Stumme Ansprache an einen alten Freund
Das Thema Nationalsozialismus mit all seinen Auswirkungen bis in die heutige Zeit lässt uns nicht los, wie auch die aktuelle Diskussion um den ehemaligen Konstanzer Oberbürgermeister Bruno Helmle zeigt. Ernst Köhler, Historiker und Publizist aus Konstanz (s. Foto, Fotograf: G. Posch), wendet sich in diesem Beitrag gegen einzelne Tendenzen in der Erinnerungsdebatte: Es geht noch immer um Zeitzeugen und Zeitgenossen, um Opfer, Verfolgte und Verfolger.
Vielleicht sollten wir unsere Differenzen über die NS-Zeit und insbesondere über das Verhalten der meisten Deutschen unter diesem Regime auf sich beruhen lassen. Aus meiner Sicht sind sie unüberbrückbar.
Möglicherweise sind sie es gerade deshalb, weil Du, Jahrgang 1927, die Zeit persönlich erlebt hast – als abstoßend, bedrückend, furchterregend und dann auch – als blutjunger Mann – als direkt bedrohlich. Deine Eltern haben Dich gegen Kriegsende versteckt, um Dich dem Zugriff der NS-Militärbehörden zu entziehen. Ich, Jahrgang 1939, habe hingegen keine Erinnerungen an die Zeit oder nur kindliche – an einen Bombenabwurf (1943? – die vielen winzigen, schrägen Stäbchen am Himmel gingen dann aber nicht in unserer Stadt nieder) und das Vorrücken der Amerikaner im Herbst 1944 in meine Heimatgegend, die Region um Aachen (wir haben uns vor den Granaten damals in einen alten Bergbau-Stollen geflüchtet). Oder an eine Episode mit meinem Vater, der im Krieg war. Während eines Fronturlaubs hat er eines sternklaren Abends auf unserer Terrasse mit seinem Karabiner kurzerhand einen Stern für mich vom Himmel geschossen. Der Trick mit der Leuchtpatrone hat mein Bild des ewig Abwesenden sozusagen mit magischem Glanz erfüllt.
Für mich geben aber biografische Erinnerungen noch kein Geschichtsbild. Sie reichen hinten und vorne nicht. Dazu sind sie zu selektiv. Wir kommen nicht ohne sie aus. Wir müssen sie berücksichtigen, gewichten, auswerten. Ein angemessenes Bild von Deutschland und den Deutschen unter Hitler können sie aber nicht bieten. Dieses Bild muss sich jeder, also auch der Miterlebende, der Zeitzeuge im Nachhinein erst mühselig erarbeiten. Mittels Geschichtswissenschaft. Mittels Studium. Niemand hat es schon per se, keiner verfügt darüber schon aus seinen persönlichen Erfahrungen als Zeitgenosse. Dieser – direkter betroffen, verletzt, belastet, gezeichnet als später Geborene es sein können, hat es dabei sogar besonders schwer. Er muss sich ja selbst relativieren.
Sonst landet er noch bei sich als einem „Opfer“ des NS-Regimes. Das ist ein Wort, das bekanntlich schon in allen möglichen politischen Entlastungs- und Rechtfertigungsdiskursen eine prominente Rolle gespielt hat – keineswegs nur in Deutschland. Es sollte daher nur mit der größten Vorsicht und Sparsamkeit verwendet werden. Ein inflationärer Gebrauch dieses Begriffs droht immer. Auch heute, gerade heute – mit wachsendem Abstand zum „Dritten Reich“ erscheint das Wort von den Opfern immer unverfänglicher.
Und über sich selbst gleichsam als Brücke könnte unser Zeitzeuge dann – in einem trüben Hin und Her der Verständnisinnigkeit und vielleicht auch des Selbstmitleids – bei den Deutschen generell als „Opfern“ dieses Herrschaftssystems ankommen. Dich selbst würdest Du nicht so nennen. Du hast es mir gegenüber jedenfalls noch nie getan. Es gibt da eine Schranke der Sprache, des Stils, eine Schamgrenze. Aber die „Deutschen“ insgesamt – abzüglich der eigentlichen Verbrecher, das heißt die große Mehrheit der nichtkriminellen Deutschen – abzüglich natürlich der jüdischen Deutschen, also die Deutschen, soweit sie die staatstragende Mehrheitsgesellschaft der Jahre 1933-1945 darstellten, hast Du, wie Du Dich erinnerst, in einem unserer Dispute schon einmal ausdrücklich als Opfer des NS-Regimes bezeichnet. Es war kein Lapsus.
