Ortstermin: Das Problem sind die Anti-Demokraten

Nach dem Versagen der Geheimdienste fordern BürgerInnenbündnisse gegen Rechtsextremismus überall in Deutschland mehr Respekt vom Staat. Und ein Ende der Kriminalisierung ihrer Aktionen. Ein Stimmungsbericht aus Mittelthüringen mit schlimmen Erkenntnissen: Die Nazis sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und dagegen helfen eben nicht nur Straßenfeste und Spaßguerilla.

Mitte vergangener Woche. Das Bürgerbündnis gegen Rechtsextremismus (BgR) hat zur ersten thüringenweiten Diskussion über den «Naziterror» gerufen. «Blind? Taub? Stumm?» lautet der Titel. Auf dem Podium sitzen sechs VertreterInnen der Zivilgesellschaft und der Politik. Der Innenminister kommt eine Stunde zu spät, aber niemand beschwert sich darüber; die Thüringer BürgerInnenbündnisse sind auf den Ausgleich aller demokratischen Kräfte bedacht. Das Publikum in der schicken Weimarhalle vis-à-vis dem ehemaligen Nazi-Gauforum (heute das Thüringer Landesverwaltungsamt) reicht vom ehemaligen Oberbürgermeister bis zum Superintendenten der evangelischen Kirche, von autonomen AntifaschistInnen (Antifa) bis zum lokalen Polizeichef. Sie alle wollen Aufklärung über die zehn rassistisch motivierten Morde, die die Republik derzeit erschüttern, und darüber, weshalb eine «Terrorgruppe jahrelang eine Blutspur durch Deutschland ziehen konnte», wie es in der Einladung zur Diskussionsveranstaltung heisst.

Doch konkrete Informatio­nen erhofft sich dieses kleine Who’s who der viertgrössten Stadt Thüringens vergeblich. Denn am Ende verkündet Innenminister Jörg Geipert (CDU), der oberste Staatsschützer Thüringens , lakonisch: Mit ihm werde es eine lückenlose öffentliche Aufklärung der Verstrickung des Thüringer Verfassungsschutzes mit dem Mördertrio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe nicht geben. Der Abschlussbericht, den eine Untersuchungskommission in drei Monaten vorlegen soll, werde teilweise geheim bleiben. Der Staat schützt sich mithin vor seinen BürgerInnen. «Es geht hier nicht nur um die Rechte der Individuen», sagt der smarte Innenminister Geipert; auch der Staat habe seine Rechte. Aber er lächelt freundlich über die Bemerkung des Thüringer-Flüchtlingsrats-Vorsitzenden Steffen Dittes, dass der Thüringer Verfassungsschutz nach seinem Versagen nun auf seine Existenzberechtigung hin überprüft werden müsse.

Seit fünfzehn Jahren gewarnt

Katharina König, die ebenfalls auf dem Podium saß, gibt sich zwei Tage später gelassen: Was soll die Aufregung um einen unfähigen Geheimdienst? In der Jenaer Antifa, aus der die jugend- und netzpolitische Sprecherin der Partei Die Linke im Thüringer Landtag kommt, sei man allemal besser informiert als beim Verfassungsschutz: «Wir haben schon vor fünfzehn Jahren vor den Rechtsextremen und ­ihrer Gewalt gewarnt», sagt sie. Nichts, gar nichts sei neu.

Die Morde erstaunen sie höchstens wegen ihres kaltblütigen Hinrichtungscharakters; ansonsten aber seien die Opfer nur Teil der langen Reihe von 180 Menschen, die seit 1989 von Rechtsextremisten erschlagen, verbrannt, erstochen, erschossen wurden. Diese nüchterne Einschätzung der 33-Jährigen passt jedoch nicht ganz zu den Tränen, die sie auf dem Podium kaum zurückhalten konnte. Man dürfe sich jetzt nicht vom staatlichen Aktivismus und vom Medienrummel einlullen lassen, mahnte sie: «Lasst uns einen Moment lang innehalten. Einen Tag. Eine Woche vielleicht. Wir dürfen in diesem Land nicht einfach weitermachen mit dem Datensammeln, dem Ausspionieren, mit politischen Schnellschüssen und alten Kamellen wie dem NPD-Verbot.»

Die Landtagsabgeordnete König ist keine stramme Linke; sie kann anecken, auch in der Partei (wie sich bei der linksinternen Debatte zeigte, als sie die DDR als «Unrechtsstaat» bezeichnete). Schon seit ihrer Jugend setzt sich die frühere Sozialarbeiterin mit den Neonazis auseinander. Das Engagement der «Tochter des Pfarrers Lothar König» (wie es im ersten Satz ihres Wikipedia-Eintrags heißt) hat auch mit ihrer Herkunft zu tun, in der Familie und Milieu sich in eins fügen – verwurzelt in den modernen Relikten jenes «Ganzen Hauses» lutherischer Prägung, das nicht Staat im Staat sein will, sondern zur Obrigkeit lieber freundlich-feine Distanz hält. Das war schon zu DDR-Zeiten so, als man in der Jungen Gemeinde von Jena beispielsweise Unterschriften gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann sammelte. Und das ist heute nicht anders: Für die Auseinandersetzungen mit den Neonazis sucht man sich lieber die offene Gesellschaft als Partnerin als den Staat.

