Kein Kuschelkurs gegenüber Erdogan
Schauen wir uns die Reaktion der deutschen Politik auf den Zivilputsch des türkischen Präsidenten Erdogan an, nehmen Hilf- und Ratlosigkeit zunehmend peinliche Züge an. Wir erleben in dem Nato-Land eine Gleichschaltungswelle wie nach dem Reichstagsbrand 1933. Hören wir aber die sanften Appelle des Bundesaußenministers, könnte man meinen, es gehe nicht um den Kern der Menschenrechte, sondern um eine Fußnote in einem Handelsabkommen.
Insofern ist es sehr zu begrüßen (und persönlich mutig), wenn Grünen-Parteichef Cem Özdemir Sanktionen gegen die türkische Regierung wie beispielsweise Kontensperren in Gespräch bringt, wenn diese den aktuellen Kurs nicht korrigiert. „Wenn Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte weiterhin außer Kraft gesetzt werden, müssen wir auf EU-Ebene auch über Sanktionen für das direkte Umfeld der Machthaber nachdenken, beispielsweise indem man Konten und Vermögen einfriert“, sagte Özdemir Bild am Sonntag vom 24. Juli 2016.
Wer aber ein Schwein schlachten will, braucht mehr als einen hölzernen Kochlöffel. Wer sich mit dem Diktator vom Bosporus anlegt, sollte statt symbolischer Gesten Klarheit und Entschlossenheit walten lassen. Will die EU nicht den Rest von Ansehen bei den eigenen Bürgern leichtfertig verspielen, sollte sie aufhören, sich noch länger was vorzumachen und über wirkungsvolle Maßnahmen gegen die türkische Führung nachdenken, die bisher Tabu sind.
Die Sanktionen können nur Erfolg haben, wenn sie zielgerichtet dort treffen, wo Erdogan besonders empfindlich ist und vor allem etwas zu verlieren hat, im Bereich der Wirtschaft und der Freizügigkeit. Seine Machtstellung beruht zu einem wichtigen Teil auf den Erfolgen seiner Wirtschaftspolitik als Ministerpräsident. Der russische Präsident Putin hat nach dem Abschuss seines Düsenjägers gezeigt, wie es geht. Nicht zuletzt durch die Blockade des Tourismus hat er seinen türkischen Kollegen bewogen, sich für den Abschuss zu entschuldigen und Besserung zu geloben.
Wirksame Maßnahmen
1. Unterbrechung der EU-Beitrittsverhandlungen
Die Beitrittsverhandlungen zur EU sollten sofort unterbrochen und das Flüchtlingsabkommen auch formell aufgekündigt werden. Wer selbst Menschen zur Flucht treibt, ist ein falscher Partner in der Flüchtlingspolitik. Scheinverhandlungen dienen weder der Klarheit der eigenen Position, noch sind sie geeignet, der türkischen Führung deutlich zu machen, dass es ohne Demokratie und Menschenrechte keine Gemeinsamkeit mit Europa geben kann.
Die Zusammenarbeit mit dem Nato-Partner Türkei sollte darüber hinaus auf das unabdingbar Notwendige reduziert werden. Die Stationierung von Nato-Einheiten, die gegen den IS eingesetzt werden, macht unter den gegenwärtigen Umständen wenig Sinn. Die strategische Bedeutung der Türkei wird nach dem Ende des Kalten Kriegs noch immer überschätzt. Eine Sicherheitslücke entsteht hier nicht, wenn die Luftraumüberwachung über dem syrischen Kriegsgebiet beispielsweise von Jordanien oder von Schiffen aus vorgenommen wird.
2. Aussetzung des EU-Türkei-Assoziierungsabkommens
Bei diesem Abkommen aus dem Jahre 1963 handelt es sich um einen äußerst sensiblen Bereich der Zusammenarbeit, dessen Aussetzung Erdogans Position in der Türkei fühlbar schwächen würde. Ziel und Zweck des Abkommens von 1963 waren die Gewährung der klassischen europäischen Grundfreiheiten, die Schaffung einer Zollunion sowie vor allem die vertraglich vereinbarten Aussicht der Türkei auf eine künftige EU-Mitgliedschaft.