Grundsätzlich anders verhält es sich nur mit den Verfolgten. Du hast Dich als Jugendlicher am Rand der Gesellschaft gesehen. Du hast Dich in dem politischen Klima von damals fremd und ausgegrenzt gefühlt. Aber ein Verfolgter warst Du nicht. Das hast Du auch nie behauptet. Verfolgung ist, wie Du nicht bestreiten wirst, etwas kategorial anderes als die Vereinsamung eines jungen Menschen, wie sie auch Peter Brückner in seinem kleinen Buch „Das Abseits als sicherer Ort“ (1980) einmal eindrucksvoll beschrieben hat.
Zuerst wäre hier von den zur physischen Ausrottung bestimmten Juden, Roma und Sinti zu sprechen. Die Überlebenden dieses Völkermordes brauchen unsere Geschichtswissenschaft nicht, um zu wissen, wie sich die Deutschen in Täter, Zuschauer und Menschenretter aufgeteilt haben. Für sie waren die Grenzen zwischen diesen und diesen Deutschen scharf, messerscharf – und nicht verschwommen, wie heute aus welchen Gründen auch immer gern behauptet wird. Die viel beschworene „Grauzone“ ist eine Erfindung der Nachkriegszeit. Hier verdankt die Geschichtsschreibung umgekehrt alles den Zeitzeugen.
Auch die Angehörigen der systematisch ermordeten sog. Geisteskranken wissen schon von sich aus und ganz ohne nachträgliche Historie, wie verlassen sie damals in Deutschland waren. Auch die Überlebenden anderer Verfolgungskampagnen und Gewaltstrategien des NS-Staates verfügen über ein intimes, durchdringendes, illusionsloses Erfahrungswissen über die deutsche Mehrheitsgesellschaft von 1933-1945 und die für sie typischen Haltungen zum Regime. Die Geschichtswissenschaft ist hier überall die nehmende Seite.
Die bundesdeutsche und seit 1989 die deutsche Geschichtswissenschaft lässt sich übrigens keinesfalls als „offiziell“ oder „offiziös“ bezeichnen, wie es gerade in gewissen akademisch gebildeten Kreisen bis heute üblich ist. Das ist eine nur fadenscheinig verdeckte Variante von Abwehr und Apologetik. Es gibt – um ein paar Namen zu nennen: von Karl Dietrich Bracher über Hans Mommsen bis Ulrich Herbert – nur eine autonome, professionelle Geschichtswissenschaft. Freilich ist sie unvermeidlich vielstimmig, pluralistisch, kontrovers – das macht gerade ihre Unabhängigkeit, ihre Integrität und ihre intellektuelle Kreativität aus. Eine „offizielle“ Geschichtsschreibung gibt es in Putin-Russland, im gegenwärtigen China oder in vergleichbar autoritären politischen Verhältnissen, nicht aber in Frankreich oder Deutschland oder in den USA.
In diesen demokratischen Ländern sieht sich jede geschichtswissenschaftliche Publikation sofort einer gnadenlosen fachlichen Kritik ausgesetzt. Tendenziöse Beiträge bleiben natürlich stehen. Sie werden in aller Regel nicht verboten oder strafrechtlich verfolgt (wie bei uns die der Holocaust-Leugner oder jetzt in Frankreich möglicherweise die der Leugner des türkischen Genozids an den Armeniern). Aber sie haben auf die Dauer keine Chance. Sie werden gedanklich, inhaltlich vernichtet. Halten können sie sich – ungeachtet aller öffentlichen Auseinandersetzung – nur in gewissen unbelehrbaren, revisionistischen Milieus. Dort aber ohne weiteres ein halbes Jahrhundert lang.
