Kita Deutschland und Mama Merkel, die III.

Wie machtvoll ist nach dieser Wahl jetzt Angela Merkel und wie ohnmächtig das zerstrittene linke Lager? Die Verhältnisse sind glasklar: „Deutschland wird schwarz“, so ein Hörfunk-Journalist am Tag nach der Wahl. Angela Merkel, die Siegerin, wurde zum dritten Mal zur Kanzlerin gewählt; das dritte Mal sei, weiß der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte, „das mit Abstand schwierigste“.

Die Union – seit 2005 führende Regierungspartei – gewann etwa 3,5 Millionen Wähler (im Vergleich zur Wahl 2009) hinzu, liegt jetzt bei knapp 18 Millionen Wählern, schrammte mit 42 Prozent haarscharf an der absoluten Mehrheit im Bundestag vorbei und ist wieder eine richtige Volkspartei – und zwar die einzige in ganz Deutschland. Also: Schwarzes Deutschland. Alles richtig.

Aber, das Folgende ist auch richtig: Ihre Regierung wurde krachend abgewählt, denn die FDP stürzte unter die 5 Prozent-Hürde und damit aus dem Bundestag: Sie verlor vier Millionen Wähler. Nun sind die Analysen der Wähler-Wanderungen viel komplexer, aber diese gerade Linie ist trotzdem nicht falsch: Zuallererst hat die Union die Wähler zurückgewonnen, die sie im Jahr 2009 an die FDP `ausgeliehen` hatte. Noch eine Zahl, die den Glanz der greifbar nahen absoluten Mehrheit ermatten lässt: Etwa 15 Prozent aller Wähler sind wegen der 5 Prozent-Hürde im Bundestag gar nicht vertreten – ein historischer Höchststand. Die FDP scheiterte knapp, ebenso die neue national-liberale „Alternative für Deutschland“ (AfD), die Piraten erhielten 2,2 Prozent, mehrere Splitter-Parteien zusammen etwa vier Prozent. Allein deshalb reichten rein rechnerisch der Union letztlich bescheidene 42 Prozent, um fast an die absolute Zahl der Mandate im Bundestag heranzukommen.

45 Prozent des Wahlvolkes werden von diesem Bundestag nicht repräsentiert

Ein kurzer Einschub: Es fallen nicht nur 15 Prozent aller Wählerstimmen `unter den Tisch`. Den zahlreichen `Geht-wählen`-Kampagnen zum Trotz wählten lediglich 71,5 Prozent aller Wahlberechtigten; im Jahr 2009 waren es 70,8 Prozent. Mit anderen Worten: Etwa 45 Prozent des Wahlvolkes werden von diesem Bundestag nicht repräsentiert.

In Sachen `schwarzes Deutschland` muss noch der schwache Unterleib der `Mutti` der Nation – der CDU-interne Spitzname von Angela Merkel ist längst in die Alltagssprache eingegangen – berücksichtigt werden. In nur sechs von 16 Bundesländern stellt die Union den Ministerpräsidenten, und der in Hessen kann ihr schnell abhanden kommen, dann wären`s nur noch fünf. Die Länder spielen in der föderalen Bundesrepublik jedoch eine zentrale Rolle: Ohne die Zustimmung des Bundesrates kann die Bundesregierung kein wichtiges Gesetz durchsetzen. So bleibt Angela Merkel übrigens auch nichts anderes übrig, als eine Koalition mit der SPD einzugehen, muss sie doch die Mehrheit des Bundesrates für sich gewinnen.

Also: Deutschland ist nicht schwarz und Angela Merkel nur ein Schein-Riese. Stimmt auch nicht ganz. Denn die versammelte Opposition links des Mainstreams ist in den vergangenen zehn Jahren allein rein rechnerisch immer schwächer geworden. Die Zahlen: SPD, Grüne und die Partei Die Linke repräsentierten im Jahr 2005 etwa 51 Prozent der Wählerstimmen; damals sprach man sogar von einer `strukturellen linken Mehrheit`. Im Jahr 2009 war dieser Anteil bereits auf 46 Prozent geschrumpft und heute bringen SPD, Grüne und Linkspartei lediglich noch 43 Prozent auf die Waagschale. Das bürgerliche Lager rechts des Mainstreams kommt dagegen auf stolze 51 Prozent: Union plus FDP plus AfD.

