«Nicht jede Bewegung muss das Rad neu erfinden»
Wenn früher ein König enthauptet wurde, war das Machtsystem kopflos, sagt der Bewegungsforscher Dieter Rucht (siehe Bild). Das ist heute nicht mehr so einfach. Und doch gibt es viele Faktoren, die das Entstehen von Bewegungen begünstigen.
Herr Rucht, Sie untersuchen als Wissenschaftler seit vielen Jahren soziale Bewegungen. Wenn Sie auf Deutschland schauen, dann sehen Sie doch einen politischen Friedhof, oder?
Dieter Rucht: Eindeutig nein. Das ist kein Friedhof; es tut sich einiges. Aber vieles wird in den Massenmedien und der breiteren Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Ihre Frage ist ein gutes Beispiel dafür.
Was tut sich denn?
Es gibt beispielsweise in einem bemerkenswerten Umfang Proteste und Aktionen gegen rechtsradikale Bewegungen. Wenn diese gegen Flüchtlinge vorgehen, stellen sich verlässlich Initiativen an die Seite der Flüchtlinge und Migranten. In Zahlen kann ich das nur grob schätzen. Aber es sind jeweils fünf- bis zehnmal mehr, die gegen die Rechtsradikalen demonstrieren als für sie.
Vergleichbar ist es beim Thema Energie: Gegen Atomkraft und für die erneuerbaren Energien und die Energiewende sind unverändert Hunderttausende aktiv; Millionen Bürger fühlen sich angesprochen und sympathisieren mit diesen Bestrebungen. Da macht sich bemerkbar, dass diese Gesellschaft um die Frage der Nutzung der Atomkraft über Jahrzehnte einen Konflikt ausgetragen hat, in dem sich viele Menschen positioniert haben.
Warum ignorieren die Massenmedien solche Aktionen weitgehend?
Zunächst einmal: Eine Rolle spielen diese Themen schon. Von Ignorieren kann keine Rede sein. Aber die Medien gehen sehr selektiv vor, sie picken sich das heraus, was neu, gross, spektakulär, originell oder mit Gewalt verbunden ist. Das liegt an den Mechanismen ihrer Nachrichtenauswahl. Und dabei fällt eben fast alles andere unter den Tisch.
Und das gilt für das Thema Rechtsextremismus wie für die Energiewende?
Das gilt für alle Themen. Denn die Massenmedien selektieren überall und fast immer nach denselben Kriterien. Beispiel Berlin: Es gibt in Berlin jedes Jahr etwa 4000 behördlich angemeldete Kundgebungen und Aufmärsche. Die Berliner Medien berichten über etwa ein Viertel bis ein Drittel dieser Ereignisse. Nur drei bis fünf Prozent dieser etwa 4000 Aktionen werden in irgendeiner Form auch in überregionalen Medien wahrgenommen.
Beim Rechtsradikalismus und dem Schutz von Flüchtlingen und Ausländern ist die deutsche Zivilgesellschaft also wachsam, aktiv und wehrhaft?
Ja, für dieses Thema können wir das feststellen. Es sind zwar oft wenige Aktive, die sich intensiv und auf Dauer damit beschäftigen – sie nehmen sozusagen die Position der Stallwache ein. Aber wenn etwas passiert, dann sind sie in der Lage, recht schnell Leute zu mobilisieren.
Ich will aber noch einmal auf die Medien zurückkommen. Einerseits berichten sie nur über einen kleinen Teil der tatsächlich stattfindenden Aktivitäten, weil sie sagen: «Das ist doch nichts Neues oder völlig belanglos.» Wenn also wenige Leute über Jahre hinweg eine aktive und wirksame Arbeit gegen rechts leisten, wird dieses Engagement für die Medien immer wertloser und verdient keine Aufmerksamkeit. Andererseits überschätzen und vergrössern die Medien neue oder spektakuläre Bewegungen oder Aktionsformen.
Ein Beispiel?
Occupy. Da gab es am Anfang eine sehr breite, intensive und wohlwollende Berichterstattung nach dem Motto «Toll, was diese jungen Leute da auf die Beine stellen!». Dann nahm der Reiz der öffentlichen Camps und der Konflikte um sie ab, die Berichterstattung versandete. Es wurde erkennbar: Da ist nicht mehr viel, da war letztlich auch nicht so viel gewesen.
Ein Beispiel für eine systematische Ausblendung ist hingegen das Thema Hartz IV. Seit 2004 finden in einigen Städten Hartz-IV-Montagsdemonstrationen statt. Die sind zwar seit Jahren sehr klein, manchmal nur ein oder mehrere Dutzend Demonstranten, aber immerhin. Das ist in den Medien nicht präsent, das interessiert nicht mehr.
Bleiben wir bei Occupy. Ein griffiger Slogan – «Wir sind die 99 Prozent» –, das aktuelle Desaster auf den Finanzmärkten, die ständig tiefer werdende Kluft zwischen Arm und Reich – warum wurde aus Occupy keine breite Bewegung, die Bestand hatte?
