„Stirbt der Kapitalismus?“
Die Autoren zeigen sich beunruhigt, „dass es … unzeitgemäß – oder sogar anstößig – geworden ist, über die Zukunft der Welt und speziell des Kapitalismus zu sprechen.“ Wohl auch deshalb dieses Buch, mit einem Ausgangspunkt, der es in sich hat: „Wir leben in einer Strukturkrise, in der es einen Kampf um das Nachfolgesystem gibt.“ Wir Medienkonsumenten kennen die Stresstests für Banken. Hier wird gleich der Kapitalismus einem solchen unterzogen.
Ein weithin verständlich geschriebenes und damit auch von einem interessierten Laien – Konzentration vorausgesetzt – gut lesbares Buch, das die Mutter aller Fragen stellt, die mindestens eine weitere nach sich zieht: Wenn ja, wann?
Warum ist dieses Buch besonders empfehlenswert? Fünf weltweit sehr renommierte Makro-Soziologen – für ein breiteres Publikum mag Immanuel Wallerstein, Gründer der Weltsystem-Analyse, der Bekannteste sein – vertreten nicht nur getrennt ihr jeweils sich deutlich unterscheidendes Szenario. In einem ausführlichen gemeinsamen Vorwort und einem knapp 40seitigen Fazit arbeiten sie zudem Unterschiede, Widersprüche und Übereinstimmungen heraus.
Immanuel Wallerstein wagt sich am weitesten vor: Er gibt dem jetzigen System nur noch wenige Jahrzehnte. Es gebe keine Möglichkeit mehr, den Kapitalismus so zu reformieren, dass er seine Fähigkeit „zur unablässigen Kapitalakkumulation“ wiedergewinnen könne. Randall Collins prognostiziert ähnliches, sieht den Grund jedoch im Schicksal der Mittelschichten: Sie, die zuvor die Industriearbeiterklasse beerbt hätten, würden aufgrund der enormen technischen Rationalisierung, vor allem auf Basis der Informations- und Kommunikationstechniken, verschwinden. Je intensiver die Künstliche Intelligenz entwickelt werde, umso höherwertigere Arbeitsplätze würden von Maschinen ersetzt werden. Es gebe keinen Ausweg mehr, diese Verluste zu kompensieren.
Michael Mann konzentriert sich auf die Gefahren der Umweltverschmutzung und sieht dafür „die drei großen Errungenschaften der Moderne – Kapitalismus, Nationalstaat und Bürgerrechte – …“ als verantwortlich an. Er ist es, der pointiert Thesen und Aussagen von Wallerstein relativiert und deutlich andere Akzente setzt. Mann: „Warum sollte eine Wachstumsrate von 1 Prozent eine Krise sein?“ Er sieht zudem die globale Linke als schwächer denn je und religiöse Ideologien, die sich dem „außerweltlichen Heil“ verpflichtet fühlen, als die kommenden globalen Ideologien.
Bei Georgi Derluguian steht die Frage von Aufstieg und Fall der Sowjetunion im Mittelpunkt und der Versuch, aus dessen Niedergang Erfahrungen abzuleiten, wie Übergänge von einem zum anderen System aussehen könnten.
Craig Calhoun stärkt die These, dass vor allem „Finanzialismus und Neoliberalismus“ den Kapitalismus schwäche. Denn dieser sei darauf angewiesen, dass andere Institutionen die Kosten trage, die er verursache, insbesondere soziale und ökologische. Genau diese, von der Familie über Aufsichtsbehörden bis zum Staat, würden nach und nach geschwächt und damit das Funktionieren des Kapitalismus gefährdet.
Wer die letztendliche Antwort erwartet, wird natürlich tief enttäuscht. Das Schlusskapitel von Mann trägt die Überschrift: „Das Ende ist nah oder auch nicht.“ Die Pfade, Perspektiven und Positionen sind nie deckungsgleich. Die Autoren beziehen sich aufeinander, schreiben nicht aneinander vorbei. Das macht die Lektüre ausgesprochen profitabel.
Das Fazit: „Wir sind uns einig, dass die Welt in eine stürmische und dunkle Geschichtsperiode eingetreten ist, die einige Jahrzehnte andauern wird.“ Sie verbinden das Düstere jedoch sehr wohl mit Optimismus: Der Ausgang sei offen. Es gebe bereits in Normalzeiten alternative Optionen. Diese würden jedoch „ungeheuer erweitert in Zeiten der Krise, wenn die gewohnten Mechanismen versagen“. Mit anderen Worten: Auf starke Nerven und die richtigen politischen Bewegungen kommt es an. Dann winkt als Lohn: „Der Weg der Menschheit wird eine Wende nehmen, aber es muss keine zum Schlechteren sein.“
Wolfgang Storz/www.woz.ch
Immanuel Wallerstein, Randall Collins, Michael Mann, Georgi Derluguian, Craig Calhoun „Stirbt der Kapitalismus? Fünf Szenarien für das 21. Jahrhundert“, Frankfurt/New York 2014, Campus Verlag, 240 Seiten, 24.90 Euro