Politik des „Weiter so“ produziert Mittelmäßigkeit

Auf so ein Wort muss man erst einmal kommen: Wachstumsbeschleunigungsgesetz heißt das neue  Steuersenkungspaket, das kurz vor Weihnachten verabschiedet wurde. Es reduziert die Steuern von Unternehmen, reichen Erben, besserverdienenden Familien und dem Hotelgewerbe um über acht Milliarden Euro. Wer glaubt, dass so die Konjunktur angekurbelt würde?

Konjunktur haben derzeit allenfalls die WortdrechslerInnen im Kanzleramt, die beschönigen, vertuschen oder auch direkt lügen. Das müssen sie tun, um der Bevölkerung den groben Unfug unterzujubeln, den die Regierung beschlossen hat: Noch nie war der Staat so sehr verschuldet (allein die Rettung der Immobilienbank Hypo Real Estate hat bisher über hundert Milliarden Euro gekostet) – und doch beschenken Union und FDP die gesellschaftliche Elite. Alles wie gehabt. Auch die Argumentation (höhere Spitzeneinkommen gleich mehr Arbeitsplätze) ist von gestern und faktisch längst widerlegt. Offenbar glauben die Regierenden, dass etwas Wortgeklingel genügt, um die Menschen in die Irre zu führen.

Hält nicht immer noch eine Mehrheit Angela Merkel für eine gute Kanzlerin? Na also. Nur: Immer für dumm verkaufen kann man die Leute nicht. Sie wissen nicht nur, dass ihnen die Rechnung präsentiert wird, sie wissen auch wann. Exakt einen Tag nach der wichtigen Landstagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai wird die neue Steuerschätzung präsentiert, und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat bereits angekündigt, dass es dann ans Eingemachte geht – und das heißt vor allem an die Sozialleistungen.

Überhaupt hat die Realität das neue Kabinett schon mehrfach eingeholt. Nach dem Luftangriff auf mutmaßliche Taliban und tatsächliche ZivilistInnen in Afghanistan musste Verteidigungsminister Franz-Josef Jung seinen Hut nehmen: Er hatte die Öffentlichkeit über das Ausmaß des Bundeswehr-Massakers hinters Licht geführt. Mittlerweile steckt sein Nachfolger, die Lichtgestalt Karl-Theodor vom ehemaligen Raubrittergechlecht der Guttenbergs, ebenfalls in Schwierigkeiten: Er musste nicht nur innerhalb weniger Wochen seine Aussagen revidieren (wobei unklar ist, ob und wann er gelogen hat) – er hat vor allem die undankbare Aufgabe, der verdutzten Öffentlichkeit einen Kurswechsel zu verkaufen. Laut Bundestagsmandat hat die deutsche Armee in Afghanistan einen Aufbauauftrag – und nicht den Job, den Gegner zu vernichten. Tatsächlich aber ist die Bundeswehr mit dem Segen aus dem Kanzleramt längst zur kämpfenden Truppe geworden.

Beschönigungsversuche und Inkompetenz – auf diesen Nenner lässt sich auch das Personal der neuen Regierung bringen. Sie hat mit Phillip Rösler (FDP) einen Gesundheitsminister, der als Arzt eine der mächtigsten Lobbyorganisationen vertritt und partout die asoziale Kopfpauschale (pardon: die „einkommensunabhängige Gesundheitsprämie“) im Gesundheitswesen durchsetzen will. Sie hat mit Dirk Niebel (FDP) einen Entwicklungshilfeminister, der vor allem das Ende der Entwicklungszusammenarbeit vorantreibt. Sie hat mit Rainer Brüderle (FDP) einen Wirtschaftsminister, der sich bislang vor allem an Weinfesten hervorgetan hat, und mit Kristina Köhler (CDU) eine Familienministerin, deren wichtigste Qualifikation darin besteht, dass sie als junges Mädchen – wie einst auch Merkel – Helmut Kohl anhimmelte.

Am Kabinettstisch sitzen vor allem intellektuelle DünnbrettbohrerInnen.
«Ihr könnt es nicht», hatte einst CSU-Chef Horst Seehofer seinen Vorgängern zugerufen. Das war vor der Riesenpleite der CSU-Bank Bayern LB, deren Übernahme der österreichischen Spekulationsbank Hypo Alpe Adria die bayerischen SteuerzahlerInnen jetzt rund 3,7 Milliarden Euro kostet. Nun steht dem vermeintlichen CSU-Retter Seehöfer das Wasser ebenfalls bis zum Hals: Er hat es nicht gekonnt – wie auch Umweltminister Norbert Röttgen (CDU), der zuließ, dass die Regierung kurz vor dem Klimagipfel die Förderung erneuerbarer Energiequellen erheblich einschränkte.

Dummerweise kann auch die Opposition nicht arg viel. Der neuen Führungsriege der SPD kaufen nur wenige den verbalen Kurswechsel ab – zu lange hatte die sozialdemokratische Partei den Sozialabbau durchgedrückt, den sie jetzt kritisiert. Die Grünen wissen immer noch nicht, wohin sie wollen: schnellstmöglich (und egal mit wem) wieder in die Regierung – oder zurück auf die Straße. Und die Linkspartei ist mit Führungsproblemen, Programmdiskussionen und dem Skandal um die ehemaligen Stasi-MitarbeiterInnen in der brandenburgischen Landesregierung beschäftigt.

So kommt es, dass derzeit nur ein ehrwürdiges, eher konservatives Gremium dagegenhält: das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Es hat vor kurzem die deutschen Ausführungsgesetze des EU-Lissabon-Vertrags zurückgewiesen. Es beschäftigt sich derzeit mit der Vorratsdatenspeicherung jedweder elektronischer Kommunikation, die noch von der großen Koalition verfügt worden war und alle AnbieterInnen von Telekommunikationsdiensten zum Sammeln sämtlicher Daten verpflichtet. Und prüft momentan die skandalös niedrigen Sozialhilfesätze der fünf Millionen Hartz-IV-BezügerInnen. Die Urteile des Gerichts werden Anfang 2010 verkündet – und sie werden kaum zugunsten der Regierung ausfallen. Es gibt in Deutschland also doch noch Leute in entscheidender Stellung, die ihre Arbeit ernst nehmen.

Autor: Pit Wuhrer/WOZ