Der Slogan war griffig, hatte aber mit der Wirklichkeit wenig zu tun. Klar, wenn wir nur auf die Verteilung der Reichtümer schauen, dann gibt es das eine Prozent, das den grössten Teil des Kuchens an sich rafft. Bei genauerer Betrachtung stellen wir aber fest, dass unter den 99 Prozent zu unterschiedliche Interessen vertreten sind, als dass aus ihnen eine Massenbewegung hätte werden können. Da gibt es Studierende, die an ihren beruflichen Erfolg glauben, Rentner mit einem verlässlichen Einkommen, gut versorgte Beamte, überdurchschnittlich bezahlte Facharbeiter – die stehen nicht unbedingt mit den Bedrohten und Prekarisierten zusammen. Sie sehen zu grossen Teilen auch keinen Grund, gegen Verhältnisse vorzugehen, die ihnen einen privilegierten Status sichern.
Von der Aktion zur Analyse
Geboren 1946 in Kempten (Allgäu) wuchs Dieter Rucht – wie er selber sagt – in einfachen Verhältnissen auf. Nach seiner Schulzeit verpflichtete er sich freiwillig für zwei Jahre als Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Doch dann kamen der Vietnamkrieg, die Achtundsechziger Bewegung – und so verweigerte Leutnant der Reserve Rucht nachträglich den Kriegsdienst.
Diese frühen politischen Aktivitäten prägten auch sein wissenschaftliches Interesse. Dieter Rucht, der als der wichtigste deutsche Bewegungs- und Protestforscher gilt, studierte in München Sozialkunde, Sport und Politologie, promovierte über den AKW-Widerstand (sein Buch «Von Wyhl nach Gorleben» erschien 1980) und forschte später an der Harvard University, in Paris und an der University of Michigan. Von 1988 bis 1997 war er wissenschaftlicher Angestellter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), danach lehrte er als Professor für Soziologie an der Universität von Kent (Britannien) und kehrte 2000 an das WZB zurück, wo er von 2001 bis 2004 die Arbeitsgruppe Politische Öffentlichkeit und Mobilisierung leitete. Bis zu seiner Emeritierung 2011 war er Koleiter der WZB-Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa.
Heute ist Rucht Vorsitzender des Vereins für Protest- und Bewegungsforschung. Zu seinen bekanntesten Publikationen gehören «Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945» (2008, herausgegeben mit Roland Roth), «Berlin, 1. Mai 2002. Politische Demonstrationsrituale» (2003), «Nur Clowns und Chaoten? Die G8-Proteste in Heiligendamm im Spiegel der Massenmedien» (2008, herausgegeben mit Simon Teune), «Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen» (2001).
Seit einigen Jahren dreht Dieter Rucht auch Dokumentarfilme. Zuletzt porträtierte er vier AktivistInnen, die er zwei Jahre lang in ihrem politischen und privaten Alltag begleitete («Die Protestmacher», 2013). Pit Wuhrer
War es ein Problem von Occupy, kein Feindbild zu haben, gegen das mobilisiert werden konnte? Wer kennt schon «die Finanzmärkte»?
Das ist ein richtiger und wichtiger Punkt. Er ist jedoch nicht nur das Problem von Occupy. Die Welt der Handels- und Finanzmärkte, auch politische Verflechtungen beispielsweise innerhalb der EU – all dies ist fragmentiert und undurchschaubar, da es zahllose Akteure gibt, zu denen auch die Verbraucher, die Sparer und die Kleinaktionäre gehören. Zugleich ahnt man: Da tummeln sich auch grosse und mächtige Spieler, die zudem miteinander verflochten sind. Aber was sie genau tun, wie sie nun verflochten sind und wie sie ihre Interessen durchsetzen, weiss man nicht so genau. Dann entsteht der Eindruck, dass man überall und damit ebenso nirgends ansetzen kann. Das macht hilflos. Wir haben nicht mehr wie in absolutistischen Staaten einen König an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie; wurde er enthauptet, dann war – so zumindest der Eindruck – das herrschende Machtsystem kopflos. Wie aber sollte man Märkte enthaupten?
Einspruch. Man könnte doch problemlos die Deutsche Bank mit Anshu Jain an der Spitze zum entscheidenden Bösewicht machen, den es zur Strecke zu bringen gilt. Oder man spiesst Goldman Sachs als weltweite Krake im Dienst der Reichen auf.
Richtig. Partiell funktioniert das ja auch. Denken Sie nur an die Steuerhinterziehung von Reichen: Das wird dann zu einem grossen Thema, wenn es sich anhand einzelner prominenter Personen wie dem ehemaligen Postmanager Klaus Zumwinkel oder dem Fussballmanager Uli Hoeness greifbar machen lässt. Oder: Es gab und gibt immer wieder Kampagnen gegen bestimmte Unternehmen, beispielsweise gegen den Sportartikelhersteller Nike wegen der Arbeitsbedingungen bei den Zulieferern oder gegen Nestlé wegen der trickreichen Vermarktung industriell gefertigter Babynahrung in der Dritten Welt. Einzelne Konzerne werden dann stellvertretend für eine gesamte Branche angegriffen. Das funktioniert gelegentlich und zeitlich begrenzt. Richtig bleibt aber auch: Das sind weitgehend symbolische Handlungen, die das Ganze, das System, nicht treffen. Und weil das System diese Angriffe auf einzelne seiner Elemente ausgleichen oder abfedern kann, verändert sich am Ende nichts.
