Sex für Alte und Kranke? Bäh…

Zynisch: „Schwerkranke bei der Triebabfuhr zu unterstützen“ sei der falsche Weg, kritisierte der SK-Kommentator einen Vorschlag der Grünen. Das ist die falsche Wortwahl, kritisiert unser Gastautor, und damit würde man der durchaus ernsten Problematik nicht gerecht.

Uli Fricker ist bekannt als markiger Kommentator im SÜDKURIER. Oftmals eher konservative Positionen einnehmend, fällt es schwer, ihm eine bestimmte Richtung zuzuordnen – außer: Er nimmt wahrlich kein Blatt vor den Mund. Das mag das Ziel einer Zeitung sein, die sich einen Diskurs unter den Leserinnen und Lesern wünscht. Gleichwohl ist es nicht unbedingt ein Ruhmesblatt, wenn Beiträge zur bloßen Aneinanderreihung von vulgären Entgleisungen und abgründigen Unterstellungsversuchen werden.

Beispielsweise am 9. Januar 2017. Fricker ging mit einem Kommentar auf einen Vorstoß von Elisabeth Scharfenberg ein. Zweifelsohne: So richtig glücklich war das nicht. Da verharren die „Grünen“ bereits in harter Kritik, mit manch einem Vorschlag realitätsfern völlig allein auf weiter Flur zu stehen, und plötzlich kommt aus dem Nichts eine Parlamentariern daher, der die Schwerkranken in unseren Spitälern und Pflegeheimen eingefallen sind. Eine wuchtige Zurückweisung erfuhr sie mit ihrer Forderung, Besuch von ausgebildeten Damen und Herren zum Zwecke sexuellen Beistandes von den Krankenkassen bezahlen zu lassen, nicht nur von Uli Fricker. Vielleicht war es nicht ganz klug, mit solch einer ausgereiften Überlegung, die aus den Niederlanden und Amerika stammt und dort erfolgreich praktiziert wird, so unverhohlen in die Tür zu platzen. Denn: Deutschland ist anders.

Das stellte auch der SÜDKURIER durch die Stellungnahme seines Redakteurs klar. Mit seinem Beitrag verfiel die Republik zurück in die 50er-Jahre – und man fragt sich wahrlich, wem die Überschrift „Auf dem Holzweg“ denn nun gelten sollte. Wenn Fricker nämlich in „Sexualassistentinnen“ einen „sprachlichen Pfiff“ sieht und damit offenkundig darauf anspielt, man wolle wohl eher die Prostitution in die Krankenhäuser und Altenheime dieses Landes tragen, muss man zweifeln, ob Herr Fricker die „Idee“ verstanden hat. Denn obwohl wir so tun, als wären wir aufgeklärt, sind die Deutschen zumindest in der öffentlichen Diskussion noch immer ziemlich verklemmt, wenn es um dieses Thema mit den drei Buchstaben geht…

Beschwerde bei Presserat

So war von verschiedenen Seiten schon nach kurzer Zeit Empörung zu vernehmen, ohne, dass überhaupt einmal intensiver darüber nachgedacht wurde, um was es eigentlich geht: Ist es tatsächlich verwerflich, wenn wir uns Gedanken darüber machen, wie ältere Menschen, Kranke oder Behinderte fühlen? Macht uns der Vorstoß der Abgeordneten nicht eher darauf aufmerksam, dass wir eine ganze Gesellschaftsgruppe vergessen haben? Denn was glauben wir denn, was mit denen passiert, die bettlägerig werden, die oftmals ohnehin abgeschoben scheinen in den Zimmern der Heime? Aus den Augen, aus dem Sinn? Nur, weil ein Mensch sich vielleicht nicht mehr so gut bewegen kann, psychische Leiden erdulden muss oder kognitiv eingeschränkt scheint, heißt das doch nicht, dass sich damit automatisch seine Empfindungen abstellen!

Doch leider scheint eine nicht geringe Minderheit ganz anders zu denken, wohl auch manche Politiker, die die Überlegungen reflexartig zurückwiesen, mit moralischen Bedenken, die eher vorgeschoben als wirklich fundiert sind. So offenbar auch Uli Fricker, der den ernst gemeinten Gedanken der „Grünen“  als Forderung interpretiert, „Schwerkranke“ in ihrer „Triebabfuhr zu unterstützten“. „Unter Berücksichtigung dessen, dass Kommentare im Journalismus aufgrund der grundgesetzlich geschützten Meinungsfreiheit einen breiteren Spielraum in Wortwahl, Ausdruck und seiner Zuspitzung einfordern dürfen als die Sachberichterstattung, bleibt in der presseethischen Bewertung stets der Blick auf die Verhältnismäßigkeit der angewendeten Stilmittel, die nicht zuletzt auch einen Ausdruck des Berufsbildes des Journalisten darstellen, das jeder von ihnen zu schützen hat“. So schrieb ich an den deutschen Presserat in einer Beschwerde zu Frickers Kommentar. Und ergänzte: „Zu den nicht verhandelbaren Grundsätzen des Journalismus gehört bei Kommentaren unter anderem die Wahrung der Persönlichkeitsrechte von Einzelnen oder auch gesellschaftlichen Gruppen, um eine Diskriminierung zu verhindern“.

Arrogante Vorurteile?