Jugendpfarrer König, Ikone der Jungen Gemeinde Jena, wird deshalb seit jenem 4. November 2011, an dem Mundlos und Böhnhardt in ihrem Wohnmobil in Eise­nach erschossen aufgefunden wurden, in den Medien herumgereicht. Als authentischer Zeuge. Schließlich kannte er das Trio doch noch persönlich: Schläger, die anfangs in der Werkstatt der Jungen Gemeinde ihr Bier tranken   – wenn auch am Nebentisch. Klassische «Glatzen» waren das, sagt Tochter Katharina im Rückblick.

Sie selbst ist in diesem evangelischen Kosmos aufgewachsen und wusste, wohin sie gehört. Dies bekam sie von jenen zu spüren, die sie im Rückblick als «Suchende» bezeichnet: «Feste rechtsextreme Organisationsstrukturen gab es bis 1994 eigentlich nicht. Die Republikaner und die DVU versuchten vergeblich, im Osten Fuß zu fassen.» Der Gewaltbereitschaft gegenüber denen, die einem gerade noch das Bier eingeschenkt hatten, tat dies keinen Abbruch. Anfang Oktober 1992 rotteten sich Neonazis vor dem Haus der Familie König zusammen und machten erst halt, nachdem sie durch das damals noch ungesicherte Hoftor gedrungen waren. «Wie Zombies!», erinnert sich König. «Wir hatten totale Panik.»

Überfremdet?

Nicht die Neonazis seien die Hauptgefahr, warnen die Thüringer BürgerInnenbündnisse seit Jahren. Grundsätzlich gefährlicher sei die antidemokratische Einstellung eines Großteils der Bevölkerung. Jüngste Erhebungen der Universität Jena unterstützen diese Sicht. Laut der Studie «Thüringer Monitor», die seit elf Jahren veröffentlicht wird, haben rechtsextreme Einstellungen im letzten Jahr eklatant zugenommen. So vertreten derzeit 17 Prozent rechtsextreme Ansichten (2010 waren es noch 13 Prozent); gleichzeitig hat sich der harte Kern mit festem Überzeugungssystem auf 9 Prozent verdreifacht. 56 Prozent halten «die Bundesrepublik durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Masse für überfremdet» (2010: 47 Prozent), obwohl in Thüringen der Anteil der ausländischen Bevölkerung bei unter drei Prozent liegt.

Ab Mitte der neunziger Jahre jedoch begann sich die Neonaziszene zu organisieren. Erst zur Anti-Antifa, dann in sogenannten «freien Kameradschaften». Sie baute ihre überregionalen Netze, ideologisierte sich. Die Gewalt nahm zu; die «Zeckenjagd» auf Punks, AusländerInnen, Schwule und Anti­faschistInnen wurde gezielter, geplanter. Tino Brandt baute seinen sogenannten Thüringer Heimatschutz auf, und der Thüringer Verfassungsschutz unter Helmut Roewer unterstützte den rechten V-Mann dabei jahrelang mit 800 Euro im Monat   – in der Hoffnung, die Szene damit für den Verfassungsschutz überschaubarer zu gestalten, wie Wohlmeinende sagen.

Mundlos und Böhnhardt horteten in ihrer Jenaer Wohnung Sprengstoffvorräte, und die Mitglieder der Antifa gingen nach ihren Dienstagssitzungen in der Jungen Gemeinde nur noch gruppenweise in die Vorstädte Lobeda und Winzerla, wo die Nazis unterwegs sind. Denn die Zahl derer, die zusammengeschlagen und misshandelt wurden, nahm zu. Katharina König war fünfzehn, als die Nazis sie zu fassen kriegten. Diese Erfahrung hat sie verändert: «Manchmal wünsche ich mir von den netten, engagierten Leuten in den Bürgerbündnissen etwas mehr als nur wohlmeinende Kopf­betroffenheit.»

Links-rechts-blinde Ministerin

Gewalt haben nicht nur die Mitglieder der Jungen Gemeinde von Jena erlitten. Auch die bürgerliche Gesellschaft im zwanzig Kilometer weiter westlich gelegenen Weimar   – unweit der KZ-Gedenkstätte Buchenwald   – hat ihre Erfahrungen gemacht. Ihr antifaschis­tisches Engagement endete 2009 (im Vorfeld einer großen Anti-Nazi-Demonstration im sächsischen Dresden) schon auf einer Autobahnraststätte. Platzwunden, Prellungen, eine zertrümmerte Heckscheibe und für manche ein Schock fürs Leben blieben von dem Neonaziüberfall zurück; «selber schuld», soll der behandelnde Arzt im nahe gelegenen Chemnitz gesagt haben. Von selbst erlebter Gewalt könnte auch Uwe Adler erzählen, der Sprecher des Bürgerbündnisses, das zum Thüringer Podiumsgespräch in die Weimarhalle geladen hat.

