Stumme Ansprache an einen alten Freund

20120228-234800.jpgDas Thema Nationalsozialismus mit all seinen Auswirkungen bis in die heutige Zeit lässt uns nicht los, wie auch die aktuelle Diskussion um den ehemaligen Konstanzer Oberbürgermeister Bruno Helmle zeigt. Ernst Köhler, Historiker und Publizist aus Konstanz (s. Foto, Fotograf: G. Posch), wendet sich in diesem Beitrag gegen einzelne Tendenzen in der Erinnerungsdebatte: Es geht noch immer um Zeitzeugen und Zeitgenossen, um Opfer, Verfolgte und Verfolger.

Vielleicht sollten wir unsere Differenzen über die NS-Zeit und insbesondere über das Verhalten der meisten Deutschen unter diesem Regime auf sich beruhen lassen. Aus meiner Sicht sind sie unüberbrückbar.

Möglicherweise sind sie es gerade deshalb, weil Du, Jahrgang 1927, die Zeit persönlich erlebt hast – als abstoßend, bedrückend, furchterregend und dann auch – als blutjunger Mann – als direkt bedrohlich. Deine Eltern haben Dich gegen Kriegsende versteckt, um Dich dem Zugriff der NS-Militärbehörden zu entziehen. Ich, Jahrgang 1939, habe hingegen keine Erinnerungen an die Zeit oder nur kindliche – an einen Bombenabwurf (1943? – die vielen winzigen, schrägen Stäbchen am Himmel gingen dann aber nicht in unserer Stadt nieder) und das Vorrücken der Amerikaner im Herbst 1944 in meine Heimatgegend, die Region um Aachen (wir haben uns vor den Granaten damals in einen alten Bergbau-Stollen geflüchtet). Oder an eine Episode mit meinem Vater, der im Krieg war. Während eines Fronturlaubs hat er eines sternklaren Abends auf unserer Terrasse mit seinem Karabiner kurzerhand einen Stern für mich vom Himmel geschossen. Der Trick mit der Leuchtpatrone hat mein Bild des ewig Abwesenden sozusagen mit magischem Glanz erfüllt.

Für mich geben aber biografische Erinnerungen noch kein Geschichtsbild. Sie reichen hinten und vorne nicht. Dazu sind sie zu selektiv. Wir kommen nicht ohne sie aus. Wir müssen sie berücksichtigen, gewichten, auswerten. Ein angemessenes Bild von Deutschland und den Deutschen unter Hitler können sie aber nicht bieten. Dieses Bild muss sich jeder, also auch der Miterlebende, der Zeitzeuge im Nachhinein erst mühselig erarbeiten. Mittels Geschichtswissenschaft. Mittels Studium. Niemand hat es schon per se, keiner verfügt darüber schon aus seinen persönlichen Erfahrungen als Zeitgenosse. Dieser – direkter betroffen, verletzt, belastet, gezeichnet als später Geborene es sein können, hat es dabei sogar besonders schwer. Er muss sich ja selbst relativieren.

Sonst landet er noch bei sich als einem „Opfer“ des NS-Regimes. Das ist ein Wort, das bekanntlich schon in allen möglichen politischen Entlastungs- und Rechtfertigungsdiskursen eine prominente Rolle gespielt hat – keineswegs nur in Deutschland. Es sollte daher nur mit der größten Vorsicht und Sparsamkeit verwendet werden. Ein inflationärer Gebrauch dieses Begriffs droht immer. Auch heute, gerade heute – mit wachsendem Abstand zum „Dritten Reich“ erscheint das Wort von den Opfern immer unverfänglicher.

Und über sich selbst gleichsam als Brücke könnte unser Zeitzeuge dann – in einem trüben Hin und Her der Verständnisinnigkeit und vielleicht auch des Selbstmitleids – bei den Deutschen generell als „Opfern“ dieses Herrschaftssystems ankommen. Dich selbst würdest Du nicht so nennen. Du hast es mir gegenüber jedenfalls noch nie getan. Es gibt da eine Schranke der Sprache, des Stils, eine Schamgrenze. Aber die „Deutschen“ insgesamt – abzüglich der eigentlichen Verbrecher, das heißt die große Mehrheit der nichtkriminellen Deutschen – abzüglich natürlich der jüdischen Deutschen, also die Deutschen, soweit sie die staatstragende Mehrheitsgesellschaft der Jahre 1933-1945 darstellten, hast Du, wie Du Dich erinnerst, in einem unserer Dispute schon einmal ausdrücklich als Opfer des NS-Regimes bezeichnet. Es war kein Lapsus.