Das ist allerdings ebenso eine rein rechnerische Mehrheit. Denn FDP und AfD sind in diesem Parlament nicht vertreten und mit der national-liberalen AfD ist auch in den Augen der Union ein ungeliebter `politischer Bastard` hinzugekommen; die AfD ist eine Ansammlung bürgerlicher Wissenschaftler, Publizisten und Mittelständler, die traditionelle Werte vertritt, ausgeprägt euro- und europa-kritisch ist und die Interessen Deutschlands im Sinne von Otto von Bismarck stärker hervorkehren will. So steht also das traditionelle bürgerliche Lager heute vor einer Dreiteilung, wie sie im linken Lager schon seit vielen Jahren Wirklichkeit ist.

Wenn das alles so diffus und widersprüchlich ist und Angela Merkel mehr Schein-Riese denn mächtige Siegerin – warum steht sie so glänzend über allem und allen?

Da ist ihr Stil. Es reicht, sie im Fernsehen zu erleben. Beispielsweise am Wahlabend: In der abschließenden Wahlsendung mit allen Spitzenkandidaten reicht ein hektischer ZDF-Chefredakteur Peter Frey eine Hochrechnung nach der anderen herein und fragt, Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vermutlich die absolute Mehrheit, wagen Sie es alleine zu regieren, nein, jetzt liegt knapp Rot-rot-Grün vorne, mit wem koalieren Sie, wagen Sie eine Minderheiten-Regierung, und wie …. . Angela Merkel lächelt milde, streicht Herrn Frey mit ihren Worten sanft über`s Haupt, wir warten jetzt das Ergebnis ab, ich freue mich über den Erfolg, ich werde umsichtig mit dem Vertrauen umgehen, ich bin sicher, es wird eine gute Lösung werden, wir werden eine stabile Regierung bilden, Sie müssen sich nicht sorgen, …, und zwischendrin flicht sie ein, es gebe gerade eine Bankenreform in Slowenien, da müsse man auch ein Auge darauf haben. Nach einer solchen Sendung weiß jeder und jede: Bei dieser seriösen hart arbeitenden Frau sind wir viel besser aufgehoben als bei diesen testosteron-geschwängerten Spitzen-Männern aus CSU, SPD, Grüne und Linkspartei.

Merkel an der Seite der Gewerkschaften?

Es ist nicht nur ihr Stil. Es ist ihr Umgang mit den in Deutschland herrschenden Interessen, Mächten und Erwartungen: Sie nimmt alle als gegeben hin, will nichts verändern, nur möglichst geschickt managen. Das ist ihr Anliegen. Ein Beispiel: Angela Merkel kämpft in diesen Monaten Arm in Arm mit der IG Metall und der deutschen Automobil-Industrie, um in ihren Augen zu harte Umweltauflagen der EU abzuwehren. Das empört sogar die wirtschaftsnahe „Frankfurter Allgemeine Zeitung“: In der war zu lesen, es sei doch beschämend, dass beispielsweise ein Unternehmen wie Daimler diese Umweltvorgaben nicht als ehrgeizige technische Herausforderung annehme, so wie Toyota dies bereits seit Jahren tue. Als Kanzlerin vertritt Merkel die Interessen von Unternehmen, Banken, ebenso wie für deutsche Gewerkschaften mit Hingabe und hohem Geschick den lieben langen Tag. Kein Wunder, dass zumindest die Industrie-Gewerkschaften schon früh signalisierten, eine Große Koalition unter einer Kanzlerin Angela Merkel sei doch vorzüglich.

So wie sie mit Macht und Interessen umgeht, so auch mit immer wieder entstehenden öffentlichen Erwartungen. Selbstverständlich nimmt sie diese auf: die breite Erwartung, es müsse einen Mindestlohn geben, der Abschied vom Atomstrom, mehr Frauen in Führungspositionen geben, gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare. Ihre politischen Gegner und Politikwissenschaftler nennen den Prozess `Sozialdemokratisierung` der Union. Ein Begriff, mit dem Angela Merkel mit Sicherheit nichts anfangen kann. Denn die Tatsache, dass die Union unter ihrer Führung so liberal wie die FDP und sozialer als die SPD unter dem Agenda 2010-Kanzler Gerhard Schröder geworden ist, hat für sie allein damit zu tun, dass es eben entsprechende Mächte, Interessen oder Erwartungen gibt, die so stark sind, dass sie berücksichtigt werden müssen. Ganz einfach. So ist Angela Merkel wie eine Tages-Mutter, die sich in der Kita Deutschland um jeden kümmert, der eine (ausreichend mächtige) Beschwerde oder ein (ausreichend mächtiges) Anliegen hat. Klar, dass sie die deutschen Besitzstände gegenüber den Bankrotteuren in der EU verteidigt, wie eine Löwin ihr Kleines.

