Mit dem Audioguide auf Abwegen

Die neue Ausstellung „Stoff. Blut. Gold. Auf den Spuren der Konstanzer Kolonialzeit“ im Richen­talsaal und vor allem der dazu gehörende Audio­guide erwecken den Eindruck, als ob vor Ort, in Konstanz, zahlreiche „koloniale Spuren“ zu finden seien, die eine Verbindung der Stadt zur globalen Ausbeutung und Versklavung von Menschen seit dem 16. Jahrhundert dokumen­tier­ten. Dem widerspricht der Konstanzer Historiker David Bruder: Vieles sei Mutmaßung, so sein Resümee, haltbare Belege würden nicht präsentiert.

„Dekolonialer Stadtrundgang“ lautet der Titel eines Teilprojekts der Ausstellung „Stoff. Blut. Gold. Auf den Spuren der Konstanzer Kolonialzeit“ im Konstanzer Kulturzentrum. Er soll zu zwölf „repräsentativen Orten des kolonialen Gedächtnisses der Stadt, das vom frühen 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert reicht“, führen. Dies zu problematisieren bedeutet nicht, die Ehre einer Konstanzer Patrizierfamilie retten oder eine vermeintlich historisch unbefleckte Idylle bewahren zu wollen. Es sind sachliche Fehler einerseits und die mehrfach explizit formulierte antirassistische Agenda andererseits, die eine Kommentierung der einzelnen Stationen notwendig machen.

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Der Rundgang beginnt zwar buchstäblich naheliegend beim Münster („Münster: Wem gehört die Welt?“). Aber was hat das Münster mit dem Kolonialismus zu tun? Nach Anmerkungen zum Münster als Tagungsort des Konzils, hören wir, wie nicht einmal ein Jahrhundert später Papst Alexander VI. die Welt unter Spaniern und Portugiesen aufgeteilt hat, wie das Augsburger Handelshaus der Welser als Kreditgeber Karls V. in Venezuela aktiv wurde und sich dort bereichern durfte.

Dass der Papst die Welt aufgeteilt hat, wäre kein ausreichender Grund, im Konstanzer Münster eine „koloniale Spur“ zu sehen. Es sind die Welser, über die der direktere Bezug hergestellt wird: Schließlich gibt es nördlich an die Turmfront angrenzend die Welserkapelle. Die Domherren Matthäus und Severin Welser seien „Familienmitglieder“ gewesen. Nicht erwähnt wird, dass die Kapelle bereits im 15. Jahrhundert erbaut wurde. Ihren Namen erhielt sie, weil die Konstanzer Patrizierfamilie 1617 einen Altar stiftete, der nicht erhalten ist, und sie später als Grablege nutzte. Die Totentafel stammt von 1659. Inwiefern es sich bei der Welserkapelle nun um eine „koloniale Spur“ handelt, wird nicht erläutert.

Welserkapelle

Tatsächlich wird dann an Station 2 („Das Süddeutsche Klein Venedig in Südamerika“), der Welserkapelle, behauptet, „die Welser“ hätten ebendiese Kapelle „gestiftet“. Und damit wir uns ein rechtes Bild vom Kaliber dieser Welser machen können, werden sie als „die big player des frühen Kapitalismus, die Bezos oder Musks des 16. Jahrhunderts“ tituliert, worauf ein kurzer Abriss ihrer Sklavereigeschäfte folgt. Der Vergleich mit Bezos und Musk wirkt im Nachhinein dann immerhin nicht mehr peinlich, sondern herzerfrischend ironisch. Was den „konkreten Familienzweig der Welser hier in Konstanz“ und ihr Verhältnis zu dem Augsburger Zweig betrifft, wird lediglich auf eine „Schautafel“ in der Kirche verwiesen, die nicht weiterhilft.

„In Konstanz gibt es aber noch mehr Spuren der ersten deutschen Kolonie.“ Mit diesem Hinweis geht es weiter im Text, auch wenn überhaupt nicht klargeworden ist, worin genau der Bezug der Welserkapelle zu Venezuela besteht, da es weder zeitliche noch personelle Gründe gibt, einen solchen auch nur zu vermuten. Der Zweifel, dass es angemessen ist, Venezuela als erste „deutsche“ Kolonie zu bezeichnen, erscheint da eher nebensächlich.

