Labours stille Revolution

seemoz-Corbyn2Seit dem vergangenen Samstag hat die britische Labour Partei einen neuen Vorsitzenden: Jeremy Corbyn. So links wie er war bisher kein Chef der ehemaligen – und vielleicht künftigen – Arbeiter- und Gewerkschaftspartei des Vereinigten Königreichs: Die Erfolgsgeschichte eines verkannten Hinterbänklers.

Sie hatten alles versucht, sie hatten gemahnt, getrickst und gedroht. Sollte der linke Hinterbänkler Jeremy Corbyn die Wahl zum Parteivorsitzenden gewinnen, dann sei die altehrwürdige Labour Partei dem Untergang geweiht. Dann drohe der Partei die Spaltung – wie damals Anfang der achtziger Jahre, als die Parteilinke um Tony Benn und Michael Foot über Einfluss verfügte. Dann würde Labour bei der Unterhauswahl 2020 noch katastrophaler abschneiden als im Mai.

Doch die Warnungen des Parteiestablishments nützten nichts: Corbyn, der es erst in allerletzter Minute auf die KandidatInnenliste geschafft hatte, gewann mit 59,5 Prozent auf Anhieb die Urwahl, an der sich knapp eine halbe Million Mitglieder und Sympathisanten beteiligten. Der bisherige Schattenminister Andy Burnham, lange Zeit als Favoriten gehandelt, kam als zweitplatzierter Kandidat auf 19 Prozent; Yvette Cooper und Liz Kendall landeten noch dahinter. Die Labour-Partei hat jetzt einen der radikalsten Vorsitzenden ihrer Geschichte.

Was war nicht alles über Corbyn gesagt worden. Seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen würden das Land in den Ruin treiben. Seine Pläne zur Wiederverstaatlichung der Bahn und der Stromindustrie seien linke Hirngespinste. Seine Anti-Austeritätspolitik könne sich der britische Staat nie und nimmer leisten. Seine Kritik an der Modernisierung der Trident-Atom-U-Boot-Flotte und an der Nato mache ihn zu einem Sicherheitsrisiko.

Über 16.000 Freiwillige

All diese Attacken auch aus den eigenen Reihen haben Corbyn nicht geschadet, im Gegenteil. Die Anwürfe der früheren Labourvorsitzenden Tony Blair und Gordon Brown bestärkten nur die KritikerInnen von New Labour, die zu Blairs Amtszeit scharenweise die Partei verlassen hatten – und plötzlich zurückkehren. Und die viele Jugendlichen, die in Corbyns Veranstaltungen geströmt kamen, interessierte das ohnehin nicht.

Für sie kam es eher darauf an, dass da einer gerade heraus das sagte, wofür und wogegen er steht: Für eine gerechtere Gesellschaft. Für Solidarität, auch mit den Flüchtlingen. Für eine konsequente Umwelt- und Klimapolitik. Gegen Fracking, gegen das Freihandelsabkommen TTIP, gegen die Bombardierung Syriens. Und dass da einer nicht seine Person in den Mittelpunkt stellte, sondern die Bewegung. „Egal, was am 12. September herauskommt – wir alle haben bereits die Politik der Partei geändert“, sagte Corbyn immer wieder. „Und wir haben die Politik besser gemacht.“ Auf ihn selber komme es da gar nicht so an.

Rund um seinen Wahlkampf entfaltete sich eine breite Basisbewegung. Über 50 000 BritInnen besuchten während des dreimonatigen Wahlkampfs eine von Corbyns 99 Versammlungen in durchweg völlig überfüllten Sälen. Hunderttausende folgten Corbyn auf Twitter und Facebook, über 16 000 Freiwillige engagierten sich für den Nordlondoner Politiker, der seit 1983 im Unterhaus sitzt. Und die Zahl der Parteimitglieder verdoppelte sich innerhalb eines Vierteljahrs auf über 440 000. Seit Jahrzehnten war das Interesse an Debatten über die Zukunft der Linken nicht mehr so groß gewesen.

Mehr als eine Ohrfeige

Das wuchtige Ergebnis, das alle überraschte, ist weit mehr als nur eine Klatsche für die Partei-Elite. Es stellt die parteiinternen Kräfteverhältnisse auf den Kopf. Es wird die politischen Auseinandersetzungen prägen. Der Wunsch nach einer Alternative, der sich in Griechenland und Spanien in Form von Syriza und Podemos Bahn brach, krempelt jetzt die Labour-Partei um. Und nicht nur sie.

Aber kann das gut gehen bei all der Feindseligkeit, die Corbyn aus den Reihen der Labourfraktion entgegenschlägt? Der neue Chef wird es schwer haben, trotz des massiven Mandats – schwerer noch als sein Vorgänger Ed Miliband. Miliband, der nach der Wahlniederlage im Mai zurückgetreten war, der hatte in manchen Punkten fortschrittlichere Positionen als die Partei vertreten und mehrere Jahre kämpfen müssen, bis es halbwegs akzeptiert war.

Wenn Corbyn den Widerständen zuvorkommen wollte – manche Parteikollegen hatten im Vorfeld von einem Putsch gesprochen, der im Falle von Corbyns Sieg nötig sein könnte -, musste er schnell handeln.

Sadiq Khan für London

Nur Stunden nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses am Samstag war Corbyn wieder unterwegs. Und zwar dort, wo er heimisch ist:auf einer Demonstration. Er sprach auf einer Flüchtlingskundgebung («refugees welcome») in London vor Zehntausenden, die ihn feierten, weil er von der Regierung die Öffnung der Grenzen verlangte. Am Tag darauf bekräftigte er sein Versprechen, dass künftig die Mitglieder über Labours Programm bestimmen – und dass er die wöchentliche Befragung des Premierministers demokratisieren werde. Am Montag stellte er sein Schattenkabinett vor, in dem erstmals mehrheitlich Frauen vertreten sind (sowie sein unterlegener Konkurrent Burnham und der Schattenaussenminister Hilary Benn, Sohn von Tony Benn). Und am Dienstag hielt er an der Jahreskonferenz der britischen Gewerkschaften eine Rede, die die Delegierten von den Sitzen riss.

Ob Corbyn eine Chance hat, den Führungswechsel in einen Politikwechsel umzusetzen, hängt vor allem von der Bewegung ab, die offenbar nicht zu stoppen ist. Innerhalb von nur zwei Tagen registrierte Corbyns Labour den Beitritt von 30 000 neuen Mitgliedern. Eine ähnliche Begeisterung hatte es vor einem Jahr in Schottland gegeben, als die Aussicht auf eine sozialere und solidarischere Gesellschaft viele Jugendliche und bis dahin scheinbar politisch Desinteressierte mobilisierte (und den schottischen NationalistInnen bei der Unterhauswahl im Mai einen Erdrutschsieg bescherte).

Wie sehr sich Labour in den letzten Monaten geändert hat, zeigte vergangene Woche auch die Nominierung des Kandidaten für die Londoner Bürgermeisterwahl. In der Abstimmung, an der sich über achtzig Prozent von Londons Labour-Mitgliedern beteiligten, setzte sich der linke Menschenrechtsanwalt Sadiq Khan gegen die frühere Ministerin Tessa Jowell durch. Die Wunschkandidatin der Parteispitze unterlag dem Sohn eines pakistanischen Busfahrers. Dessen Chancen, 2016 an die Stelle des rechtskonservativen Londoner Oberbürgermeisters Boris Johnson zu rücken, stehen gut.

pw