Das Abkommen gewährt ein implizites Aufenthaltsrecht für türkische Staatsbürger in den Mitgliedstaaten der EU und darüber hinaus auch die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, eine Arbeitserlaubnis und in bestimmten Fällen auch das Recht auf einen umfassenden Familiennachzug. 1980 wurde vereinbart, dass „für Arbeitnehmer und deren Familienangehörige keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt“ beschlossen werden dürften. Türkische Staatsangehörige, die nach der 1980 geltenden Rechtslage arbeiten durften, dürfen dies auch heute uneingeschränkt im Gebiet der EU tun.
Der Europäische Gerichtshof stellte 1990 (C-192/89) klar, dass das Assoziierungsabkommen der Türkei mit der EU sowie die daran angeschlossenen Zusatzabkommen und die Assoziationsratsbeschlüsse seit ihrem Inkrafttreten „integrierender Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung“ geworden sind. Somit haben die Regelungen des Assoziationsrechts „Vorrang“ und entfalten in den Mitgliedstaaten eine „unmittelbare Wirkung“. Der nationale Gesetzgeber ist zur Umsetzung der Regelungen des Assoziationsrechts verpflichtet.
Ein Aussetzen dieser weitreichenden Regelungen würde Erdogan den Nimbus des unantastbaren und erfolgreichen Wirtschaftsführers nehmen. Die Wirtschaft des Landes würde empfindlich getroffen. Solange der Westen kuscht und zahlt, kann er auf der Grundlage einer gesellschaftlichen Mehrheit Zug um Zug seine Diktatur aufbauen. Das wird für die Menschen am Ende schlimmer als das – vorübergehende – Ertragen bestimmter Sanktionen und Unannehmlichkeiten.
3. Beendigung der Tätigkeit türkischer „Import-Imame“ in Deutschland
Erdogan und seine AKP versuchen, die Menschen mit türkischen Wurzeln als eine Art Fünfte Kolonne gegen die Aufnahmeländer zu missbrauchen. Nichts anderes hatten die Auftritte des Potentaten in Deutschland zum Ziel. Ein wichtiges Mittel, Macht über die Menschen mit türkischen Wurzeln zu behalten, ist die Religionspolitik. Nicht nur in Deutschland haben die türkischen Behörden eine islamisch geprägte Parallelgesellschaft hervorgebracht. 970 Imame aus der Türkei predigen in den rund 900 Moscheen, die Ditib, der größte islamische Dachverband, in Deutschland betreibt. Dieser Verband untersteht der türkischen Religionsbehörde Diyanet und diese direkt der türkischen Regierung.
Ditib wurde 1982 mit dem Ziel gegründet, alle türkischen Gemeinden unter ihrem Dach zu vereinen und sie auf den Staatsislam der Religionsbehörde Diyanet zu verpflichten. Die Imame der Ditib sind türkische Staatsbeamte mit allen Rechten und Pflichten. Bei Dienstantritt müssen sie einen Gesinnungstest ablegen, wie Karen Krüger in ihrem ausgezeichneten Artikel „Im Namen Erdogans“ (FAZ-Feuillton vom 24. Juli 2016) berichtet. Es ist, so Krüger, zudem bekannt, dass sie vor Parlamentswahlen in der Türkei in der Regel dazu aufrufen, für Erdogans AKP zu stimmen. Der hohe Stimmenanteil der AKP bei Deutsch-Türken in den letzen Parlamentswahlen von rund 60 Prozent ist insofern kein Zufallsprodukt.
