Mein persönlicher Verschwörungstheoretiker
Man liest überall von ihnen, dabei sind sie gar nicht so viele. Sie fallen nicht ins Gewicht. Politisch gesehen, sind sie unwichtig. Wir sehen uns mit ganz anderen Herausforderungen konfrontiert. Und laut sind sie auch nicht. Bei den Protestdemonstrationen der „Querdenker“, die geballt auftreten, aber ebenfalls nur eine winzige Minderheit darstellen, sind sie vermutlich gar nicht dabei: Die Verschwörungstheoretiker.
Warum also erschrickt man so, wenn man einem von ihnen begegnet – auf der Straße vielleicht –, und er stehen bleibt und zu sprechen anfängt? Keine Rede davon, dass er etwa brüllen würde. Er erhebt nicht einmal die Stimme. Er wirkt eher in sich gekehrt und bedrückt. Anders kann man es aber nicht sagen: Es ist jedes Mal ein Schrecken. Man braucht Tage, um ihn zu verdauen. Die Beklommenheit bleibt. Der Grund liegt auf der Hand. Er hat nichts zu tun mit unseren gewohnten, fernglasbestückten Gleitflügen über die politische Landschaft Deutschlands von West nach Ost und retour. Der Verschwörungstheoretiker, der einen da in aller Sanftheit und ziviler Nachdenklichkeit anspringt wie ein Tiger, ist nämlich ein alter Bekannter. Das ist der Schock. Und zwar ein ganz alter. Er gehört seit bestimmt zwanzig Jahren zu deinem engeren Bekanntenkreis, wenn nicht zu deinen Weggefährten, wenn nicht gar zu deinen Freunden. Er hat dir in all den Jahren viel von sich erzählt, auch Persönliches. Und du hast ihm viel vor dir erzählt, auch nicht bloß Berufliches. Aber jetzt ist er auf einmal ein Unbekannter. Er ist jedenfalls bis zur Unkenntlichkeit verwandelt. Einmal so nah, jetzt so fremd.
Orientierung
Was ist da passiert? Woher dieses grenzenlose Misstrauen unserem Staat gegenüber? Der die Pandemie aufbausche – oder gar auch nur suggeriere, erfinde –, um uns in Angst zu versetzen und zu unterwerfen. Weil der, dieser unser eigener, innerer Feindstaat, nämlich selber wiederum – hinter all seinen demokratischen Fassaden – abhängig, beherrscht, manipuliert, ferngesteuert sei von einigen wenigen mächtigen pharmazeutischen Konzernen, die um jeden Preis ihre Profite maximieren wollten. Die Diktatur, die so tut, als sei sie noch der alte Verfassungsstaat, ist nur das Ende einer Kette von wirtschaftlichen Machtzentren. Die Details – etwa zum Impfen, die vermeintlichen Belege, die dein Kollege nachschiebt, die „wissenschaftliche“ Literatur, die er dir anbietet – scheinbar ganz wie früher, da er auch schon immer der Belesenere von euch war – vertiefen nur deinen Eindruck, dass hier jemand inmitten vertrauter Praktiken und gelehrter Routinen in Wahrheit völlig die Orientierung verloren hat.
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Der Ball liegt bei dir. Du bist es, der sich jetzt zu entscheiden hat: Wenn du nicht auf deine alten Tage noch einen Affen von Möchtegern-Psychiater aus dir machen möchtest, bleibt dir nichts übrig, als dieses bodenlose Zerrbild unserer politischen Wirklichkeit zurückzuverfolgen – zurück bis dorthin, wo ihr noch beieinander wart, wo ihr euch noch – bei allen Abstrichen – gegenseitig als Geistesverwandte angesehen und anerkannt habt. Eine bloße Konstruktion, soviel muss klar sein: unweigerlich subjektiv, unrettbar hypothetisch, imaginär zusammengestoppelt. Du kannst in den anderen nicht hineinschauen. So wackelig es ist, du musst von der Verschwörungstheorie deines Kollegen auf die Kritik zurückgehen, die euch einmal verbunden hat – auf jene „Gesellschaftskritik“, um das aus der Mode gekommene alte Wort zu verwenden, mit der ihr beide einmal gestartet seid: im engeren oder weiteren Umfeld von „68“.