Jetzt wird uns die Konstanzer Familie Ehinger vorgestellt. Heinrich Ehinger zeichnete Verträge für die Welser, darunter den Asiento de Negros, der Grundlage für die Verschleppung und Versklavung von Afrikanern lieferte. „Passenderweise“ befinde sich heute an der Stelle eines alten Wohnhauses der Ehingers, des Hauses zur Leiter, das Café „Heinrich“, das uns als nächste Station erwartet. Wer nicht weiß, dass sich der Name des Cafés auf Ignaz Heinrich von Wessenberg bezieht und sein Inhaber außerdem das „Wessenberg“ beim Kulturzentrum und das „Ignaz“ beim Bahnhof betreibt, muss annehmen, dort werde dieses Heinrich Ehingers gedacht.

Folgen wir der Nummerierung der Stationen, wäre Nummer 3 an der Reihe („Gold, Stoffe, Menschen“, ein Titel, der sich nicht ganz erschließt), ein Abstecher in die Katzgasse, wo die Schuler GmbH Edelmetalle an- und verkauft. Wir gehen gleich weiter zu Station 4, dem schon angekündigten Haus zur Leiter.

Portal Haus zur Leiter

Hier habe bis vor 125 Jahren, also 1896, „eines der Wohnhäuser der Familie Ehinger“ gestanden. Die Ehingers hätten mit einem „glanzvollen Umbau 1543 ihren Reichtum zur Schau“ gestellt. Es wird auf den wachsenden „politischen Einfluss“ der Familie verwiesen, ihre Nähe zu den Welsern und zum Kaiser. Wir hören von Georg Ehinger und seiner Gründung einer Niederlassung auf Hispaniola 1526, nicht aber, dass es sich um eine Faktorei der Welser handelte, in deren Auftrag er tätig wurde, was vielleicht nicht ganz unwichtig ist, auch wenn er sogar vor Ort war. Und wir hören von der Suche nach dem Eldorado und brutalen Eroberungs- und Raubzügen in Venezuela. Welcher Ehinger dort dabei war, erfahren wir nicht. Festgehalten wird dagegen: „Die Bevölkerung Amerikas ist multikulturell, vielsprachig, vielfältig und blickt auf eine sehr lange Geschichte zurück.“ Was diese Aneinanderreihung sehr aktueller Schlagworte zum Verständnis der Aktivitäten der Familie Ehinger oder speziell Georgs beitragen kann, bleibt unklar. Dagegen wird unsere Aufmerksamkeit nun auf das Portal vom Haus zur Leiter gelenkt, das heute im Rückgebäude des Rosgartenmuseums, in dem sich das Museumscafé befindet, eingebaut ist.

Damit sind wir an Station 5 mit dem blumigen Titel „Die Rosen des Konstanzer Sklavenhändlers“. Hier wird rundweg behauptet: „Dieses prachtvolle Portal der Familie Ehinger stammt aus der Zeit ihrer kolonialen Unternehmungen.“ Anders als heute wurde dort nicht Kaffee getrunken, sondern: „Vor gut 500 Jahren gingen durch diesen Eingang die Mitbegründer des globalen Sklavenhandels ein und aus.“ Es werden keine Namen genannt. Ist Georg gemeint? Der starb 1537. Oder Heinrich? Der starb auch 1537. Oder der im Audioguide bislang noch nicht erwähnte Ulrich? Auch er starb 1537. Wer aber stellte nun 1543 mit dem Portal seinen Reichtum zur Schau? Das bleibt offen.

Mehr noch: Glaubt man der Häuserkartei des Konstanzer Stadtarchivs, war das Haus zur Leiter im gesamten 16. Jahrhundert gar nicht im Besitz der Familie Ehinger. Dass „die Ehinger und Welser“ sogar „teilweise selbst an vorderster Front“ geritten sein sollen – Heinrich und Ulrich waren nicht in Amerika – ist für das Portal als angebliche „koloniale Spur“ also ohne Bedeutung. Und dass sie sich noch „lange, nachdem sie sich mit den Welsern 1530 zerstritten haben“, am Sklavenhandel „beteiligt“ haben, ist, selbst wenn es so war, für das Portal ebenfalls nicht mehr relevant, auch wenn die genannten drei Brüder sieben Jahre später starben und man sich fragen darf: Wie lang dauerte „lange“ eigentlich?