Vor der Bundestagswahl 2013 gab es ein sehr breites Bündnis von Organisationen, das sich für eine Umverteilung von Reichtum starkmachte. Umfragen zufolge befürwortet eine grosse Mehrheit der Bevölkerung die stärkere Besteuerung von hohen Einkommen und grossen Vermögen; SPD und Grüne vertraten diese Position auch im Wahlkampf. Das endete im Desaster: Es wurde nichts erreicht. Warum hat diese Kampagne nicht funktioniert?
Für diesen speziellen Fall habe ich keine schlüssige Antwort. Ich müsste über Lobbying, über inner- und zwischenparteiliche Machtverhältnisse spekulieren. Deshalb formuliere ich Ihre Frage in eine allgemeine um: Unter welchen Bedingungen funktionieren Bewegungen? Da gilt zunächst: Abstrakte Forderungen nach Umverteilung helfen nicht, das muss konkret ausbuchstabiert werden. Dabei muss aber eine Bewegung aufpassen, dass sie nicht im Hickhack der divergierenden Interessen stecken bleibt. Beim Begriff «Umverteilung» kommen in verschiedenen Köpfen ganz unterschiedliche Klingeltöne an. Betrachten wir die Beamten mit sicheren Stellen und guten Pensionen – sie werden kaum Vorkämpfer einer Umverteilung von oben nach unten sein. Deutschland, Frankreich oder die Schweiz haben kein Millionenheer von völlig entrechteten Proletariern auf der einen Seite und ganz wenige Reiche auf der anderen Seite.
Das ist alles sehr viel komplexer. Millionen von Menschen haben mehr zu verlieren als ihre Ketten. Konsens gibt es meines Erachtens nur über Folgendes: Fast alle wollen, dass die Ultrareichen, also die zigfachen Millionäre und mehrfachen Milliardäre, weit mehr abgeben als bisher. Dieser konsensuellen Erwartung steht jedoch ein Konsens der Skepsis entgegen. Die meisten Leute trauen der Politik gar nicht mehr zu, dass sie diese Reichen überhaupt noch erwischen will oder erwischen kann. Das Ohnmachtsgefühl ist überwältigend: Sofern die Politik überhaupt tätig wird, schafft sie nur minimale Korrekturen.
Wie funktionieren also Bewegungen?
Mir ist folgende Vorbemerkung wichtig: Ich kann zwar allgemeine Weisheiten postulieren, aber jeder Fall hat seine Besonderheiten. Es gibt kein wissenschaftlich fundiertes Erfolgsrezept, das man Bewegungsaktivisten auf den Weg geben könnte. Diese Einschränkung vorausgesetzt, komme ich auf die Frage zurück. Es muss ein reales Problem geben, das viele Menschen als solches empfinden, ein Unrecht oder einen Missstand. Und für dieses Problem müssen Verursacher als verantwortlich benannt werden können. Das ist der unabdingbare Rohstoff. Wenn ich dagegen als Arbeitsloser denke: Das ist eben Schicksal oder gar meine eigene Schuld. Dann wird daraus nichts.
Dies ist übrigens auch eine gesicherte Erkenntnis: Jene, die am meisten leiden, stehen bei den Protesten fast nie ganz vorne. Das führt zu einem weiteren Punkt: Es bedarf des Gefühls, dass es einem persönlich künftig schlechter gehen wird oder dass man, obgleich objektiv nicht so schlecht gestellt, im Vergleich zu anderen benachteiligt wird. Es protestieren also eher jene, die etwas zu verlieren haben oder etwas als ungerecht erleben. Als weitere Voraussetzung kommt hinzu: Die Menschen müssen sich in sozialen Netzen bewegen, sich kennen, treffen, austauschen. Sie müssen erfahren, dass sie mit ihrem Problem nicht allein dastehen.
Der direkte persönliche Kontakt ist auch in der Welt der sogenannten sozialen Netze und des Internets entscheidend?
Eindeutig ja. Ideal ist, wenn sich die potenziell Aktiven häufig und regelmässig treffen: in Fabriken, Universitäten, Volkshochschulen, Kneipen, also an Orten, wo Erfahrungsaustausch und Kritik möglich ist. Dann bedarf es zusätzlich der Organisatoren. Es müssen Leute da sein, die etwas in die Hand nehmen, einen Aufruf starten, sich um die Logistik kümmern. Wer nur jammert, der agiert nicht. Zudem müssen sich die Leute in wesentlichen Fragen einig werden, zumindest sich einig wähnen. Was ist das Problem? Wer ist der Schuldige? Was können wir tun? Haben wir überhaupt Chancen auf Abhilfe?
Von Vorteil ist zudem ein politisches «window of opportunity», also eine günstige Gelegenheit, beispielsweise ein Wahlkampf mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für das jeweilige Thema oder eine anstehende oder gerade getroffene politische Entscheidung. Ein letzter wichtiger Faktor: Ein möglicherweise zufälliges Ereignis, ein Polizeiübergriff, der Tod eines Demonstranten, ein Skandal – dadurch werden Mobilisierungsprozesse ausgelöst oder beschleunigt. Denken Sie an die AKW-Katastrophe in Japan oder an den brutalen Polizeieinsatz gegen die Baumschützer im Zusammenhang mit dem Stuttgart-21-Bahnprojekt. Das alles sind Faktoren, die für das Gelingen oder Misslingen von Bewegungen ausschlaggebend sind – Faktoren, die übrigens in allen Ländern und bei allen Themen gelten.