Stattdessen aber fordert er, man möge endlich mit der Kriminalisierung der Antifa, ihrer Demos und Naziblockaden aufhören. So hat beispielsweise die sächsische Staatsanwaltschaft dem Pfarrer König «aufwieglerischen Landfriedensbruch» und Nötigung vorgeworfen und Mitte August dessen Amts- und Wohnräume in Jena von einem Großaufgebot an BeamtInnen durchsuchen lassen. Der Theologe habe im Februar bei einer Demonstration gegen einen Naziaufmarsch in Dresden zur Gewalt aufgerufen, behauptete die Staatsanwaltschaft. Ein durchsichtiges Manöver, denn es fand erst statt, nachdem König die Ermittlungsmethoden der Behörden gegen antifaschistische Demonstrant­Innen kritisiert hatte.

Straßenfeste und Spaßguerilla

Uwe Adler vom BgR hofft auch auf ein Umdenken in der Bevölkerung: «Wir sind es, die die Köpfe für alle hinhalten.» Eine Hauptforderung der Initiativen vor Ort richtet sich daher auch an die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Kristina Schröder (CDU). Diese hatte im vergangenen Jahr mit einer Extremismusklausel sämtliche Projekte zur Verteidigung der Demokratie unter Generalverdacht gestellt. Über Jahre hinweg waren antifaschistische Vereine und Initiativen staatlich gefördert worden. Inzwischen aber müssen diese schriftlich erklären, dass sie und ihre potenziellen Partner verfassungstreu agieren, und alle bespitzeln, mit denen sie kooperieren – ein Passus, der sich ausschließlich gegen die Linken richtet. «Die Frau weiß gar nicht, wie viel Vertrauen zu unserer Arbeit sie mit ihrer Links-rechts-Gleichung wieder kaputt gemacht hat», stöhnt Peer Wiechmann vom Verein Cultures interactive.

Das Weimarer Bürgerbündnis gegen Rechs­extremismus gibt es seit über zehn Jahren. Für Kontinuität aber sorgen vor allem die jungen Antifas aus den ehemals besetzten Häusern. Nur wenn sich ein Naziaufmarsch ankündigt, versammelt sich die «Bunte Vielfalt gegen braune Einheit», um den Kameradschaften den öffentlichen Raum streitig zu machen. Den Aufmärschen in Hitlers einstiger Lieblingsstadt (die 1926 den zweiten NSDAP-Parteitag bejubelte) begegnet man dabei mit ausgesprochen bürgerlichen Mitteln: mit Straßenfesten, universitärer Spaßguerilla, Lautsprecherwagen und nur notfalls auch mal mit einer Blockade. Selbst die Behörden sind mittlerweile geübt und haben den Einsatz von Demoverboten gegen Naziaufmärsche verfeinert – auch wenn dies bei der Linken als repressives Mittel eher verpönt ist. Inzwischen gibt es in Thüringen kaum noch eine Stadt ohne Bürgerbündnis. Sie haben zwar eine unterschiedliche Schlagkraft und werden von LokalpolitikerInnen gern mal als billige Bühne genutzt. Aber die großen Naziaufmärsche sind zumindest in den Universitätsstädten Jena, Weimar und Erfurt deutlich seltener geworden, und selbst ihr traditionelles «Fest der Völker» haben die rechtsextremen Kameradschaften in diesem Jahr abgesagt.

Eine Glocke, mehr nicht

Anders sieht es im ländlichen Raum aus, etwa im Landkreis Weimarer Land, wo der Landrat noch unangefochten wie ein Fürst regiert und sich im Amtsblatt für die Schweizer «Volksinitiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer» begeistert. Wer hier in den Bürgerbündnissen Klartext redet, findet am nächsten Morgen sein Ladengeschäft schon mal mit eingeschlagenen Fensterscheiben vor.

Nachhaltige Gefahr aber droht vor allem durch das Wegbrechen der Jugend­sozialarbeit in den Regionen, die unter großer Abwanderung leiden. Dort stoßen rechtsextreme Strategen in Sportvereine und Jugendklubs vor oder kaufen alte Gasthöfe, um zivilgesellschaftliche Lücken zu nutzen. Doch keine Spur mehr von den Glatzen. Spätestens seit 2005 hat die Szene ihren aggressiven Dresscode weitgehend abgelegt und die rechte Symbolik bis zur Unkenntlichkeit eines örtlichen NPD-Bezirksschornsteinfegers und Jugendtrainers verfeinert. Die alten Schläger sind heute Familienväter mit Immobilien­besitz. Sie wickeln ihre Geschäfte im Stillen ab und bauen an Strukturen für bessere Zeiten, wenn sie nicht in den Rockerbanden der Banditos oder Hells Angels untertauchen.

Im Vergleich dazu stehen die Gegenstrategien noch am Anfang. Im Weimarer Land wurde in diesem Monat der erste «Lokale Aktionsplan» des Kreises begründet   – mit 60 000 Euro zur Unterstützung zivilgesellschaftlichen Handelns vor Ort. Erste Aktion: das gemeinsame Gießen einer großen Friedensglocke auf dem Marktplatz der Kreisstadt Apolda. Wenn das mal reicht.

Autor: Fritz v. Klinggräff, WOZ