Grundsätzlich anders verhält es sich nur mit den Verfolgten. Du hast Dich als Jugendlicher am Rand der Gesellschaft gesehen. Du hast Dich in dem politischen Klima von damals fremd und ausgegrenzt gefühlt. Aber ein Verfolgter warst Du nicht. Das hast Du auch nie behauptet. Verfolgung ist, wie Du nicht bestreiten wirst, etwas kategorial anderes als die Vereinsamung eines jungen Menschen, wie sie auch Peter Brückner in seinem kleinen Buch „Das Abseits als sicherer Ort“ (1980) einmal eindrucksvoll beschrieben hat.

Zuerst wäre hier von den zur physischen Ausrottung bestimmten Juden, Roma und Sinti zu sprechen. Die Überlebenden dieses Völkermordes brauchen unsere Geschichtswissenschaft nicht, um zu wissen, wie sich die Deutschen in Täter, Zuschauer und Menschenretter aufgeteilt haben. Für sie waren die Grenzen zwischen diesen und diesen Deutschen scharf, messerscharf – und nicht verschwommen, wie heute aus welchen Gründen auch immer gern behauptet wird. Die viel beschworene „Grauzone“ ist eine Erfindung der Nachkriegszeit. Hier verdankt die Geschichtsschreibung umgekehrt alles den Zeitzeugen.

Auch die Angehörigen der systematisch ermordeten sog. Geisteskranken wissen schon von sich aus und ganz ohne nachträgliche Historie, wie verlassen sie damals in Deutschland waren. Auch die Überlebenden anderer Verfolgungskampagnen und Gewaltstrategien des NS-Staates verfügen über ein intimes, durchdringendes, illusionsloses Erfahrungswissen über die deutsche Mehrheitsgesellschaft von 1933-1945 und die für sie typischen Haltungen zum Regime. Die Geschichtswissenschaft ist hier überall die nehmende Seite.

Die bundesdeutsche und seit 1989 die deutsche Geschichtswissenschaft lässt sich übrigens keinesfalls als „offiziell“ oder „offiziös“ bezeichnen, wie es gerade in gewissen akademisch gebildeten Kreisen bis heute üblich ist. Das ist eine nur fadenscheinig verdeckte Variante von Abwehr und Apologetik. Es gibt – um ein paar Namen zu nennen: von Karl Dietrich Bracher über Hans Mommsen bis Ulrich Herbert – nur eine autonome, professionelle Geschichtswissenschaft. Freilich ist sie unvermeidlich vielstimmig, pluralistisch, kontrovers – das macht gerade ihre Unabhängigkeit, ihre Integrität und ihre intellektuelle Kreativität aus. Eine „offizielle“ Geschichtsschreibung gibt es in Putin-Russland, im gegenwärtigen China oder in vergleichbar autoritären politischen Verhältnissen, nicht aber in Frankreich oder Deutschland oder in den USA.

In diesen demokratischen Ländern sieht sich jede geschichtswissenschaftliche Publikation sofort einer gnadenlosen fachlichen Kritik ausgesetzt. Tendenziöse Beiträge bleiben natürlich stehen. Sie werden in aller Regel nicht verboten oder strafrechtlich verfolgt (wie bei uns die der Holocaust-Leugner oder jetzt in Frankreich möglicherweise die der Leugner des türkischen Genozids an den Armeniern). Aber sie haben auf die Dauer keine Chance. Sie werden gedanklich, inhaltlich vernichtet. Halten können sie sich – ungeachtet aller öffentlichen Auseinandersetzung – nur in gewissen unbelehrbaren, revisionistischen Milieus. Dort aber ohne weiteres ein halbes Jahrhundert lang.

Autor: Ernst Köhler