Volksempfinden 2012, Xavier Naidoo und der Südkurier
Ständig erreichen Beiträge aufmerksamer Leser die seemoz-Redaktion. Längst nicht alle mögen wir veröffentlichen – manche aber laden geradezu zur Diskussion ein. Wie dieser von Christoph Linge, der Beispiele für das „gesunde Volksempfinden 2012“ aufzählt – auch am Bodensee, auch im Südkurier gibt es Spuren eines klammheimlich neuen Weltbildes
Gerade wurde er präsentiert, der aktuelle Bericht der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Rechtsextremismus in Deutschland. Das alarmierendste Ergebnis: Fast 40% der ostdeutschen Jugendlichen erklären sich als ausländerfeindlich, der Anteil der Ostdeutschen, denen ein geschlossenes rechtsradikales Weltbild bescheinigt wird, hat innerhalb der letzten Jahre rasant zugenommen: 16%.
Ob es vielleicht noch mehr sind – weil es auch im Rahmen einer anonymen Erhebung nicht jedermanns Sache ist, sich als „Kamerad“ zu outen – ist spekulativ. Tatsache ist, dass ein Viertel aller gewählten Vertreter auf Stadt-, Kreis- und Regionalebene in Sachsen eindeutig rechts verorteten Parteien oder Formationen angehören. Was ist die letzten Jahre, nicht nur im Osten, geschehen?
- – Der Ansatz „akzeptierende Jugendarbeit“, wodurch man rechte Umtriebe zumindest indirekt sogar noch gefördert hatte, ist zwar desavouiert. Trotzdem wird Neonazis beispielsweise bei sog. „Runden Tischen“ immer noch und immer wieder ein Forum zur Präsentation gewährt.
- – Nach Frau Kristina Schröders „Extremismus-Doktrin“, wonach linke wie rechte Extremisten gleich „böse“ seien, werden Aktivisten, die sich Neonazis entgegenstellen, diesen gleichgestellt und alleine gelassen.
- – Die sog. Zivilgesellschaft gefällt sich in Ritualen wie Lichterketten, Schweigemärschen, „Zeichen setzen“, Gedenken. Auf jeden Fall räumlich und zeitlich immer in sicherem Abstand zum Problem… Das führt bis hin zu derlei Absurditäten wie jüngst in Rostock-Lichtenhagen, wo zum 20. Jahrestag des dortigen Pogroms feierlich eine Deutsche Eiche (sic!) gepflanzt wurde.
Alles in allem Aktivitäten, die die Kameraden mächtig beeindrucken dürften. Und dennoch hat sich einiges geändert: „Glatzen“ in Springerstiefeln und Bomberjacken gibt es seltener zu sehen, dafür adrette Menschen mit „ordentlicher“ Haartracht und Anzug. So präsentieren sie sich, ob als gewählte rechte Volksvertreter oder Repräsentanten der lokalen rechten Szene, die mit Handel und Wandel vor Ort bestens verbandelt ist. Und ohne die dort oft nichts läuft. Die Denke aber ist, wenig überraschend, die gleiche geblieben. Damit ist nichts besser geworden. Soweit, so schlimm.
Rechtes Gedankengut in der Mitte der Gesellschaft
Noch schlimmer allerdings ist es, wenn (Vorsicht, vielstrapazierter Satz!) rechtes Gedankengut sich in der sogenannten „Mitte der Gesellschaft“ breitmacht. Oder, wahrscheinlich zutreffender, dort nach wie vor beheimatet ist. Zyklische Einigkeit zeigt sich immer wieder beim praktischen Rassismus: in Hoyerswerda, Lichtenhagen oder Mügeln gingen die Kameraden zwar voran, der ihnen folgende Mob war in seiner Mehrheit allerdings nicht rechts organisiert.
Über diese gemeinsame Schnittstelle „Rassismus“ hinaus versuchen Neonazis gezielt am „gesunden Volksempfinden“ anzudocken. Die Missbrauchsdebatte, in unserer Gesellschaft irrational bis hysterisch geführt, bietet ihnen eine willkommene Gelegenheit dazu. „Kopf ab, Schwanz ab, alles ab“ – da sind sich Volksseele und Kameraden einig. Ereignisse wie letztens im Emden, wo man sich zum Lynchen des vermeintlichen Sexualtäters vor dessen Haus versammelte, nachdem über facebook dazu aufgerufen wurde, sind nur ein Beispiel.