Es sind Menschen in Gefängnissen, in Psychiatrien, in Krankenhäusern, Behinderteneinrichtungen und auch Altenheimen, an die wir im besten Falle noch denken, aber ihnen nur selten die Würde zukommen lassen, die sie verdient haben – nämlich dieselbe wie uns selbst. Wenn Oma in ihrem Bett dahin vegetiert, sind manche dankbar, wenn sie nicht viel von ihr hören. Doch gerade ältere Menschen leiden darunter, dass sie nicht mehr als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt werden. Für Behinderte und Kranke gilt gleichermaßen, dass nicht wirklich leben dürfen. Das ist nicht unbedingt ein Fehler des Systems, sondern von uns allen, die wir noch immer nicht so genau wissen, was wir denn mit „denen“ anfangen sollen, die irgendwie nicht in das Bild des Agilen, des Vitalen, des Funktionierenden passen wollen. Wer Menschen in solchen Lebenssituationen auf ihre sexuellen Triebe reduziert, die sie durch aktive Unterstützung abbauen müssen, der entzieht ihnen Würde und nutzt die journalistische Stellung für eine Kränkung aus, die eine beträchtliche Minderheit zu sächlichen Wesen werden lässt.

Nur weil die sexuelle Leistungsfähigkeit mit dem Alter nachlässt, heißt das nicht, dass gleichzeitig auch Sehnsüchte verschwinden. Wir können religiös argumentieren, wie bei allen Formen von bezahlten Dienstleistungen rund um die Sexualität, dass es ethisch fragwürdig sei, die Dienste einer Dame oder eines Herrn zu rechtfertigen, der ans Bett kommt mit dem Ziel, wieder ein Stück Normalität zurückzugeben. Denn selbst der liebe Gott wird sich etwas dabei gedacht haben, weshalb er sexuelle Begierde nicht auf Knopfdruck abstellt – wenn wir zu alt werden, krank sind oder beeinträchtigt. Reduzieren wir nicht vielleicht eher ganz hausgemacht aus wirtschaftlichen, persönlichen oder sozialen Gründen einen Besuch im Bordell oder eben auch die Befriedigung des natürlichen Sexualtriebes mithilfe einer von der Krankenkasse finanzierten Assistenz auf eine Sache zwischen zwei völlig Unbekannten, vorurteilsvoll und arrogant?

Die menschliche Nähe fehlt

Ein Fehler in dieser wie in anderen Diskussionen ist die Fokussierung auf die Sache, auf den „Sex“ als Verhalten. Wir alleine bestimmen, was wir daraus machen – und schon allein dort beginnt die Eigenverantwortung, die ich im Respekt vor unserem Grundgesetz jedem zubilligen will. Wir können das Miteinander mit einer Sexualassistenz zu einem rein körperlichen Zweck nutzen, dann ist das genauso gut oder schlecht wie bei jedem Anderen auch. Wir können aber auch davon ausgehen, dass gerade Menschen, die alleine sind, die sich verlassen fühlen und die sich spüren möchten, nicht allein auf diese Art der Befriedigung setzen.

Ihre Not ist nicht die der körperlichen Enthaltsamkeit, sondern der Nähe, vielleicht auch der Liebe – und sei es nur bei einer einzelnen Begegnung mit jemandem, der darauf geschult ist, auf genau diese Menschenrechte einzugehen. Nein, zweifelsohne kann eine Sexualassistenz keine Einsamkeit heilen, kann kein Ersatz sein für Angehörige, die sich nicht blicken lassen. Sie wird auch nicht darüber hinweg helfen, dass es nicht mehr die Zärtlichkeiten des Ehemanns, der Tochter oder der Mutter sind, die wir erfahren dürfen.

Aber wird sie im empathischen Sinne gestaltet, so kann sie zumindest Bedeutung wiedergeben. Das Sein in einem Alltag, der eben doch oftmals grau ist, der auch durch Geschlechtsverkehr nicht wieder aufhellen wird, wird wieder erlebbar. Es ist eine Frage unseres Verständnisses vom Umgang mit denen, die wir nicht mehr für „voll nehmen“, es ist ein Spiegel für unsere Gesellschaft, den die grüne Abgeordnete uns da vor die Nase hält. Aus Angst davor, dass wir unser bisheriges Versagen erkennen könnten, blenden wir rasch aus. Ein typisches Phänomen in Zeiten, in denen man nur noch glaubt, was man sich selbst vorgelogen hat.

Und ob so etwas wie eine Sexualassistenz die Krankenkassen bezahlen sollte? Nun ja, sicher war es unpassend, mit einer doch polarisierenden Idee derart unverhofft ins neue Jahr zu gehen. Vielleicht braucht es zunächst die grundsätzliche Diskussion darüber, wie es denn aussieht mit unserem Weltbild über die alten, kranken und behinderten Menschen in unserer Gesellschaft. Denn wahrscheinlich müssten sich viele verschämt eingestehen, dass dort seit langem viele Rechte verletzt werden.

Ein Recht auf Sex? Nein, aber ein Recht auf Selbstbestimmung, zu dem auch gehört, den Wunsch nach sexueller Nähe artikulieren zu dürfen – und ihn dann auch erfüllt zu bekommen, wenn keine andere Möglichkeit als durch eine Assistenz besteht. Denn der „Trieb“ – der dieser Tage besonders wieder durch Meldungen aus den Großstädten besetzt wird, wo sich Frauen vor manch wild gewordener Horde in Sicherheit bringen müssen – ist zunächst einmal etwas, was zu uns gehört. Das ist nicht verwerflich, das ist nicht „bäh“ und schon keineswegs etwas, was man verstecken, unterdrücken oder zu verhindern versuchen muss, nur, weil man von der Leistungsgesellschaft nicht mehr auf dem „Schirm“ wahrgenommen wird. Und warum gestehen wir das, was wir als scheinbar „Gesunde“ uns zubilligen, nicht auch denen zu, die den gleichen Wunsch haben wie wir: Mensch zu sein! Die Empathie für diese Einsicht erhoffe ich mir auch von Uli Fricker, vielleicht dann bei einem nächsten Kommentar …

Dennis Riehle