Gleichwohl wird am Schluss bekräftigt: „Die Familie Ehinger lässt Menschen aus Westafrika verschleppen. Zu dieser Zeit erwirbt sie auch das Haus zur Leiter. Die Ehinger sind tief in den transatlantischen Menschenhandel verstrickt. Die Verschleppung von mehr als 12 Millionen Menschen während der folgenden 300 Jahre bis zur Abolition, der Abschaffung der Sklaverei, hat also mit Konstanz zu tun.“ 12 Millionen Menschen, 300 Jahre, Konstanz – sollen hier die Hörerinnen und Hörer getriggert werden?

Hohes Haus

Eine Überleitung zu Station 6 („Hohes Haus: Steinreich“) gibt es nicht. Als Eigentümer während der Konzilszeit werden die Tettikofers genannt, aber die Ehingers hätten damals ebenfalls dort „residiert“. Zumindest findet sich ihr Wappen an der Fassade zur Zollernstraße (nicht, wie es im Audio heißt, in der Hohenhausgasse). Es gäbe andere Quellen, auf die man verweisen könnte, als eine Fassadenmalerei von 1936, wenn man sich für Besitzverhältnisse mittelalterlicher Häuser interessiert. Aber letztlich spielt es keine Rolle, ob die Ehingers dort im 15. Jahrhundert gewohnt haben. Erbaut haben sie das Hohe Haus nicht, es stammt vom Ende des 13. Jahrhunderts. Ob sie zur Zeit ihrer Geschäfte noch im Besitz des Hauses waren, wäre auch nicht von Belang. Allenfalls wenn sie es mit den gemachten Profiten erworben hätten, könnte man hier anknüpfen. Davon aber ist keine Rede, dennoch geht es weiter mit Ulrich Ehinger und seiner kolonialen Beute, die er testamentarisch seiner Frau Ursula vermachte. Er starb in Valladolid. Ursula überlebte ihn um ein halbes Jahrhundert, in Augsburg. Zur Erbschaft gehörten jedenfalls auch zwei schwarze Sklaven, Antonio und Diego, die nun stellvertretend für die „vielen tausend Menschen“ stehen, die Ulrich „versklaven ließ“.

Plötzlich sind wir bei der „Haussklaverei“, die ein „beliebtes Motiv der Fassadenmalerei“ gewesen sein soll. In Konstanz gebe es am Hotel Zeppelin ein Beispiel für dieses „System“. Ohne verstanden zu haben, was das Hohe Haus mit den Geschäften der Ehingers im 16. Jahrhundert zu tun hatte, werden wir zum Hotel Zeppelin geführt.

Während der Titel der 7. Station – „Fassade Zeppelinhotel: Malerei im Zeichen von Rassismus?“ – noch eine Frage formuliert, spricht der zu lesende Text des Audioguides eindeutig von „rassistischen Motiven“ und reklamiert für sich: „Dieses Audiostück ist ein erste[r] Versuch[,] die Malerei einzuordnen und die rassistischen Symbole zu deuten.“ Vermutlich handelt es sich zumindest wirklich um den ersten Versuch, sie so zu deuten, wie wir es uns dann anhören, nämlich als bloßen Ausdruck von Rassismus: „Auch wenn die Sklaverei im 20. Jahrhundert verboten war, konnte man offenbar auch in Konstanz Prestige aus rassistischer Erniedrigung von schwarzen Menschen ableiten.“

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Dass es im 18. Jahrhundert an europäischen Höfen sogenannte Kammermohren gab, muss in der Rückschau durchaus als rassistische Praxis gelten. Wie aber soll 1905, zur Zeit der Entstehung der Fassadenmalerei, „rassistische Erniedrigung“ als solche zum Prestigegewinn beigetragen haben? Wurde diese Praxis nicht gerade deshalb nicht problematisiert, weil man sie eben nicht als „rassistische Erniedrigung“ begriffen hat oder begreifen wollte? Fungierte der schwarze Diener, der die Speisen aufträgt, nicht einfach als Erinnerung an höfischen Luxus der Vergangenheit, der hier symbolisch den Gästen in Aussicht gestellt wird? Ähnlich wie Ganymed an der Fassade des Hotels Halm den Gästen olympische Behaglichkeit verspricht? Beeindruckten sich die europäischen Fürsten wirklich gegenseitig, indem und weil sie Schwarze rassistisch erniedrigten? Trifft diese Formulierung den Sachverhalt?