Wenn wir Ihnen so zuhören, dann war die Bewegung gegen Stuttgart 21 mustergültig, alle Faktoren waren erfüllt: die direkte regionale Vernetzung, das Problem, das viele betrifft, es gibt namentlich bekannte Schuldige, es gab Zuspitzungen aufgrund von Polizeiübergriffen. Aber dasselbe können wir von Occupy behaupten: das Desaster der Finanzmärkte, die verantwortlichen Banken und Hedgefonds, die Kosten der Krise für den Steuerzahler … Warum hat das eine funktioniert, das andere nicht?
Occupy bedeutete vor allem, sich auf Platzbesetzungen zu konzentrieren, daher ja auch der Name. Diese Aktionsform ist aber nur für sehr wenige Leute verfügbar. Berufliche Verpflichtungen, die Versorgung von Kindern, die Gewöhnung an Bequemlichkeiten stehen einer wochen- oder monatelangen Platzbesetzung entgegen. Dieser Protest war somit sozial sehr exklusiv. Zudem: Occupy wollte alle Teilnehmer gleichberechtigt beteiligen, wollte keine Strukturen, keine Delegierten und keine Sprecherrollen. Das ist zwar ehrenwert, aber führt meist zu endlosem Palaver. Da Strukturen als formalistisch und überholt galten, wurden auch Allianzen verweigert. Beispielsweise mit Attac. In den Augen der Occupy-Leute war Attac schon wegen seiner festen Organisationsstrukturen Teil der alten Politik, die es abzulösen gilt.
Hinzu kam eine Selbstüberschätzung. Man nahm sich selbst sehr wichtig, auch wegen des anfänglichen Medienechos. Wir reden in Deutschland von nicht mehr als einigen Hundert Aktivisten. Und auch die unterstützenden Demonstrationen kamen nicht über 10 000 bis 15 000 Teilnehmer hinaus. Dazu gesellten sich wachsende Probleme auf den besetzten Plätzen, denn da campierten nach einigen Wochen nicht nur politisch Aktive, sondern auch Obdachlose, Drogenabhängige, Romafamilien. Das griffen die Medien und vor allem die politischen Gegner der Besetzer gerne auf. Zudem gab es Dauerkonflikte mit den Behörden, das Damoklesschwert der drohenden Räumung, wachsende Ernüchterung und Erschöpfung. Und von Anfang an waren die Aktiven sehr heterogen, hatten keine gemeinsame Vorgeschichte, waren teilweise politisch völlig unerfahren. Somit musste Occupy eine Eintagsfliege bleiben.
Warum haben es dann die Indignados in Spanien mit ihren Platzbesetzungen geschafft?
Die dortigen Probleme sind ungleich massiver und betreffen viel mehr Menschen. Es gab somit grossen Rückhalt in der Bevölkerung. Die Bewegung strahlte in viele Regionen Spaniens aus. Dort kam es dann zu Folgeaktionen, und zwar nicht nur zu Platzbesetzungen. Und die Bewegung hatte einen konkreten Gegner: Sie attackierte die als korrupt und unfähig angesehene spanische Regierung. Das war eine grundsätzlich andere Situation als in Deutschland.
Ob Finanzmärkte, Reichtum, Flüchtlinge, Rechtsradikale, Stuttgart 21 oder Energiewende – wann ist eine Bewegung für einen Bewegungsforscher eine gute, wann eine schlechte Bewegung? In Hamburg gab es vor zwei, drei Jahren eine klassische Mittelschichtbewegung, der es via Bürgerbegehren gelang, eine Schulreform, die mehr Gleichberechtigung und mehr Hilfe für sozial schlechter gestellte Kinder zum Ziel hatte, zu Fall zu bringen.
«Gut oder schlecht» ist keine wissenschaftliche, sondern eine politische Frage. Aber die Wissenschaft kann analysieren: Verfolgt die Bewegung nur egoistische Ziele? Beispiel: Eine Bürgerinitiative wendet sich gegen eine Müllverbrennungsanlage in ihrem Viertel. Wenn sie lediglich das Problem woandershin verlagert wissen möchte, kann das schon als egoistisch gelten. Aber es gibt auch Leute, die sich Gedanken machen, wie man Abfall wiederverwerten kann, wie die Müllberge zu reduzieren sind und an welchem Standort eine Verbrennungsanlage die geringsten Belastungen mit sich bringt.
Und es gibt Leute, die aus ihrem Protest keinen Vorteil ziehen können und wollen. Beispiel: Westliche Aktivisten versuchen, einem Indianerstamm, dessen Gebiet durch die Ölförderung verwüstet wurde, zu einer Entschädigung durch den verursachenden Ölkonzern zu verhelfen. Viele Leute sind anwaltschaftlich und unbezahlt für andere aktiv, investieren dafür Zeit und Geld. Sicherlich haben sie als Lohn eine innere Befriedigung, finden vielleicht auch soziale Anerkennung. Aber sie sind keine Egoisten, sondern wollen Schwächeren helfen.
Welche Art von Bewegungen nehmen zu: die egoistischen oder die nicht egoistischen?
