Offene Grenzen? Da ist noch Luft nach oben

Wie hältst Du es mit der Forderung nach offenen Grenzen? In einem Gespräch begegnete mir kürzlich dieses Thema – und ehrlich gestanden, hatte ich mir bis zu diesem Moment gar keine Gedanken darüber gemacht, wo ich mich in einer die Tagespolitik momentan stark bestimmenden Gretchenfrage denn tatsächlich positioniere.

Da fordert ein CSU-Bundesinnenminister, Flüchtlinge an den Grenzen abzuweisen. Da lässt sich die Bundeskanzlerin auf das Platzen eines 63-Punkte-Plans ein, weil sie europäisches vor nationalem Recht sieht. Und da diskutiert vor allem die Partei Die Linke mit teils markigen Worten darüber, ob wir durchlässige oder eher abgeschottete Grenzlinien entlang der Bundesrepublik ziehen sollten.

„Offene Grenzen“ – es hört sich so schön an. Wir öffnen Deutschland für jeden Flüchtling, der bei uns Schutz suchen will. Ich bin zweifelsohne dafür, dass unser Staat Verantwortung übernehmen muss. Und ich halte gar nichts vom Argument „Wir können doch nicht die ganze Welt retten“. Denn theoretische Planspiele helfen uns im Augenblick nicht weiter. Und so steht auch nicht der halbe Erdball vor Europas Toren und bittet um Einlass. Die Flüchtlingszahlen sind gerade deshalb gesunken, weil wir endlich davon ausgehen sollten, dass Flucht nicht zur Lieblingsbeschäftigung ganzer Kulturkreise gehört. Menschen verlassen ihre Heimat nur sehr ungern – und sie tun das in den allermeisten Fällen aus größter Not heraus. Was spricht also dagegen, diesen Hilfesuchenden unsere Grenzen zu öffnen?

Wie belastbar ist unser Staat?

Ja, zur Realpolitik gehört zweifelsohne auch, dass unser „System“, von der Verwaltung bis zur sozialen Sicherung, vor allem aber auch unser gesellschaftlicher Zusammenhalt, nicht unendlich strapazierbar sind. Migration ist eine uralte Erscheinung. Und doch ist kein Erdteil darauf angelegt, mehr Menschen zu beherbergen als strategisch machbar. Allerdings müssen wir eingestehen: Die willkürlichen Grenzen nach unten und oben, die manch ein Unionspolitiker zieht, sind wahrlich kein Anhaltspunkt für die Belastbarkeit unseres Staates. Wir haben schon weitaus mehr gestemmt, da braucht es keine bemitleidenswerten Limitierungen, kein Aufheulen, wenn ein paar tausend Menschen mehr oder weniger in die Republik strömen. Gleichzeitig brauchen wir einen Überblick, wer zu uns kommt. Diese Mindestanforderung halte ich für zwingend, weil es dieser Tage auch zur Wahrheit gehört, dass nicht jeder Flüchtling, der bei uns um Asyl bittet, nur positive Ansinnen verfolgt.

Ich bin jedoch völlig dagegen, dass wir uns verbarrikadieren. Deutschland ist ein weltoffenes Land, das in vielerlei Perspektive nur Glück hat: Wir leben in einem gefestigten Europa, wir können im Moment auf stabile Klimaverhältnisse bauen, wir sind wirtschaftlich stark. Alles Gründe, die dafür sprechen, den nicht nur erarbeiteten Wohlstand auch mit Anderen zu teilen. Viele Gegebenheiten basieren auf reinem Zufall. Warum also sollten wir uns arrogant, besserwissend und notorisch erhaben zurückziehen und diejenigen abweisen, die mit uns in dieser einen Welt leben – und auch ein Stück Anteil haben wollen an dem, was uns Deutschen nicht rein selbstverständlich zusteht? Es ist klar: Wir brauchen gewisse Regeln, um ein Miteinander der Völker strukturieren zu können. Würden ganze Massen auf diesem Erdball auf die Idee kommen, ins heiß ersehnte Land der Glückseligkeit auszuwandern, natürlich kämen wir an den Punkt, an dem nichts mehr geht.