Nicht nur in den Gemeinden der Ditib, sondern auch in den Moscheen der übrigen türkischen Verbände predigen fast ausschließlich Imame, die dafür aus der Türkei mit einem Touristenvisum einreisen. Ein Aufenthaltsrecht von bis zu fünf Jahren genießen lediglich die Ditib-Imame, die als Angestellte der Konsulate geführt werden, die anderen müssen früher zurück. Der von Krüger zitierte Religionspädagoge Rauf Ceylan hat für seine Studie „Die Prediger des Islam: Imame – Wer sie sind und was sie wirklich wollen“ (2010) Imame in Deutschland befragt. Prediger, die bereit sind, die Verse des Korans aus ihrem historischen Kontext zu lösen und zeitgemäß zu interpretieren, sind in Deutschland noch in der Minderheit und setzen sich kaum an der Basis durch. Viele junge Muslime wenden sich deshalb von ihren Gemeinden ab und der Religion im Privaten zu – oder dem Salafismus. Der ebenfalls zitierte Religionswissenschaftler Ourghi sieht hier völlig zu Recht eine „Gefahr für die Integration, wenn über die Zukunft der Religion unserer türkischen Mitbürger im Ausland entscheiden wird.“
Seit einigen Jahren bieten mehrere deutsche Hochschulen Studiengänge an, die zur Tätigkeit des Imams befähigen. Noch gibt es kaum Absolventen. Wie viele von ihnen einmal als Imame in Deutschland wirken können, ist ungewiss. Die Ditib hat schon vor geraumer Zeit angekündigt, ihre Imame auch weiterhin in der Türkei ausbilden zu wollen. Diese Aussicht verheißt nichts Gutes, sie ist eine Drohung.
Österreich zieht mit seinem neuen Islamgesetz Konsequenzen aus den genannten Problemen. Dort hat der erste Imam bereits das Land verlassen, weil er aus dem Ausland finanziert wurde und im Auftrag der türkischen Regierung gearbeitet habe. Die Ausländerbehörde verlängerte sein Visum nicht. Diese De-facto-Ausweisung droht Presseberichten zufolge weiteren 64 Vorbetern. Mit dem neuen Gesetz will die Regierung Österreichs den Extremismus bekämpfen und Regeln für einen Islam europäischer Prägung aufstellen. Es erscheint aber wohl fraglich, ob ein solches Gesetz nur für eine bestimmte Religion mit dem Grundgesetz vereinbar wäre. Das österreichische Gesetz leidet zudem unter einer Reihe von Schwächen, so dass auch über die Verfassungsmäßigkeit eine Übernahme nicht in Betracht gezogen werden kann. Richtig ist allerdings, die Tätigkeit der Prediger mit den gegebenen rechtlichen Mitteln besser zu kontrollieren und nach Möglichkeit so zügig wie möglich zu beenden.
4. Ditib und Co isolieren
Für deutsche Politiker, so bekannte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) unlängst, ist Ditib ein „unverzichtbarer Partner“: beim interreligiösen Dialog, beim Entwurf von Richtlinien im Religionsunterricht, bei der Integration der Flüchtlinge. „Unsere Gesellschaft wird immer vielfältiger und das ist eine große Chance“. Der Verein trage mit seiner Arbeit dazu bei, Vorbehalte abzubauen und die Menschen zu integrieren, die in Deutschland bleiben wollen, so die Ministerpräsidentin (Die Welt, 16. 02. 2016). Ein solches gänzlich unkritisches Verständnis von Partnerschaft ist wohl nicht allein Säkularen, sondern auch liberalen Muslimen suspekt.
Auch in Berlin macht der Fraktionsvorsitzende der SPD im Abgeordnetenhaus Reklame für einen Staatsvertrag mit den muslimischen Gemeinden. Das heißt nichts anderes, als Ditib wie eine Religionsgemeinschaft mit dem Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts zu behandeln. Dann sitzen sie – wie in Nordrhein-Westfalen und anderen Ländern – in den entsprechenden Beiräten, die über die Besetzung der Lehrstühle für Islamwissenschaften sowie den Inhalt der Lehre an den Universitäten entscheiden. Die bisherigen Erfahrungen mit dieser Praxis sind ernüchternd. Liberale muslimische Hochschullehrer werden behindert und verdächtigt. Unter den Augen der Bildungsbehörden befördert Ditib seine konservativ-reaktionären Lehrinhalte.