Darum scheint es gar nicht zu gehen. Weniger die historische Erklärung und Herleitung als unsere heutige Haltung und Selbstbespiegelung ist das Thema. Und spätestens hier drängt sich ein Begriff auf, der in letzter Zeit vermehrt in den Medien aufgetaucht ist: woke. Es gilt, ein Bewusstsein für das geschehene Unrecht zu schaffen. Es geht nicht um die Absicht, die den Maler oder Auftraggeber bewogen haben dürfte, sondern unsere Wahrnehmung und Betroffenheit. Wir können das Bild nicht als historische Fassadendekoration betrachten, sondern müssen es als Ärgernis aktualisieren, auf das hingewiesen werden muss. Vielleicht wird auch deshalb an die Kraniometrie erinnert, die Pseudowissenschaft der Schädelvermessung, die sich zur Zeit der Entstehung des Bildes an Universitäten etabliert, quasi eine Verwissenschaftlichung der rassistischen Erniedrigung, zu der ein schwarzer Diener als Sinnbild für Luxus im Widerspruch stehen würde.

Auch die folgende 8. Station, die Mohrenapotheke („Die Sache mit dem M“), steht im Zeichen der wokeness. Der Diebstahl des Anfangsbuchstabens der Schriftzüge an den Fassaden im Februar 2021 wird lediglich als Ausdruck dafür genommen, dass die „Debatte um die Umbenennung rassistischer Firmen- und Straßennamen“ in Konstanz angekommen sei. Ob es sich um einen „rassistischen“ Namen handelt, muss gar nicht mehr diskutiert werden.

Karikatur eines afrikanischen Häuptlings

Die Figur an der Hausecke wird als „Karikatur eines afrikanischen Häuptlings“ bezeichnet, weil sie heute einigen so erscheint. Auch hier wird aus der Befindlichkeit einiger in der Gegenwart ein Anspruch auf Deutungshoheit der Vergangenheit hergeleitet, mehr noch, die Notwendigkeit zu handeln, wenn es nämlich heißt: „Man muss die Frage stellen: Welches Gedächtnis bewahrt man, wenn man den Namen und die Figur der Apotheke ohne weitere Erklärung beibehält?“ Wenn aber, wie zuvor behauptet, das in der Figur verkörperte Stereotyp eine „verzerrte, negative und problematische Wahrnehmung“ schwarzer Menschen bewirkt, wie könnte dann eine Hinweistafel, wenn sie nicht zur Kenntnis genommen wird, etwas ändern? Welches Menschenbild kommt zum Ausdruck, wenn man glaubt, der Anblick einer derartigen Figur aus dem 18. Jahrhundert oder ein Wort, das nicht mehr zum aktiven Sprachgebrauch gehört, könne heute ohne Triggerwarnung rassistische Einstellungen oder gar rassistische Handlungen bewirken?

An der 9. Station kehren wir zu den Ehingers zurück („Haus Safran: Safran, das rote Gold“). Das Haus zum Safran an der Marktstätte bietet Anlass zu Ausführungen über den Handel mit dem teuren Gewürz. Auch die Ehingers haben mit Safran gehandelt. Der Handels- und Anbauvertrag, den Ulrich Ehinger und sein Partner Albrecht (im Ausstellungskatalog „Albert“) Cuon mit Karl V. schlossen, führt erneut zum Thema der Sklaverei: Auf den Plantagen in Mexiko arbeiteten Indigene. Aber der einzige Link zwischen dieser Tatsache und dem Gebäude, vor dem wir stehen, ist der Hausname. Nichts sonst verbindet die Ehingers mit dem Ort, an dem wir uns befinden. Erneut wird assoziativ eine Verknüpfung von Lokalität und Botschaft, die vermittelt werden soll, geschaffen. Aber nicht einmal als eine von den Ehingers unabhängige „koloniale Spur“ überzeugt die Station: Safran wurde keineswegs nur und auch nicht überwiegend in Kolonien angebaut.

