion widersprochen und er hat auch in Bezug auf die Vorlagepflicht von Texten eine andere Sachverhaltsdarstellung vorgetragen. Er hat jedoch nicht gegen die Abmahnung geklagt, weil er eine Eskalation bewusst vermeiden wollte.

Kaum einer der Großkritiker des Südkurier – dem man ja durchaus vorwerfen kann, im Lokalteil seit einiger Zeit etwas blutleer und geschichtenarm geworden zu sein – hat diesen rechtlich relevanten Sachverhaltsfragen die gebotene nüchterne Aufmerksamkeit gewidmet. Stattdessen wurde über Fakten munter spekuliert, ganz nach Goethes ironischem Rat an Winkeladvokaten: „Im Auslegen seid fleißig und munter, legt Ihr nichts aus, so legt Ihr was drunter.“

Die in Teilen schrille Kampagne zugunsten des vermeintlichen oder tatsächlichen Opfers von Chefredakteurs- und Verlegerwillkür dürfte dem engagierten Redakteur im Innenverhältnis sogar zusätzlich geschadet haben: Wenn noch eine Vertrauensbasis bestanden haben sollte, war sie durch diesen Schlachtenlärm extrem gefährdet. Ohne die „Rettet den Lünstroth“-Kampagne hätte Michael Lünstroth, der lange Jahre den vollen Rückhalt seines Chefredakteurs genoss, diesen Konflikt mit seinem Arbeitgeber schadlos überstanden und wäre nach Abklingen der Erregung in seine alte Tätigkeit zurück gekehrt – auch deshalb, weil er eine der sprachbegabtesten und – auch das sei gesagt – wenig zimperlichen Federn des Hauses war. So aber sah sich der Südkurier zuletzt bundesweit als angeblichen Killer der inneren Pressefreiheit an den Pranger gestellt: Für einen ehrgeizigen Chefredakteur, der Zeitungspreise sammelt wie andere Leute Tankgutscheine, war das keine gute Imagepflege.

Nach dieser Kampagne gab es kein Zurück: Der lokale Kulturredakteur Lünstroth mutierte zwar zum Medienstar der SWR-Landesschau, im Hause Südkurier aber war der Ofen aus. Jetzt meinen einige Kämpfer für die Pressefreiheit, der Konstanzer OB trage, weil er interveniert habe, die Schuld an Lünstroths höchsteigener Kündigung. Mittelbar unterstützen sogar die beiden Hochschulrektoren diese Sicht, haben sie doch ihre Unterschrift unter einen entsprechend flammenden Appell ihrer Pressereferenten gesetzt.

Das allerdings ist ziemlicher Unsinn, denn tatsächlich dachte der politisch linksliberal positionierte Lünstroth schon längere Zeit daran, das liberal-konservative Regionalblatt eines Tages zu verlassen. Auf das goldene SK-Treueabzeichen, das in Ehren ergraute Redaktionssoldaten erhalten, legte er jedenfalls keinen besonderen Wert. Dann kam der Zoff und nun hat er etwas Besseres gefunden und geht. So etwas kommt vor, die Pressefreiheit in deutschen Landen ist durch die Causa Lünstroth jedenfalls in ihren Grundfesten nicht erschüttert worden.

Ausgehöhlt wird sie allerdings durch andere Entwicklungen, die unsere Medien seit Jahren zunehmend prägen: Durch den Zwang zur immer eiligeren, skandalisierenden, dramatisierenden und damit bewusst verkürzenden Boulevardisierung der Texte und durch einen pseudo-investigativen Belastungsdruck, der zunehmend die Herrschaft des Verdachts gegen das sorgsam abwägende Urteil begründet. In manchen seiner Texte ist auch Michael Lünstroth solchen Strömungen erlegen.

Manche Kritiker von Lünstroths vermeintlich skandalöser Demontage aber werden beim nächsten Südkurier-Jubiläum wieder brav vor dem Buffet anstehen und hoffen, später mit auf dem Bild zu sein. Das könnte bitter werden. Herbert Wehner, der berühmte Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag, rief 1975 der CDU-Fraktion, die wütend den Plenarsaal verlassen hatte, einst nach: „Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen.“

Tobias Engelsing (Der Autor des Gastbeitrags [s. Foto] war von 1992 bis 2006 Leiter der Südkurier-Lokalredaktion Konstanz. Seither ist er Direktor der Städtischen Museen.)