Gemeinsame Wurzeln
Der Punkt ist: Diese kritische Haltung zur kapitalistischen Gesellschaft und zur Demokratie in der Klassengesellschaft – der Absicht nach demokratisch im Sinne von politischer Freiheit und Gleichheit jedes einzelnen Bürgers – war und ist zu keinem Zeitpunkt jemals frei von Fehlern, Irrtümern, Entgleisungen. Frei von Selbstbetrug und sogar Verrat an den demokratischen Standards. Das ist eine durchaus typische Erfahrung. Das wissen viele aus ihrer eigenen politischen Biografie, die – falls sie schon etwas länger andauert – auch eklatant antidemokratische und menschenverachtende Phasen gekannt haben mag, wie etwa die Verherrlichung der Herrschaft von Mao Tse-tung über China. Ein Urteil, eine Wertung von einem ganzen anderen Kaliber der Verdorbenheit und der Wahnhaftigkeit, als sie die immerhin nicht selten libertär und humanistisch inspirierten Verschwörungstheorien in Corona-Zeiten aufweisen. Oder von heute her gesehen noch peinlicher: Man frage sich, falls man schon alt genug dafür ist, wie man eigentlich als bundesdeutscher Linker oder Linksliberaler zu der Massenflucht (per Boot übers Meer) aus Vietnam nach der Niederlage der USA stand (vgl. jetzt Gerald Knaus, Welche Grenzen brauchen wir? München 2020, Piper Verlag, Seite 96 ff.). Diese Flüchtlinge wurden überall im demokratischen Westen willkommen geheißen und gern aufgenommen, weil sie vor dem Kommunismus flohen. Der durchschnittliche bundesdeutsche Altachtundsechziger der 80er Jahre, der sich nicht zuletzt im Protest gegen den imperialistischen amerikanischen Vietnamkrieg politisiert hatte, dürfte freilich kaum zu den Fans von Rupert Neudeck gehört haben.
Lernfähigkeit
Der Punkt ist aber auch, dass Demokraten sich korrigieren können, sogar auch linke Demokraten – obschon diese offenkundig mühsamer als andere Leute. Demokraten können die Ideologie, in die sie sich für eine gewisse Zeit verrannt haben, aufgeben. Und sie können unter Umständen sogar ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Schutzbedürftigen dieser Welt abstreifen und hinter sich lassen. Das macht sie gerade aus. Auch das ist ein zeitgeschichtliches Massenphänomen – mit oder ohne Generationswechsel. Sie schaffen es erfahrungsgemäß immer wieder aufs Neue. Und zwar nicht, weil sie etwa über besondere Geisteskräfte verfügten, über ein Genie der Lernfähigkeit, blumig ausgedrückt. Sondern weil andere Demokraten, zu denen sie glücklicherweise Kontakt haben und mit denen sie kaum anders können als zu debattieren, ihnen dabei unter die Arme greifen. Die Kommunikation macht es. Wenn sie nur offen und kontrovers genug ist. Und sie macht es am besten, wenn es dabei keinen oder wenig Druck gibt. Und der von außen, in aller Ruhe und Freundlichkeit an einen Menschen herangetragene Zweifel eines Tages auf ihn selbst überspringt. Und sich bei ihm persönlich dann in eine mahnende innere Stimme verwandelt.
Ein Demokrat
Viel ist bei diesem kleinen Exkurs über Kritik und Demokratie nicht herausgekommen. Immerhin ist mir jetzt klarer, dass mein Verschwörungstheoretiker ein normaler, ein hundsordinärer Demokrat ist wie ich selber. Der aber das für uns alle unverzichtbare, existenzielle demokratische Spiel für sich abgebrochen hat. Oder unterbrochen und vorerst ausgesetzt, ich bin kein Hellseher. Die besagte innere Stimme des Selbstzweifels und der Selbstkritik muss er zum Schweigen gebracht haben. So hat ihn die Selbstgewissheit, wie sie gerade dem kämpferischen, mutigen Demokraten nie so ganz fern liegt, voll im Griff. Warum er das mit sich selber macht und sich auf diese Weise schwer beschädigt, weiß ich so wenig vorher. Kommunikation wird er genug haben, sicher auch Widerspruch finden. Er ist ja kein Heiliger, der irgendwo auf einem einsamen Felsen in der Wüste hockte. Es sei denn – was eher unwahrscheinlich ist, er habe sein reiches, vielschichtiges Umfeld inzwischen auf die gut vernetzte Sekte der Verschwörungstheoretiker verkürzt. Aber wenn ich mir das zu sagen herausnehme, dann muss ich auch sagen, dass mein Schrecken ziemlich schrecklich ist. Von destruktiver Wirkung nämlich auf die Debatte, die ich hier so beschwöre und hochhalte.
Ernst Köhler (Bild:Comfreak auf Pixabay)