Es bleibt nicht nur bei solcherlei Bekundungen des „Volkszorns“. Man agiert bei facebook, richtet dort Seiten ein wie „Gegen Kindesmissbrauch“ oder „Keine Gnade für Kinderschänder!“ ( https://www.facebook.com/pages/Wer-die-Seite-Gegen-Kindesmissbrauch-klickt-unterstützt-die-NPD/105184136238775?sk=info ). Wer will, kann sich auch mit entsprechender Kleidung ausstaffieren: http://www.outbreak-of-crime.de/Jogginghosen/Ostdeutschland-81/Jogginghose-Todesstrafe-fuer-Kinderschaender-alt-S-XXL.html
Die Bemühungen zeigen Wirkung: in Sachsen-Anhalt macht de facto ein ganzes Dorf namens Insel, natürlich unter rechter Führung und Anleitung, zwei Haftentlassenen, die nach Verbüßung ihrer Strafe wegen pädophiler Vergehen dort unterkommen wollten, das Leben unmöglich. Es handelt sich um zwei ältere, kranke Männer, der sie in der Haft behandelnde Anstaltsarzt hatte ihnen sein in Insel geerbtes, nicht genutztes Haus aus Mitleid zur Verfügung gestellt. Mehrmals wurde versucht, das Haus zu stürmen. (zum abgewöhnen: http://politikforen.net/archive/index.php/t-127345.html ).
Mit Kameradenkluft im Südkurier
Alles zwar bedauerlich, aber gottlob weit weg vom schönen Bodensee. Denkt man. Hier nur ein Beispiel, dass das alles gar nicht so weit weg ist: Ein Bericht im „Südkurier“ vom 13. März diesen Jahres veröffentlichte zur Illustration des Beitrags „Wenn die Hand ausrutscht“ das Foto eines „Aktivisten“ im Kampf „Gegen Gewalt an Kindern!“. Dumm nur, dass es sich dabei um einen Neonazi bei einer von ebendiesen organisierten Kundgebung handelt. Es müsste doch jemand bemerkt haben, dass der Akteur auf dem Foto sein Gesicht ziemlich auffällig und bemüht hinter dem Luftballon versteckt: Da möchte jemand nicht erkannt werden – die Kundgebung stand unter polizeilicher Beobachtung. Welchen Grund sollte er sonst dafür haben? An der auf dem Ballon zu lesenden Parole liegt es sicher nicht. Das Outfit, schwarze Basecap und schwarzer Hoodie, sind jedenfalls „stimmig“: Kameradenkluft.
Die Meldung ist von dpa, und von da stammt auch das Foto, es ist also kein alleiniges Problem des „Südkurier“. Aber auch da hat man eben nichts gemerkt, und die Redaktion hat, nachdem sie auf ihr Versehen hingewiesen wurde, die Sache nicht klargestellt. Was bedeutet die (sicherlich versehentliche) Veröffentlichung dieses Fotos? Vor allem, dass man der Strategie der Andockung an`s gesunde Volksempfinden auf den Leim gegangen ist. Die Kameraden werden ihren kleinen publizistischen „Sieg“ schön gefeiert haben. Und: Nach 20 Jahren tatsächlichen oder vorgeblichen „Kampfes gegen rechts“ müssen wir eingestehen, dass wir kaum eine Idee haben, wie wir Neonazis begegnen, wenn sie sich „leibhaftig“ präsentieren. Und, noch dazu: wir erkennen sie oft nicht einmal. Das ist fast noch schlimmer als die schlimmen 16%.
