„Social Distancing“ – Unwort des Jahres?
Die Corona-Seuche hinterlässt Spuren, auch in der Sprache. Der Schriftsteller Jochen Kelter hat sich Gedanken zu einem derzeit grassierenden Begriff gemacht, dem er wünscht, zum Unwort des Jahres gekürt zu werden.
Das deutsche PEN-Zentrum, das in den vergangenen Jahren eher der politischen Korrektheit des herrschenden Mainstream verpflichtet schien als einer kritischen Distanz zu Politik und Wirtschaft, liess vor kurzem durch eine Pressemitteilung aufhorchen. Der Begriff „Social Distancing“ (einer jener inflationären und dümmlichen Anglizismen wie „inkludieren“, „Performance“ oder „Hashtag“, die die öffentliche Sprache wie eine Seuche fluten) stamme ja wohl direkt aus dem Wörterbuch des Neoliberalismus. Körperlicher Abstand und soziale Solidarität seien dagegen das Gebot der Stunde.
Dem kann man nur beipflichten. Die Richtigstellung des PEN zeigt aber auch, wie selbstverständlich unsere Sprache nach dreissig Jahren Banken- und Börsenherrschaft dem Neoliberalismus verfallen und von ihm durchdrungen ist. Der deutsche Bundestag hat gestern zur wirtschaftlichen Linderung der Corona-Krise einen Nachtragshaushalt von 156 Milliarden Euro beschlossen, eine horrende Summe im Umfang des halben ordentlichen Jahreshaushalts. Hier zeigt sich aber auch, wie hinterhältig „Social Distancing“ in der Realität aussieht. Das Geld soll Unternehmen und Selbständigen helfen, in jedem Fall Personen und Institutionen, die Sozialabgaben bezahlen. Harz IV-Empfänger und Mini-Jobber gehören nicht dazu, sie zahlen keine Abgaben und kommen somit auch nicht in den Genuss irgendeiner materiellen Unterstützung in Zeiten der Pandemie.
Vielleicht schafft es der Begriff „Social Distancing“ zum Unwort des Jahres? Wahrscheinlicher ist, dass dies von den medialen Handlangern der dominierenden Aktienökonomie verhindert wird.
Jochen Kelter (Foto: Fraktura Verlag Zagreb)