Ehemalige Reichspost

Station 10 („Sparkasse: Weltherrschaft aus Konstanz“) schließt thematisch wieder an Hotel Zeppelin und Mohrenapotheke an. Die Köpfe an den Fenstern des Erdgeschosses der ehemaligen Reichspost werden als „weiteres Element kolonialer Architektur im Konstanzer Stadtbild“ vorgestellt. Welches die anderen waren, wüsste man gern. Wie der Mohr als „Karikatur“ werden auch die Köpfe als „karikaturhaft“ bezeichnet und wie beim schwarzen Diener auf die „Klassifizierung menschlicher Kulturen ihrer Physiognomie entsprechend“ als Kennzeichen des „modernen Rassismus“ verwiesen. Schon im Lesetext zum Audio ist vom „colonial gaze“ die Rede, nun erfahren wir: „Es ist der Blick der Kolonisatoren, der sich hier sehr prominent niederschlägt und im Zentrum der Stadt seinen Platz behält.“

Kein Wort über den sonstigen Fassadenschmuck, der sich wie eine Zusammenfassung der Aufgaben der Post lesen lässt, nichts über die Merkur-Figur und die weibliche Allegorie mit Hammer und Zahnrad, die für Handel und Gewerbe stehen, denen die Post als Bank Kapital zur Verfügung stellte. Kein Wort über Neptun mit dem Telegrafenmast, die weibliche Allegorie mit dem Posthorn und die telefonierenden Putten, die für unterschiedliche Formen der Telekommunikation stehen. Dementsprechend können die Köpfe auch nicht als Sinnbild für die völkerverbindende Funktion der Post gesehen werden, sondern als eines „erst für die Herrschaft über weltweite Postwege, jetzt für den weltweiten Geldverkehr“. Es genügt nicht die exklusive Zurichtung der Interpretation auf „koloniale Spuren“ aus dem Kaiserreich, auch zur Nutzung als Sparkassengebäude passt die angeblich kolonial kontaminierte Bauplastik.

Die vorletzte und 11. Station ist das Zeppelin-Denkmal am Hafen („Blick nach Südwesten. Hinter den Bergen“). Warum wir hier „nach Südwesten“ blicken sollen und was „hinter den Bergen“ liegt, bleibt ein Rätsel. Von Zeppelin wird behauptet, er gelte – Präsens, also in der Gegenwart – als „erlauchter“ Sohn der Stadt. Als das Denkmal 1920 errichtet wurde, mag das die Vokabel der Wahl gewesen sein, doch wer würde ihn heute so bezeichnen? Im Gegenteil. Die kritische Haltung des Direktors der Zeppelin-Oberrealschule führte schon nach dem Zweiten Weltkrieg zu ihrer Umbenennung in „Alexander-von-Humboldt-Gymnasium“. Auch wenn man Zeppelin kurze Zeit später wieder in milderem Licht sah und die Gewerbeschule – auf Wunsch der Schule – nach ihm benannte.

Wie unangemessen jedenfalls die vermeintlich noch aktuelle Heldenverehrung ist, wird sogleich deutlich gemacht: Die „Zerstörung Londons im Luftkrieg“ wäre ohne ihn nicht möglich gewesen. Nun hat Zeppelin zwar den Abwurf von Bomben auf London propagiert, und es fielen Bomben auf die britische Hauptstadt. Von einer „Zerstörung Londons“ kann allerdings keine Rede sein. Man sollte die Auswirkungen der Bombenabwürfe nicht verharmlosen, es gibt jedoch einen Unterschied zwischen dem Einsatz von Zeppelinen im Ersten Weltkrieg und den Flächenbombardements des Zweiten Weltkriegs, angefangen mit Rotterdam und Coventry.