Zahlen dazu gibt es nicht. Mein Eindruck ist, dass weder in die eine noch in die andere Richtung nennenswerte Entwicklungen stattfinden. Man muss auch berücksichtigen, dass Bewegungen in Zyklen verlaufen. Es gibt einige Wissenschaftler, denen zufolge die Zyklen der Bewegungen mit den grossen ökonomischen Zyklen zusammenhängen. Feststellbar sind Phasen von Aufbruch und Euphorie einerseits, gefolgt von Phasen der Defensive, der Ernüchterung, vielleicht auch des Rückzugs in das Private andererseits.
In welcher Phase sind wir jetzt?
In Deutschland gab es in den letzten Jahren eine Phase des Aufbruchs. Angestachelt und beflügelt vom Protest gegen Stuttgart 21, haben andere Initiativen sich dies zum Vorbild genommen. Diese Phase klingt jetzt ab. Ich habe keine aktuellen Zahlen, aber Eindrücke. Das sogenannte Protestvolumen, also eine Kombination von Anzahl der Proteste und Anzahl der Protestteilnehmer, war ab 2000 rückläufig. Dann gab es vermutlich von etwa 2009 bis 2012 eine Zunahme. Derzeit sind wir wohl in einer Phase des Abschwungs, wenngleich auf noch relativ hohem Niveau.
Was sind die Gründe für diese Konjunkturen?
Manchmal hängt eine solche Konjunktur an einem konkreten politischen Vorhaben. Denken Sie an die Welle der Friedensbewegung in Reaktion auf den Nato-Doppelbeschluss oder die Welle der Antiatomkraftbewegung in den siebziger und frühen achtziger Jahren in Deutschland, als der Bau weiterer atomarer Anlagen anstand. Proteste können auch zunehmen, wenn – wie im Fall vieler Ostblockländer in den achtziger Jahren und der Proteste in Nordafrika seit 2011 – politische Systeme insgesamt instabil werden, an Rückhalt verlieren und/oder Repressionsversuche nicht mehr abschrecken, sondern vielmehr weiteren Protest anheizen.
Gilt für politische Bewegungen eine ähnliche Regel wie für ökonomische Kämpfe, etwa Lohnstreiks? Diese nehmen ja eher zu, wenn sich die Konjunktur bessert.
Politische Bewegungen stehen oft in Widerspruch zu den herrschenden Mehrheiten. In der Regel wird unter konservativen Regierungen mehr protestiert als unter linken oder sozialdemokratischen. Das liegt daran, dass das aktivistische Potenzial eher links orientiert ist. Die Linken sind auch artikulationsmächtiger, können besser mit Medien umgehen.
Gibt es eine soziale Kluft unter den Protestierenden? Jene, die arm an Bildung und Geld sind, bewegen sich nicht, sie kommen in den Bewegungen nicht vor und damit auch nicht ihre Themen?
Da ist was dran. Aber das heisst nicht, dass Bewegungen die Brot-und-Butter-Themen ignorieren würden. Heute spielen diese Themen eine grössere Rolle als in der Phase von den sechziger zu den achtziger Jahren. Flüchtlingsthemen sind ja auch wirtschaftliche Themen, denn wer Flüchtlinge abwehrt, tut dies auch mit dem Argument: Die nehmen uns Wohnungen und Arbeit weg. Bei Flughafenprojekten spielt oft die Entwertung von Grundbesitz und Wohnungseigentum eine wichtige Rolle. Die Zusammensetzung der Protestierenden ist somit anders als bei Protesten gegen Sozialkürzungen.
Könnte aus dem Thema Burn-out eine Bewegung werden?
Ein Fixpunkt für eine neue Bewegung, denke ich, kann dieses Thema nicht werden. Allerdings kann ein solches Thema in ganz andere Konflikte am Rand oder in verdeckter Form mit einfliessen. Bei Stuttgart 21 geht es zum Beispiel nicht nur um den Bahnhof, sondern um die Frage nach Demokratie und die Frage: Was ist Fortschritt, was ist Modernität? Ist die Verkürzung von Reisezeiten, eines der zentralen Argumente für Stuttgart 21, denn so wichtig? Geht es mir persönlich damit besser? Oder leben wir immer hektischer, werden immer mehr zu Getriebenen, wie es eben auch am Arbeitsplatz erfahren wird? Ein anderes Beispiel sind die Proteste gegen G8, die auf acht Schuljahre verkürzte Gymnasialzeit. Die Einführung wurde mit der internationalen Wettbewerbsfähigkeit begründet. Manche Eltern fragen sich: Was bringt das, wenn unseren Kindern in noch kürzerer Zeit noch mehr Stoff eingetrichtert wird? Führt diese Art von Rationalisierung und Modernisierung nicht zu mehr Stress? Auch da fliesst das Thema Burn-out indirekt ein.
Derzeit verhandeln die EU und die USA das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP, das Rechte und Schutzbestimmungen aushebeln soll. Taugt TTIP für eine erfolgreiche Gegenkampagne, oder ist das Thema zu komplex?