Die hier zur Diskussion gestellten Maßnahmen werden zu erheblichen – auch innenpolitischen – Konflikten führen. Die bisherige Kuschelpolitik ist allerdings nicht nur gescheitert, sondern auch geeignet, Europa der Lächerlichkeit preiszugeben. Wer nicht entschlossen für die Freiheit – auch in der Türkei – eintritt, wird sie womöglich auch andernorts aufs Spiel setzen.
Jürgen Roth (zuerst auf hpd.de erschienen)
… Und was die Haltung der EU und unserer Regierung gegenüber Erdogan anbelangt, muss klar sein: Menschenrechte sind nicht verhandelbar.
Wer die Abschaffung von international anerkannten Freiheitsrechten lediglich „mit Sorge“ betrachtet – um den nicht nur von Amnesty International längst als „illegal und skrupellos“ gebrandmarkten EU-Türkei-Flüchtlingspakt nicht zu gefährden und u.a. den NATO-Partner nicht zu verprellen -, anstatt dringend notwendige Sanktionen zu verhängen, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, Mitschuld zu tragen am schamlosen Aus-dem-Weg-Räumen aller Kritiker und Gegner von Erdogan. Muss sich auch den Vorwurf gefallen lassen, Erdogans Versuch, in der Türkei ein diktatorisches Regime zu errichten, durch Inkaufnehmen unterstützt zu haben.
Es war wichtig und richtig, dass der deutsche Bundestag – gegen den erklärten Wunsch der Spitzen von SPD und CDU – Anfang Juni 2016 die Resolution zum Völkermord an den Armeniern verabschiedet hat. Und sich damit auch der Mitverantwortung an einem der ersten systematischen Genozide des 20. Jahrhunderts gestellt hat: Das Deutsche Reich als enger Verbündeter der Türken im Ersten Weltkrieg war früh informiert über die Vertreibung und Ermordung der Armenier und anderer Minderheiten, unternahm aber nichts, um die Führung des Osmanischen Reiches zu stoppen, sondern nahm das Geschehen zumindest billigend in Kauf. Wir sollten nicht wieder 100 Jahre damit warten, uns unserer Verantwortung bewusst zu werden.
Da der gescheiterte Militärputsch in der Türkei manchen anscheinend vergessen lässt, dass unverhandelbare Menschenrechte in der Türkei bereits seit Jahren systematisch unterhöhlt und missachtet werden, die Anzahl der überschrittenen „roten Linien“ kaum mehr zu zählen ist, sei auf den Gastbeitrag von Can Dündar in der FAZ vom 25. Juli über den blutigen Rosenkrieg des ehemaligen Duos Erdogan-Gülen verwiesen. Can Dündar ist Chefredakteur der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“. Im Mai wurde er, nachdem Erdogan ihn persönlich angezeigt hatte, wegen Staatsgeheimnisverrats zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Zurzeit befindet er sich in Westeuropa.
Konstanzer Friedensinitiative
Der NATO-Vertrag (https://de.wikipedia.org/wiki/Nordatlantikvertrag) verpflichtet die NATO-Staaten auf die Erhaltung des Friedens, demokratische Prinzipien, das Völkerrecht, auf Rechtsstaatlichkeit und das Prinzip der Vereinten Nationen.
Die gegenwärtigen Maßnahmen der türkischen Regierung sind mit diesen Pflichten nicht vereinbar. Deshalb sollte nicht nur „die Zusammenarbeit mit dem Nato-Partner Türkei … auf das unabdingbar Notwendige reduziert“, sondern der Ausschluss der Türkei aus der Nato beschlossen werden.
Konstanzer Friedensinitiative