Zeppelin-Denkmal

Damit nicht genug: Dass Zeppelin als Wieland der Schmied aus der nordischen Sage dargestellt ist, bietet einen weiteren Angriffspunkt: Dieser sei nach „Kapitalverbrechen“, nämlich der Vergewaltigung einer Königstochter und der Ermordung von deren Brüdern vor der Rache des Königs geflohen. Indem der Akt der Vergewaltigung im Audioguide vor die Ermordung der Brüder gestellt und die Vorgeschichte unterschlagen wird, entsteht ein groteskes Bild eines „Kapitalverbrechers“ ohne Motiv. Dabei nimmt Wieland seinerseits Rache am König, der ihn zuvor gelähmt hat. Abgesehen davon, dass es im Mythos oft wenig zimperlich zugeht und juristische Kategorien nicht hilfreich sind: Gedacht haben dürften die Zeitgenossen eher an Wielands Schmiedekunst und seine erstaunliche, im 20. Jahrhundert Wirklichkeit gewordene Leistung, sich als Mensch mit selbst geschmiedeten Flügeln in die Luft erheben zu können. Nach dieser skurrilen Assoziation verwundert es nicht, dass wir am Ende von Station 11 an Zeppelins Herkunft mütterlicherseits aus der Fabrikantenfamilie Macaire erinnert werden und einen über dem Bodensee fliegenden Zeppelin als „mobiles koloniales Gedächtnis“ verstehen sollen.

Bei Station 12, dem Inselhotel angekommen, erfahren wir abschließend: „Kirche und Kolonialismus stehen in Konstanz in engem Verhältnis.“ Es wird an den Beginn des Rundgangs beim Münster und die Ausführungen zur Welserkapelle erinnert. Aber was hat die Tatsache, dass die Familie Macaire hier um 1800 eine Indienneproduktion betrieb und sich am transatlantischen Dreieckshandel beteiligte, mit der Kirche als Gebäude oder Institution zu tun? Wie die Welserkapelle nicht von den Welsern errichtet wurde, gibt es auch bei der Dominikanerkirche aus dem 13. Jahrhundert keinen Bezug zum Kolonialismus. In Konstanz zumindest stehen Kirche und Kolonialismus also keineswegs in einem „engen Verhältnis“, zumindest lässt sich dieses nicht an den beiden Örtlichkeiten festmachen. Der Versuch, die nicht zu bestreitende Verstrickung der Kirche (als Institution) und ihrer Vertreter in den Kolonialismus an Baulichkeiten in Konstanz anschaulich werden zu lassen, ist das letzte Beispiel für das beständige Bemühen, Spuren zu behaupten, wo keine sind.

Wer für sich in Anspruch nimmt, aufzudecken, was angeblich jahrzehnte- oder jahrhundertelang beschwiegen, verdrängt oder vergessen wurde und stattdessen Desinformation betreibt, gleichviel ob absichtsvoll oder unabsichtlich, leistet der Sache – nämlich der Aufklärung – einen Bärendienst. Hier werden Hörerinnen und Hörer durch Framing in die Irre geführt. Erfreulicherweise folgt die Ausstellung im Richentalsaal nicht im selben Maße dieser Agenda. Allerdings bleibt auch sie eine Antwort schuldig auf die Frage, wo denn nun die Spuren in Konstanz zu finden sind. Rechtfertigt die Tatsache, dass die Ehinger-Brüder aus Konstanz stammten, die Rede vom „Black Bodensee“? Kann deshalb von einer „Konstanzer Kolonialzeit“ gesprochen werden? Auch im Katalog wird das Portal vom Haus zur Leiter irrtümlich als Beispiel für den Ehinger’schen Reichtum angeführt und ein männliches Reliefporträt über einem der Fenster ohne Quellenbeleg als „Ulrich oder Georg“ identifiziert. Dass Ausstellung und Stadtrundgang als Teil eines Projektes von Universität und HTWG Konstanz sowie der HS Kaiserslautern präsentiert werden, erzeugt Unbehagen angesichts der sachlichen Mängel und einer als tendenziös zu bezeichnenden Darstellung der Lokalgeschichte.

David Bruder (Text und Bilder)