Es ist ein schwer durchschaubares Thema. Welche Rechte haben Konzerne gegenüber Staaten? Welche Produkte dürfen aufgrund welcher Standards angeboten werden? Wer ist Richter? Der Normalbürger mag erst einmal denken, das habe mit seinem Alltag nichts zu tun. Zudem wird geheim verhandelt. Auch sind die vorhandenen Informationen widersprüchlich. Wem soll ich also glauben? Das erschwert das Entstehen einer starken Bewegung gegen TTIP.
Andererseits gibt es eine Vorgeschichte, aus der Lehren gezogen werden können: Mit dem Multilateralen Investitionsabkommen (MAI) sollten Investitionen von Konzernen erleichtert werden. Dagegen gab es politischen Widerstand. Das ebenfalls geheim verhandelte Abkommen scheiterte 1998 – und zwar nicht primär am ausserparlamentarischen Widerstand, sondern am Nein der französischen Regierung. Diese Auseinandersetzung ist im Gedächtnis der Bewegungen als Erfolg verbucht worden. Dann gab es die Auseinandersetzung um Acta, also um die Frage, wie das Urheberrecht im digitalen Zeitalter beschaffen sein soll. Etwas platt gesagt: Gehören geistige Güter den Konzernen oder der Allgemeinheit? Auch da gab es einen Erfolg der Kritiker und Gegner von Acta.
Weiterhin haben sich im vergangenen Jahr mehr als 1,5 Millionen EU-Bürger gegen eine weitere Privatisierung des öffentliches Gutes Wasser ausgesprochen. Es gibt also eine Vorgeschichte an Aktionen, die sich um die entscheidende Frage drehen: Was darf wenigen gehören, und was muss allen gehören? Müssen nicht solche Verhandlungsprozesse transparent sein? Müssen nicht Parlamente von Anfang an beteiligt werden? Inzwischen sind viele Menschen sensibilisiert für Fragen des freien Handels, seiner Vor- und Nachteile, für die Ungleichgewichte, die er mit sich bringt. Daran können diejenigen anknüpfen, die ausserparlamentarisch gegen das TTIP-Projekt vorgehen. Die Protestwelle rollt gerade an.
Bewegungen haben also ein Gedächtnis, das abrufbar ist?
Ich denke schon, auch wenn nicht alle Aktivisten um die Vorgeschichte wissen. Wird heute über die Vorzüge des Freihandels gesprochen, glaubt inzwischen die Mehrheit, dass es bei dieser Art von Liberalisierung wenige Gewinner, aber viele Verlierer geben wird. Das zeigt auch, wie wichtig es ist, dass Bewegungen ihr kollektives Gedächtnis, ihre mentalen und physischen Archive pflegen. Dann können auch die jüngeren Aktivisten wissen, wo und warum Bewegungen erfolgreich waren und wo und warum sie gescheitert sind. Nicht jede Bewegung muss bei null beginnen und das Rad neu erfinden wollen. Das kostet zu viel Zeit, wäre eine Vergeudung von Energien.
Wie passt Ihre Diagnose einer recht lebendigen Demokratie zu den folgenden Befunden: Die Gewerkschaften und Parteien verlieren Mitglieder und gewinnen keine neuen. Selbst bei der Bundestagswahl geht ein Drittel der Wahlberechtigten nicht zur Wahl. Bei Landtags- und Kommunalwahlen beteiligen sich noch viel weniger. Das sind doch Zeichen politischer Apathie.
Nein. Der Rückzug aus den Grossorganisationen korrespondiert mit der Zunahme bürgerschaftlichen Engagements. Vor allem bei jungen Leuten ist das sehr ausgeprägt. Die wollen mit Hierarchien und Geschäftsordnungen nichts zu tun haben. Dort, wo man schnell aktiv werden, aber auch wieder schnell weg sein kann, gehen junge Leute gerne hin. Attraktiv sind also lockere Formen, die zudem Gestaltungsmöglichkeiten bieten. Die Schwellen zum Rein- und Rauskommen müssen niedrig sein. Das Engagement verlagert sich von den Grossorganisationen hin zu diesen offenen und flexiblen bürgerschaftlichen Aktivitäten. Das allgemeine politische Interesse aber ist über die Jahre ziemlich stabil geblieben.
… und die geringer werdende Wahlbeteiligung macht Ihnen keine Sorgen?
Das ist schade, aber noch nicht bedrohlich. Bildung ist wohl die beste Prävention gegen sinkendes politisches Interesse. Es ist ja nicht so, dass sich diejenigen, die in Bewegungen aktiv sind, vom parlamentarischen System abwenden. Beispiel: Die Aktiven bei Stuttgart 21 gehen nach unseren Untersuchungen überdurchschnittlich zur Wahl.
Aber zeigt sich nicht bei Wahlen, wie tief die soziale Kluft sich in einer politischen Kluft niederschlägt? Wer nicht viel Zeit in Bildung investieren konnte oder arm ist, engagiert sich kaum in Bewegungen. Und jetzt zeigen Untersuchungen, dass die materiell unteren vierzig Prozent in Deutschland deutlich weniger zur Wahl gehen als die Mittel- und die Oberschicht. Das ist doch dramatisch.