Doch warum tun wir so, als stünden wir bereits vor dem Kollaps? Mit Warnleuchten und hektischem Gerede versuchen manche, uns eine Situation einzubläuen, die sich bei gelassenem Hinsehen ganz anders zeigt. Deutschland hat keinen Grund, sich hinter Mauern zu verstecken. Da ist noch deutlich Luft nach oben. Und von diesem Faktum sollten sich auch die nicht abbringen lassen, die derzeit gegen gewisses rechtspopulistisches Gedankengut ankämpfen müssen, das salonfähig zu werden scheint.

Floskel vom „sicheren Herkunftsland“

„Offene Grenzen“ bedeuten nicht, dass wir die Kontrolle über das abgeben, was an unseren Außenstellen passiert. Viel eher heißt Offenheit, dass wir uns nicht wegducken vor der Verpflichtung, Menschen unabhängig ihrer Herkunft und ihrer Ethnie, vor allem aber allein aufgrund ihrer Not bei uns aufzunehmen. Und dabei sollten wir ehrlich mit uns sein: Wie weit fassen wir den Begriff dieses Schutzbedürfnisses, den viele Politiker unter anderem mit der Schaffung einer Floskel vom „sicheren Herkunftsland“ zu unterwandern versuchen?

Nein, natürlich können wir nicht jeden Erdenbürger in Deutschland aufnehmen. Doch niemand verlangt das von uns. Deshalb ist eine Diskussion darüber obsolet. Wir debattieren viel eher, ob wir an unseren Grenzen Humanität walten lassen und denen Aussicht auf Unterkunft bieten, die mit berechtigten Interessen einen langen Weg auf sich genommen haben, um keinesfalls freiwillig bei uns anzuklopfen. „Offene Grenzen“ heißen, dass wir denen ein faires Angebot zur rechtsstaatlichen Prüfung ihres Asylantrages machen, die an Deutschlands, an Europas Außenstreifen um Einlass bitten. Wir geben dabei das Heft des Handelns nicht aus der Hand, wir ziehen uns aber auch nicht aus Gründen des Selbstbetrugs aus der Verantwortung zurück, weil wir uns vorgaukeln, das Fass stünde kurz vor dem Überlaufen. Es ist eine neue Art der Bequemlichkeit, weltverschwörerisch auf die Tränendrüse zu drücken, doch allein Trittbrettfahrer fallen auf die Kunst des Scheins herein, der mit dem tatsächlichen Sein der Flüchtlingspolitik so gar nichts gemein hat.

Jammern auf hohem Niveau

Wenn wir uns darauf verständigen, dass wir im Augenblick nicht vor dem Untergang des Abendlandes stehen, dann wäre schon viel gewonnen. Denn dann könnten wir mit kühlem Kopf attestieren, dass der Ansturm aus 2015 vorbei ist, der uns organisatorisch, sicher aber nicht menschlich an den Rande des Bankrotts in Ämtern und Behörden geführt hat – und dass wir heute keinen Anlass dafür haben, protektionistisch zu agieren – und zu agitieren.

„Offene Grenzen“, wir schicken niemanden voreilig zurück, sondern wir garantieren, uns jedem Anliegen penibel zu widmen. Wer im Hier und Jetzt nach einer präventiven Abschottung ruft, der tut dies allein auf Basis der Ängste von jenen, die wir im Trubel der letzten Jahre nicht mitgenommen haben. Derjenigen, die ihre eigene Umwelt zum Maßstab aller Dinge machen, ohne zuzugestehen, dass viele von uns auf einem ziemlich hohen Niveau jammern.

Keine Frage: „Offene Grenzen“ erfordern Anstrengung. Wer sie durchdekliniert, der muss für gesellschaftliche Integrität, Sicherheit, Versorgung und Prosperität gleichermaßen sorgen. Doch von welch hohem Ross wird so manch ein Deutscher steigen müssen, der aus Eigennutz und Schwermut die Aufnahmebereitschaft unseres Landes gegenüber denen verneint, die Weltenbürger sind, genau wie du und ich?

Dennis Riehle