Autor: Ernst Köhler
….gerade mit Freude gelesen, den Beitrag von E. Köhler.
Recht hat er: in einer offenen Gesellschaft kann es keine „offizielle“ Geschichtsschreibung geben.
Aber, wie der Verlauf „der“ Erinnerung/dem Umgang mit der schlimmen Geschichte `33-`45 zeigt, gibt es vorherrschende Wertungs- und Interpretationsmuster, die zur Zeit ihrer jeweiligen Konjunktur in der öffentlichen Wahrnehmung „Allgemeinverbindlichkeit“ beanspuch(t)en.
Und schon deshalb sind sie es immer wieder wert, kritisch hinterfragt zu werden.
— In der ersten Phase („Adenauerzeit“) ging es um „Wiedergutmachung“ zahlen und „Maul halten“:
weder der/die Einzelne noch die Gesellschaft wollten / „konnten“ sich an das Geschehene, zumal den individuellen Beitrag dazu, erinnern. Ein beträchtlicher Teil der Funktionsträger der NS-Zeit fand (fast immer ohne vernehmlichen Einspruch) Platz in der neuen, leider oft alten Gesellschaft.
— Mit „den“ 68-ern kam die Frage: „Was eigentlich hast D u , Vater oder Mutter, getan?“,
nach dem Eichmann-Prozess in Jerusalem und dem Auschwitzprozess in Frankfurt bekamen Täter und Opfer Namen und Gesichter, und zum ersten Mal Öffentlichkeit (immer wieder erstaunlich dabei, wie kongruent diese unterschiedlichen Phasen der Erinnerung in Israel und Deutschland abliefen).
— 1985 war es Weizäcker mit seiner Rede zum 8. Mai, in der er Deutschland ein Angebot machte, was es nicht ausschlagen konnte:
„Wir suchen als Menschen Versöhnung……….und das Geheimnis der Erlösung heisst Erinnerung“.
Wer wollte da nicht zugreifen?
Wenn der in Aussicht gestellte Lohn für aufrichtiges Erinnern Versöhnung, letztlich sogar Erlösung (von der schlimmen Geschichte) sind……..
Dies war der Startschuss für die heutige (nicht „offizielle“, aber vor-/beherrschende) Erinnerungskultur:
Gedenktage, Gedenkreden, Gedenkausstellungen, flächendeckende „Aufarbeitung“ der eigenen Geschichte in öffentlichen Institutionen und Unternehmen, der Geschichtsunterricht in deutschen Schulen endet nicht mehr mit dem 29. 1. 33, sondern jetzt wird die schlimme Zeit Material für die Leistungskurse…….
In letzter Zeit ausserdem zunehmend der Versuch, diesen doch als steril, repetitiv und „hohl“ empfundenen „Ritualen“ ein „Gedenken von unten“ entgegenzusetzen:
Stolpersteine, Zeitzeugen …..
(die Kritik am Hype um dieses zweifelhafte Konzept ist bei H. Welzer nachzuschauen.
Und: wäre A.H. darselbst nicht der „beste“ Zeitzeuge, der uns all das damals so recht „authentisch“ erzählen könnte?)
Alles sicherlich ehrenwert und „gut“ — nur: was soll das alles?
Verbietet es sich angesichts solch hehrer Intentionen von vornherein, die Frage nach dem „cui bono“, also „wem nützt`s?“ zu stellen?
Dient es im Grunde nicht dazu, sich selbst (als Gesellschaft wie als Individuum) zu bescheinigen, dass man „auf der richtigen Seite“ steht, selbstverständlich gefeit vor jeglicher antisemitischer Tendenz?
Und versucht man nicht sich dadurch selbst die Absolution zu erteilen:
„Wir hatten alle eine Blume und eine weisse Papierrolle erhalten, auf der wir unsere Gedanken und Gefühle schreiben konnten. Später sah man überall im Lager die Rollen und Blumen a l s v e r s ö h n l i c h e n A b s c h i e d (Hervorhebung durch mich)“.