Dieser Befund stimmt. Es ist aber kein Naturgesetz. Denken Sie an die die Sans-Papiers-Aktivitäten der illegalen Einwanderer in Frankreich. Das sind Benachteiligte und Ausgegrenzte, die sich zur Wehr setzen und aktivistische Selbstorganisationen aufgebaut haben. Bei einzelnen Hungerrevolten im Nahen Osten und in Lateinamerika gehen – eine markante Ausnahme von der Regel – die wirklich Armen auf die Barrikaden. Man muss nicht alles hinnehmen. Aber klar ist: In den Ländern des Westens dominieren die Mittelschichten das Protestgeschehen; die unteren Schichten sind weniger politisch interessiert und an Wahlen wie am sonstigen bürgerschaftlichen Engagement weniger beteiligt.
Haben wir also ein merkwürdiges Nebeneinander von politischer Bewegung und politischer Apathie?
Ich stimme Ihnen zu, dass es darauf ankommt, die Nahtstellen genauer zu betrachten, an denen sich Bewegung und Apathie berühren. Zu bestimmten Fragen gibt es viel Bewegung: Energiepolitik, Stuttgart 21, Finanzmärkte oder Rechtsradikalismus. Aber es gibt keine solche Themen überwölbende Auseinandersetzung; es fehlen grosse, die Einzelfragen übergreifende Konfliktlinien. Unsere Gesellschaften sind sehr heterogen geworden. Sie zerfallen in viele Milieus und Interessengruppen, die miteinander kaum mehr in Berührung stehen. Abstrakte Forderungen wie die nach mehr Solidarität oder Gerechtigkeit laufen ins Leere. Die Kategorisierung als Prekariat schafft noch keine Gemeinsamkeit des Handelns. Die Forderungen sind eher kleinteilig. Und wenn sie gross sind und an eine Utopie heranreichen, wie der Slogan der Globalisierungskritiker «Eine andere Welt ist möglich», dann sind sie so diffus, dass sie auch von Rechtsradikalen, religiösen Fundamentalisten oder Marktradikalen stammen könnten.
Wir kommen somit zu einem widersprüchlichen Befund: Soziale Bewegungen sind aktiv, die Demokratie ist lebendig. Aber zugleich gibt es auch Anzeichen für Stillstand und Ohnmacht. Viele bleiben Zuschauer oder ducken sich weg. Vielleicht bedarf es einer bestimmten Zeit, einer Phase der Reifung, damit sich aus den vielen kleinen Fragen und Konflikten der Gegenwart eine grosse grundlegende Auseinandersetzung über die Richtung des gesellschaftlichen Fortschritts herauskristallisiert. Ein solcher Reifungsprozess kann beeinflusst, aber nicht erzwungen werden. Da kommen eben auch im Voraus kaum berechenbare historische Konstellationen ins Spiel.
Welche Rolle spielt bei diesen Umschichtungen des politischen Engagements, die Sie zuvor konstatierten, das Internet?
Das Internet ist ein geniales Werkzeug, um Informationen schnell zu gewinnen und diese mit potenziell grosser Reichweite und hoher Geschwindigkeit zu verbreiten. In dieser Hinsicht ist es unschlagbar. Es birgt jedoch die Gefahr, dass es Leute animiert, sich mit Netzaktivitäten zufriedenzugeben. Ich klicke, also bin ich Protestierer. Das ist eine Soft- und Sofavariante des politischen Protests, der sogenannte «slacktivism».
Aktivisten diskutieren bereits darüber, ob die digitalen Möglichkeiten nicht den sonstigen politischen Aktivismus gefährden. Es ist vergleichsweise leicht, via Netz viele Unterstützer zu mobilisieren. Die Onlineplattform Campact schafft es als permanente digitale Bürgerbewegung manchmal innerhalb einer Woche, 300 000 Unterschriften zu sammeln. Aber wohin führt das? Es zählen dann nur noch die Spitzenwerte. Wird der zuvor erreichte Spitzenwert bei der nächsten Aktion unterschritten, dann heisst es: Na ja, das ist aber wenig.
Daraus folgt ein Zwang, sich selbst und die Konkurrenten ständig zu überbieten. Der allein auf Quantität setzende Aktivismus droht sich selbst zu entwerten. Es ist wie in einer vollen Kneipe, wo alle immer lauter reden, um noch gehört zu werden. Das Ergebnis ist ein starkes Rauschen. Und am Ende unterscheiden sich die digitalen Unterschriftensammlungen kaum mehr von einer fortlaufenden Meinungsbefragung. Es ist wichtig, solche digitalen Aktionen als Begleitung und Unterstützung der konventionellen Aktivitäten zu verstehen. Aber sie sind kein Ersatz für die direkte Kommunikation vor Ort und für Strassenprotest. Das Netz ist kein gutes Instrument der Überzeugungsarbeit und politischen Bewusstseinsbildung.
Warum?
Wie schon gesagt: Mit dem Netz kann ich umfassend und komfortabel Informationen gewinnen und auch verbreiten. Mit Überzeugungs- und Deutungsarbeit, dem Austausch von Argumenten und politischer Bewusstseinsbildung hat es jedoch wenig zu tun. Es ist kein Ort für nennenswerte politische Debatten, abgesehen von einem zumeist kleinen Kreis interessierter Spezialisten, die dann via Netz konferieren. Das Netz ist auch kein Ort, an dem wechselseitiges Vertrauen aufgebaut wird, wie es etwa für Aktionen des zivilen Ungehorsams notwendig ist.
