Pressefreiheit auf türkisch
… sowie ein Report über die Angriffe auf unabhängige Medien in der Türkei. Internationale Organisationen unter Führung von „Reporter ohne Grenzen“ fordern die türkische Regierung auf, für Pressefreiheit zu sorgen. Ein schier hoffnungsloser Versuch, so scheint es, solange Erdogan noch Präsident ist.
Angesichts der massiven Repressionen gegen Journalisten und Medien vor der Parlamentswahl in der Türkei fordert Reporter ohne Grenzen zusammen mit türkischen und internationalen Nichtregierungsorganisationen ein sofortiges Ende aller staatlichen Einschränkungen einer freien Berichterstattung.
Im Anschluss an einen Dringlichkeitsbesuch in Istanbul und Ankara haben acht Organisationen eine Reihe gemeinsamer Forderungen an die türkische Regierung gerichtet, darunter ein Ende des Missbrauchs von Antiterror- und Verleumdungsgesetzen zur Unterdrückung unliebsamer Veröffentlichungen sowie ein Ende der Praxis, Steuerbehörden und andere staatliche Stellen gegen kritische Journalisten zu instrumentalisieren.
In einem neuen detaillierten Bericht zeigt „Reporter ohne Grenzen“ zudem auf, wie stark die verschärfte Zensur und das Wiederaufflammen des Kurdenkonfliktes zusammenhängen.
„Wenige Tage vor der Parlamentswahl einen kritischen Medienkonzern unter staatliche Aufsicht zu stellen und gewaltsam zu stürmen, ist eine absolut inakzeptable Grenzüberschreitung“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Präsident Erdogan muss endlich die Kritik akzeptieren, die mit einem öffentlichen Amt verbunden ist. Erdogan darf unabhängige Journalisten nicht länger als Staatsfeinde betrachten und persönlich verfolgen.“
Am Mittwoch erreichte der Druck auf regierungskritische Medien mit einer Polizeirazzia gegen die Zentrale des regierungskritischen Medienkonzerns Koza Ipek einen neuen Höhepunkt. Die Sicherheitskräfte verschafften sich mit Kettensägen Zugang zum Sitz der Unternehmensgruppe und besetzten die Regieräume der beiden Fernsehsender Kanaltürk und Bugün. Gegen Angestellte des Konzerns gingen Polizisten mit Tränengas und Wasserwerfern vor. Am Montag hatte die Justiz die Koza-Ipek-Holding, zu der wichtige oppositionelle Medien gehören, unter staatliche Aufsicht gestellt. In den vergangenen Wochen wurden Redaktionshäuser überfallen, ausländische Reporter verhaftet und kritische Verlage mit Verleumdungsprozessen überzogen.
Internationale Organisationen fordern Ende der Repressionen
Um auf die besorgniserregenden Entwicklungen in der Türkei seit dem ersten Durchgang der Parlamentswahl am 7. Juni aufmerksam zu machen, traf sich eine Delegation internationaler Nichtregierungsorganisationen vom 19. bis zum 21. Oktober in Istanbul und Ankara mit Vertretern fast 20 wichtiger türkischer Medien. Als Ergebnis der Gespräche fordern Reporter ohne Grenzen, das International Press Institute, das Committee to Protect Journalists, die International Federation of Journalists, Index on Censorship, das Ethical Journalism Network und die Türkische Journalistengewerkschaft TGS die türkischen Behörden gemeinsam auf:
► alle wegen ihrer Arbeit inhaftierten Journalisten freizulassen, insbesondere den Vice-News-Mitarbeiter Mohammed Rasul, und ausländische Journalisten nicht mehr willkürlich festzunehmen oder abzuschieben;
► die Berichterstattung über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse nicht einzuschränken oder gar Nachrichtensperren zu verhängen wie jüngst nach den Bombenanschlägen von Ankara;
► staatliche Stellen wie die Steuerbehörden nicht länger zu instrumentalisieren, um Druck auf Journalisten auszuüben, die kritisch über Politiker oder über die Regierungspolitik berichten;
► keinen Druck mehr auf Satelliten- und Internetanbieter auszuüben, um die Übertragung bestimmter Sender zu verhindern;
► Internetseiten oder Social-Media-Kanäle nicht mehr ohne vorherigen richterlichen Beschluss zu sperren und die Gesetze zu reformieren, die solche Eingriffe ermöglichen;
► nach gewaltsamen Angriffen auf Journalisten umfassend und transparent zu ermitteln und damit die wachsende Kultur der Straflosigkeit zu unterbinden, die der Selbstzensur Vorschub leistet;
► kritische Journalisten nicht weiter mithilfe der Antiterrorgesetze zu verfolgen, die Tatbestände Beleidigung und Verleumdung ins Zivilrecht zu überführen und alle ausdrücklich gegen Journalisten gerichteten Gesetze abzuschaffen – insbesondere Artikel 299 des Strafgesetzbuches, der für Beleidigung des Präsidenten mehrjährige Gefängnisstrafen vorsieht und damit klar gegen internationale Standards verstößt;
► einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu schaffen, der ausgewogen und aus verschiedenen Blickwinkeln über politische und gesellschaftliche Themen informiert.