Ein Wohlstands-Land in Krisenstarre

Zu diesem Inhalt – mit dem Bestehenden so hantieren, dass es bleibt, wie es ist – und diesem Stil gehört es selbstverständlich, das Wahlvolk in einem Wahlkampf mit solchen Problemen möglichst wenig zu behelligen. Da finden sich ja zwei: Für die Mehrheit des Wahlvolkes ist das völlig in Ordnung; 71 Prozent sagen, die wirtschaftliche Lage sei gut oder sehr gut, 73 Prozent sagen das über ihre eigene. Sicher, es wurde über den Mindestlohn diskutiert, aber doch nicht über Bankenmacht, das Risiko der dominierenden Export-Orientierung der deutschen Industrie, Geldentwertung, den maßlosen privaten Reichtum oder die Euro-Krise. All diese Fragen hätten ja auch mit Macht, Veränderung von Machtverhältnissen, eventuell mit der Zurückweisung mächtiger Interessen zu tun gehabt.

So wurde in diesem Wahlkampf noch einmal etwas festgeklopft, was zuvor schon sehr fest war: der weitaus mehrheitliche Wunsch, sich am Bestehenden festzukrallen, nichts zu verändern, weil jede Veränderung riskanter scheint als das Einfrieren der bestehenden Macht- und Interessen-Konstellationen. Ein Wohlstands-Land in Krisenstarre.

Am Niedergang der Grünen – in Umfragen lagen sie viele Monate bei bis zu 15 Prozent, am Wahlabend erzielten sie kümmerliche 8,4 Prozent – lässt sich das Beharren vorzüglich ablesen. Allein die Grünen waren – teilweise wider Willen – mutig: Sie schlugen vor, in öffentlichen Kantinen solle es auf freiwilliger Basis einen fleischlosen Tag geben, weil zu viel Fleischkonsum persönlich und gesellschaftlich schädlich sei. Das Ansinnen, einen Lebensstil zu ändern, stieß auf breite und entschiedene Vorbehalte einer `fleischfressenden Gesellschaft`. Und: Die oberen 10 Prozent sollten nach Ansicht der Grünen behutsam etwas höhere Steuern bezahlen, um das öffentliche Gemeinwesen zu modernisieren. Der Gegenwind gegen diese politische Selbstverständlichkeit war so stark, dass die SPD – mitten im Wahlkampf – ihre eigenen Steuererhöhungspläne spektakulär relativierte und die Grünen schmählich im Stich ließ.

Und jetzt, wie geht es weiter? Es wird in Berlin eine Große Koalition geben. Das kann noch dauern, weil die SPD pokert. Aber Merkel – siehe die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat – bleibt nichts anderes übrig, der `vaterlandstreuen` SPD auf Dauer auch nicht. Und: Es kann gut sein, dass in Hessen es erstmals eine Landesregierung aus Grünen, SPD und Linkspartei gibt. In Hessen hat man schon immer gerne Experimente gewagt. Und das Tabu der Zusammenarbeit mit der Linkspartei wird sowieso nur noch von und in Teilen der Führung der SPD gepflegt, die Oskar Lafontaine immer noch hassen, weil er die SPD gespalten habe.

Die Gesellschaft sieht bereits verwundert auf diese Haltung, die nur noch mit dem Besteckkasten der Psychoanalyse erklärt werden kann. Die Grünen werden sich verändern: weniger `links`, weniger sozial, auch offen gegenüber der Union, sie werden sich als Grenzgänger niederlassen. Das ist erkennbar ihre Lehre aus dem jetzigen Wahlergebnis. Das macht taktisch sogar Sinn: Schließlich haben sich die Grünen in diesem Wahlkampf um das Soziale und die Umverteilung allein deshalb so intensiv gekümmert, weil es das strategische Ziel von Grünen und SPD gab, der Partei Die Linke Stimmen wegzunehmen und aus dem Bundestag zu drängen.

Aber all diese Fragen sind unbedeutendes politisches Beiwerk im Vergleich zu der Botschaft dieser Wahl: Deutschland verharrt in seinem Wohlstand.

Autor: Wolfgang Storz (dieser Text erscheint in leicht gekürzter Fassung in der nächsten woz.ch)