Aber die politische Aktivität wird vom Netz nicht beeinträchtigt?
Doch, diese Gefahr besteht durchaus. Ich nehme mal meine eigene Reaktion: Ich bin in diversen Verteilern und erhalte allein von Campact pro Woche mindestens einen Aufruf. Mich ermüdet das. Ich schaue nur noch auf das Thema und klicke das Mail meist weg, ohne den Aufruf gelesen zu haben. Dabei muss ich hinzufügen: Gerade Campact, das ja immer noch rasch wächst und inzwischen etwa 1,2 Millionen Leute als feste Adressaten hat, bemüht sich sehr darum, mit digitalen Aufrufen möglichst viele Unterschriften zu sammeln, zugleich aber auch Offlineaktionen durchzuführen.
Vom Detail zum Grundsatz: Was ist für Sie heute Fortschritt?
Für mich heisst dies immer noch ganz altmodisch: dass sich möglichst viele Menschen von dem befreien, was sie als Zwang, Unrecht, unnötige Einengung oder gar Entmündigung empfinden. Das sage ich in Anlehnung an Immanuel Kant, den Philosophen der Aufklärung. Konkreter gilt für mich, was der Soziologe Zygmunt Bauman so formuliert hat: «The human quality of a society ought to be measured by the quality of life of its weakest members», die menschliche Qualität einer Gesellschaft sollte an der Lebensqualität ihrer schwächsten Mitglieder gemessen werden.
Das ist für mich insofern bemerkenswert, als nicht nur hehre Ziele wie Emanzipation propagiert werden. Ins Gesichtsfeld rückt hier, dass es Schwache und in vieler Hinsicht Benachteiligte gibt; es geht nicht nur um wirtschaftlich Schwache. Es geht um alle, die schwach, hilflos und rechtlos sind, die missachtet und ausgegrenzt werden, egal aus welchen Gründen. Und deren Situation gilt es zu verbessern. Das ist der harte und zugleich entscheidende Massstab für Fortschritt. Es ist ja modisch geworden, beispielsweise das Glück durch Umfragen zu messen, die die kulturabhängige Semantik des Begriffs «Glück» ignorieren, um dann aufgrund von Durchschnittswerten eine Rangfolge aller Länder der Welt zu postulieren. Das ist wissenschaftlicher wie politischer Blödsinn, aber wird von Medien gerne und unkritisch aufgegriffen.
Wer in Deutschland und ähnlich strukturierten demokratisch organisierten Wirtschaftsgesellschaften definiert «Fortschritt» wie Sie?
Ich sehe an vielen Stellen Kräfte, die in diese Richtung weisen. Das sind Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, vor allem soziale Bewegungen, mit denen ich mich nicht ohne Grund ein Leben lang beschäftige. Auch in den klassischen Parteien gibt es Vertreter dieses Denkens. Überall sind Einzelne oder kleine Gruppen dabei, Verantwortung für andere zu übernehmen. Sie retten nicht die Welt, aber die tragen dazu bei, das Schlechte zu mindern. Sie sind für mich die Motoren des Fortschritts.
Und die werden mehr? Oder weniger?
Mit einer Prognose bin ich da vorsichtig. Wenn wir epochal denken, gibt es auf der normativen Ebene gewaltige Fortschritte. So werden allgemein und zumindest auf dem Papier die universellen Menschenrechte akzeptiert. Das ist ein Fortschritt, den wir nicht unterschätzen dürfen. Und zunehmend werden soziale, kulturelle und bürgerschaftliche Rechte eingeführt oder eingeklagt. Die Uno verkörpert dies – im Prinzip unwidersprochen. Das dürfen wir ebenfalls nicht geringschätzen. Es gibt die Denkfigur der Anerkennung des anderen, eine Idee von Hegel, die der deutsche Philosoph Axel Honneth und andere aktualisiert haben. Diese Idee korrespondiert meines Erachtens mit der Überlegung Zygmunt Baumans, dass der letzte Massstab des Fortschritts der Einzelne und seine konkrete Lage seien. Welche Rechte hat er? Kann er diese Rechte wahrnehmen? In diesem Zusammenhang ist auch der Sozialstaat von hoher Bedeutung. Es geht nicht um Gnadenbrot. Nein, der Hilfesuchende hat ein Recht auf Hilfe. Das ist doch ein enormer Fortschritt, der mit dem Sozialstaat verankert wurde. An den Schwächsten könnt ihr ablesen, wie es um Fortschritt und Humanität bestellt ist.
Das sind normative Überlegungen. Der Sozialstaat wird beispielsweise in allen Industriestaaten abgebaut. Was sehen Sie in der Wirklichkeit?
Es gibt keinen linearen Fortschritt. Es gibt Phasen und Felder des Fortschritts, aber zugleich Belege für gewaltige Rückschritte: Faschismus, Stalinismus, lateinamerikanische Diktaturen, Vertreibung, Vergewaltigung, Folter, Hungertod, bei uns den Abbau des Sozialstaats. Wir können uns nicht selbstgefällig ausruhen. Die Geschichte lehrt uns: Jeder erreichte Fortschritt ist nur relativ. Und er ist latent oder akut gefährdet.
Das Interview, erschienen in der WoZ am 12. Juni, führten Wolfgang Storz und Pit Wuhrer.