An die Staaten der Europäischen Union appellieren die Organisationen, die Türkei zur Einhaltung internationaler Menschenrechtsstandards anzuhalten und sicherzustellen, dass Zugeständnissen im Zusammenhang mit der derzeitigen Flüchtlingskrise nicht zulasten dieses langfristigen Ziels gehen.
Mit Angriffen und Razzien gegen regierungskritische Medien
Am Montag war die Koza-Ipek-Holding auf Antrag der Staatsanwaltschaft der Aufsicht eines regierungstreuen Kuratoriums unterstellt worden. Zu der Holding gehören wichtige regierungskritische Medien wie die Fernsehkanäle Bugün TV und Kanaltürk sowie die Tageszeitungen Bugün und Millet. Schon am 1. September hatten Polizei und Steuerfahnder bei einer Großrazzia gegen Koza Ipek Computer beschlagnahmt, weil der Konzern die Organisation des in den USA lebenden Predigers und Erdogan-Gegners Fethullah Gülen unterstütze. Wenig später wurden alle bei der Razzia festgenommenen Mitarbeiter wieder freigelassen.
Ebenfalls wegen angeblicher Nähe zu Gülen strich der größte türkische Pay-TV-Dienst Digiturk Anfang Oktober die Sender Bugün TV, Kanaltürk, S Haber und Samanyolu TV aus seinem Angebot. Kurz zuvor hatten dies bereits der Online-Streaming-Dienst Turkcell TV und der Anbieter Tivibu (Türk Telekom) getan. Alle drei beriefen sich auf Anweisungen der Staatsanwaltschaft.
Ziel von Angriffen sind auch immer wieder Medien der Dogan-Gruppe, der größten Mediengruppe des Landes, zu der unter anderem die Tageszeitung Hürriyet, der Fernsehsender CNN Türk und die Nachrichtenagentur DHA gehören. In der Nacht zum 7. September überfielen 200 Anhänger der Regierungspartei AKP das Redaktionshaus von Hürriyet in Istanbul. Die Angreifer warfen mit Steinen, stürmten das Erdgeschoss und riefen „Recep Tayyip Erdogan“ sowie Slogans gegen den Eigentümer des Medienhauses, Aydin Dogan. Anführer der Angriffe war der AKP-Abgeordnete Abdurrahim Boynukalin. Nach dem Angriff erklärte er in einer Rede, dass in der Türkei nach der Wahl kein Platz mehr für die Dogan-Mediengruppe sein werde.
Die Regierung verurteilte die Gewalt erst nach einem weiteren Angriff auf Hürriyet zwei Tage später; der Wortführer Boynukalin wurde nach der Tat aber weder festgenommen noch verhört. Mitte September leitete die Staatsanwaltschaft hingegen Ermittlungen gegen die Dogan-Gruppe ein, der Erdogan wiederholt die Destabilisierung des Landes und Unterstützung terroristischer Gruppen vorgeworfen hatte.
Bericht zu Zensur und Restriktionen wegen des Kurdenkonflikts
Noch einmal deutlich verschärft hat sich der staatliche Druck auf die Medien seit dem Ende des Waffenstillstandes mit der militanten Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Schon kurz nach den ersten türkischen Luftangriffen gegen PKK-Stellungen im Nordirak ordnete der Hohe Rat für Telekommunikation (TIB) Ende Juli die Sperrung von etwa 100 Internetseiten an, darunter die Seiten führender pro-kurdischer Medien wie der Tageszeitung Özgür Gündem und der kurdischen Nachrichtenagenturen DIHA, ANHA und Roj News.
Auch andere Medien und sogar ausländische Reporter sind von der zunehmenden Einmischung des Staates in die Berichterstattung betroffen. So bestellte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu Ende Juli die Chefredakteure führender türkischer Medien ein, um sie über die „Anti-Terror-Operationen“ zu informieren. In vielen Medien kamen gemäßigte kurdische Politiker seither kaum noch zu Wort. Die Berichte konzentrierten sich stattdessen auf die Militäroperationen und auf Verluste der türkischen Seite, während das Leid der Zivilbevölkerung weitgehend unerwähnt blieb.
Ende August wurden in der südostanatolischen Kurdenmetropole Diyarbakir die beiden britischen Journalisten Jake Hanrahan und Philip Pendlebury sowie ihr irakischer Mitarbeiter Mohammed Rasul festgenommen. Die beiden Briten wurden wenige Tage später freigelassen und abgeschoben, Mohammed Rasul sitzt seither in einem Hochsicherheitsgefängnis in Adana.
Am 6. September nahm die Polizei die niederländische Journalistin Frederike Geerdink fest, die über eine kurdische Friedensinitiative in der Nähe der iranischen Grenze berichten wollte. Geerdink arbeitete seit 2006 in der Türkei. Sie berichtete für niederländische Medien und den britischen Independent und war bis zu ihrer Abschiebung die einzige ausländische Journalistin in Diyarbakir.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 149 von 180 Staaten.
Dieser Text erschien zuerst auf hpd