So zu lesen auf einer der Wandtafeln mit Berichten anlässlich einer Ausstellung über die Reise Konstanzer Schüler nach Auschwitz-Birkenau 2010 im Kulturkeller des hiesigen Kulturzentrums.
Das „kleine“, lokale Beispiel ist oft das treffendste.
Wem es doch zu klein ist, der mag über den Satz eines der Festredner anlässlich des 5. Geburttages des Stelenfelds in Berlin nachdenken, von wegen, wir hätten hier ein Denkmal, um das uns viele in Europa beneiden würden…….
Kann man das diesem Erinnerungsspektakel zugrundeliegende Motiv besser, ehrlicher beschreiben?
Das „gute“ Deutschland versöhnt sich selbst mit seiner schlimmen Geschichte (und ist, gar nicht nur nebenbei, wieder mal „Klassenbester“. Diesmal im Fach Erinnerungskultur).
„Nie wieder“, so die landläufige, aber selten hinterfragte Botschaft der vorherrschenden Erinnerungskultur.
Nur: wenn dem wirlich so wäre, müsste man sich dann nicht viel eher mit dem aktuellen, h e u t i g e n Antisemitismus, Rassismus…..auseinandersetzen?
— Längst tragen beide ja nicht mehr Schaftstiefel und Knobelbecher, sondern verkleiden sich „modisch“, mitunter auch als Friedens- oder Menschenrechtsfreund…..Oder werden bei manchen Mitmenschen im Rahmen ihres islamischen Hintergrunds als Ressentiments quicklebendig in die Jetztzeit transportiert. (Vergleiche die begeisterte Rezeption des Films „Tal der Wölfe-Palästina“ vor genau einem Jahr durch viele „türkische“ Jugendliche).
Da würde die Auseinandersetzung natürlich viel schwieriger, mühsamer und konfliktträchtiger….da ist es viel bequemer, sich „der“ Juden als der idealen Opfer (sie können sich gegen die Vereinnahmung durch das „gute Deutschland nicht wehren….) zu bemächtigen, die es mit dem Antisemitismus unserer Grossväter zu tun hatten.
— Wenn man sich wirklich als „Feuerwehr“ im Sinne eines „Nie wieder!“ versteht, welchen Sinn macht es, hingebungsvoll Stolpersteine zu polieren, in der kalten Asche von vor 70 Jahren herumzustochern, während man kaum zur Kenntnis nimmt, dass gleichzeitig die Funken (schon wieder/immer noch) fliegen?
— Nicht zuletzt, und auf wunderbare Weise zu all dem passend:
bei „dradio.de“, also der Internetpräsenz des respektablen Deutschlandradio, werden Beiträge, die Antisemitismus, ob historisch oder aktuell, zum Thema haben, immer wieder/ Immer noch in der Rubrik „Aus der jüdischen Welt“ abgeheftet. .
Als wäre der Antisemitismus ein Spezifikum „der“ Juden, und nicht etwa der Gesellschaft, in der wir leben….
— Was hilft es , wenn Schüler heutzutage die Namen aller KZ´s von A-Z aufzählen können, aber kaum Ahnung /Erfahrung in der Begegnung mit lebenden Juden haben? Wozu führt es, für junge Menschen die „Judenfrage“ fast ausschliesslich in den Schatten der Ascheberge zu stellen (eine Frage, die man gerade auch immer häufiger in Israel stellt)?
— 30.000 bislang verlegte Stolpersteine sind ein Umsatz von etwa 3 Mio. €…….
Wäre all das Geld, das in den „Erinnerungskomplex“ geflossen ist und fliesst, nicht besser in die Begegnung von Kindern und Jugendlichen, also lebenden und „zukunftsträchtigen“ Menschen investiert?
Genau so hat es ja funktioniert, als wir versucht haben, unsere „Erbfeindschaft“ mit Frankreich zu überwinden.
Natürlich alles mühsamer, weniger hochmoralisch aufgeladen als die Zelebration unsrer wohlfeilen Erinnerungskultur……
Aber wäre es nicht ehrlicher, wenn es wirklich um das „Nie wieder!“ geht?
Und nicht den tieferen Sinn der „Selbsterlösung“?
Christoph Linge