PS: Wer derzeit ebenfalls ein recht trübes Süppchen auf der Glut des Volkszorns kocht, ist das Duo Xavier Naidoo/ Cool Savas, sprich Xavas: Im „hidden track“ ihres Albums „Gespaltene Persönlichkeit“ mit dem Titel „Wo sind?“ wird das angebliche Thema „Ritualmord an Kindern“ behandelt (so was wurde im Europa des christlichen Mittelalters jahrhundertelang den Juden unterstellt und ist eines der grundlegenden antisemitischen Klischees…). „Wir helfen Kindern“ stand auf den Plakaten im Konzert in Mannheim, und dann heißt es: „Ich schneid`euch jetzt mal die Arme und die Beine ab, und dann ficke ich euch in den Arsch, so wie ihr es mit den Kleinen macht. Ich bin nur traurig und nicht wütend. Trotzdem würde ich euch töten“. Und weiter: „Wo sind unsere Helfer, unsere starken Männer, wo sind unsere Führer, wo sind sie jetzt?“
Gesundes Volksempfinden 2012. Gewaltverherrlichende Homophobie. Auch die Linksjugend sieht das so und hat Anzeige erstattet.
Autor: Christoph Linge
Dennis Riehle: Sie nennen Traditionen bewahren und rechts sein in einem Satz? Es tut mir leid, aber ich kann Sie nicht mehr ernstnehmen.
hier noch der link zu besagtem aufmacher-foto (jens wolf, dpa), wie es auch im südkurier zu finden war:
http://www.lvz-online.de/region/wurzen/gegen-gewalt-an-kindern/r-wurzen-b-193297-0.html
Naidoo, mehr oder weniger beliebtes Mitglied der Jury bei „The Voice of Germany“ und als überaus egozentrisch veranlagter Musiker Vorbild für manchen, der eigens neues Selbstbewusstsein brauchen kann, gehört zu der Künstlergruppe, die sich ihrer rechtspopulistischen Hasstiraden bewusst sind – sie aber, sobald etwas davon in größerem öffentlichen Zusammenhang diskutiert wird, mit großem Bedauern rechtfertigen und kleinreden.
So auch wieder bei aktuellen Songs: Ob Naidoo seine eigenen Texte nicht versteht, mit der englischen Sprache Probleme hat oder sich einfach nur als Opfer böswilliger Unterstellungen sieht, kann man sich getrost aussuchen.
Anders verhält es sich bei „Bushido“ und Kollegen: Hier scheint ganz offensichtlich und nahezu demonstrativ ein verachtendes Weltbild zutage zu treten, das viele Jugendlichen vor lauter „Alda“-Rap gern übersehen und -hören, als „nicht so schlimm“ oder mit „die haben doch recht“ bewerten und es damit gerade in soziokulturell angespannten Gesellschaftskreisen hoffähig machen.
Dabei sind es keine „Kleinigkeiten“, wenn man das Blut der Schwulen fließen sehen will, den Kinderschänder am liebsten am Galgen hängen hätte oder die Hetzjagd auf alles Fremde als zulässige Verteidigung klassifiziert – hinter rockigen Silben, die meist kaum jemand versteht, versteckt sich zutiefste Verachtung. Eindeutige Hinweise führen dabei zu Verbindungen in die rechtsextreme Musikszene. Und die Grenzen werden fließend: Mit CDs auf dem Schulhof oder der Empfehlung von „Facebook“-Kumpels: Maschen der entsprechenden Parteien und freien Vereinigungen können leicht wohlwollend übersehen werden. Denn Vorurteile bieten den idealen Nährboden, sich begeistern zu lassen – und die tragen dort Früchte, wo Benachteiligungen zum Alltag gehören.
Ja, mitten unter uns, ob in Berlin oder Konstanz – wohl nirgends gibt es heute noch die „heile Welt“ ohne Arbeitslosigkeit, soziale Ungerechtigkeit oder Integrationsschwierigkeiten. Ein bisschen national eingestellt, Traditionen bewahren oder locker rechtslastig „rumprollen“ – solange Vorbilder existieren, denen man trotz ihrer Einstellung zu Füßen liegt, ist es egal, ob es das klein- oder großstädterische Umfeld ist, das zusätzlich prägt.
Verantwortung tragen die, die Zugang und Einflussmöglichkeiten auf diejenigen haben, die scheinbar zwischen „cool“ und „egal“ nicht mehr unterscheiden können – weil ihnen selbst jegliche Perspektive abhanden gekommen ist oder gewalttätiges Aufmucken zum guten Ton gehört. Hier sind Medien angesprochen – auch die Presse vor Ort. In wie weit beim SÜDKURIER tatsächlich fahrlässig missachtet wurde oder einfach übersehen wurde, will ich nicht beurteilen. Wir sind alle zu größtmöglicher Wachsamkeit aufgerufen!