Vom Irr- und Widersinn des Krieges in Afghanistan
Der Krieg in Afghanistan hat die International Security Assistance Force (ISAF) und die USA zwischen 2003 bis 2014 gut eine Billion Dollar gekostet. Mehrere hundert Milliarden Dollar an Kosten werden noch nachkommen. Es lässt sich festhalten: Die Steuerzahler aller ISAF-Staaten mussten über eine Billion US-Dollar bereitstellen, damit ihre Truppen rund zwölf Jahre in Afghanistan Krieg führen konnten. Diesen gigantischen Betrag hätte man auch vernünftiger für sinnvollere Zwecke verwenden können.
Um sich das ganze Ausmaß der Vergeudung vor Augen zu führen, sollte man sich die unvorstellbare Zahl mit zwölf Nullen vorstellbar machen; denn es fällt den meisten Menschen schwer, sich eine genaue Vorstellung von der wahren Größenordnung zu machen. Wenn alle deutschen Arbeitnehmer ihr Jahreseinkommen zusammenlegen würden, kämen sie gerade mal auf knapp eine Billion. Alle Beschäftigten in Deutschland brauchen ein volles Jahr, um den Betrag zu erarbeiten, den die ISAF-Truppen am Hindukusch in den Wüstensand geknallt haben.
War es das wert?
Um sich vor Augen zu führen, mit welcher Geldmacht sich die ISAF in Afghanistan ausgebreitet hat, lohnt es sich, die Zahlen vor dem Hintergrund der afghanischen Wertschöpfung zu betrachten. Mit seinen 30 Millionen Einwohnern erwirtschaftet ganz Afghanistan pro Jahr gerade mal ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund 20 Milliarden Dollar. Das ist ein Fünfzigstel des Betrags, den die westlichen Mächte in Afghanistan für ihren Krieg verbrauchten.
Noch einmal: Die Isaf-Truppen haben in Afghanistan also in zwölf Jahren 50mal so viel Geld verballert, wie alle Afghanen in einem Jahr erwirtschaften. Kein Wunder, dass die Afghanen die Westmächte durchaus mit einem gesunden Misstrauen betrachten.
Andersherum: Die Völker Afghanistans müssten ein halbes Jahrhundert lang, 50 volle Jahre arbeiten, um den Betrag zu erwirtschaften, den die Isaf dort verbraucht hat, ohne damit sonderlich etwas Sinnvolles zu erreichen. Ihr Ziel, Stabilität und Demokratie im Norden Afghanistans schaffen und den Wiederaufbau unterstützen, hat die Isaf mit Pauken und Trompeten vergeigt.
Auch den Vormarsch der Taliban hat sie nicht stoppen können. Selbst die Festung, in der die deutschen Truppen sich eingeigelt hatten, Kundus, dürfte in Kürze den Taliban in die Hände fallen. Der Krieg stagniert nach zwölf Jahren geballten Militäreinsatzes an der Stelle, an der er schon vor zwölf Jahren stand. Die militärische Lage am Hindukusch hat keinen Fortschritt gemacht. Seit dem Abzug der Isaf-Kampftruppen haben die Taliban ihre Angriffe wieder verstärkt.
Es gibt in Afghanistan keinen Fortschritt
Aber angeblich sollte der westliche Truppeneinsatz ja auch den zivilen Aufbau einer wirtschaftlich sinnvollen Infrastruktur erreichen. Sind da wenigstens Fortschritte im Wert von wenigstens einer halben Billion erreicht worden? Mitnichten.
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und belegte 2014 im Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen den 175. Platz unter 187 Staaten der Welt. An ungefähr derselben Stelle stand es zehn Jahre zuvor auch schon. 1996 belegte das Land den 169. Platz unter 174 Ländern im HDI. Seither ging es nur noch bergab: 2004 stand Afghanistan auf Platz 173 von 178 Nationen. 2009 erreicht das Land den absoluten Tiefpunkt mit dem 181. Platz von 182 Ländern.
Die angebliche Aufbauarbeit der USA und der ISAF – Brunnen bohren und Schulen errichten – ist nichts als eine billige Lebenslüge der Krieger aus dem Westen. Afghanistan hat nach wie vor eines der niedrigsten Bruttoinlandsprodukte (BIP) der Welt. 35 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos – so wie schon immer. Über die Hälfte der Einwohner Afghanistans lebt laut UN World Food Program unterhalb der Armutsgrenze. Keinerlei Fortschritt in zwölf Jahren.
Auch nach langjähriger ISAF-Besatzung, angeblich riesigen Anstrengungen aller beteiligten Staaten und Investitionen in Milliardenhöhe, können über 80 Prozent der Afghanen heute nicht lesen und schreiben. Etwa 6,6 Millionen der etwa 30 Millionen Afghanen haben nicht genügend zu essen, 68 Prozent der Bevölkerung fehlt – trotz der angeblich vielen gebohrten Brunnen – ein nachhaltiger Zugang zu sauberem Wasser und 50 Prozent der afghanischen Kinder unter fünf Jahren sind untergewichtig. Das Durchschnittseinkommen einer afghanischen Familie liegt heute bei zwei US-Dollar pro Tag.
Die Lebenserwartung der Afghanen sank von 44,5 auf 43,1 Jahre, die Alphabetisierungsrate unter Erwachsenen von 28,7 Prozent auf 23,5 Prozent. Es gibt in Afghanistan keinen Fortschritt, es gibt nur Rückschritt.
Die Nahrungsmittelpreise für Brot und Mehl sind zuletzt um durchschnittlich 70 Prozent gestiegen. Angesichts gestiegener Lebenshaltungskosten, fehlender Einkommensquellen, wachsender Sicherheitsprobleme und der fragwürdigen Legitimität der afghanischen Regierung verwundert es nicht, dass die Bevölkerung ihre Lage schlimmer einschätzt als noch vor einigen Jahren. Auch das von der Bundesregierung hoch bejubelte soziale und wirtschaftliche Engagement der Deutschen kommt im Land nicht an.
Die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren ist in Afghanistan die dritthöchste der Welt. Die Müttersterblichkeitsrate sogar die zweithöchste – alle 29 Minuten stirbt eine Frau bei der Geburt.
Afghanistan trägt auch schwer an den Lasten des andauernden Krieges. Geschätzte 800 000 Menschen leiden unter Behinderungen in Folge der militärischen Einsätze. Viele von ihnen haben keinerlei Zugang zu medizinischer Versorgung.
Man muss die Zahlenwerte für den massiven Einsatz in Beziehung zu dem potenziellen wirtschaftlichen Nutzen sehen, den man mit dem vielen Geld hätte stiften können, wenn es wirklich darum gegangen wäre, das Land und seine Menschen vor den radikalen muslimischen Terroristen zu bewahren.
Das Geld statt in den Krieg in die Wirtschaft investieren
Man stelle sich nur einmal vor, wie viel Infrastruktur, wie viele Fernverkehrsstraßen, Asphaltwege, Kraftwerke, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Brunnen, Bewässerungsanlagen, Wasserwerke, Kläranlagen, sanitäre Einrichtungen, Elektrizitätswerke, Waisenhäuser, etc., etc. man mit einer Billion Dollar hätte errichten können. Es ist eine durchaus legitime Überlegung, darüber nachzudenken, wie man diese wahnsinnige Menge an Geld sinnvoller und vernünftiger hätte einsetzen können.
Über die Staatseinnahmen Afghanistans gibt es keinerlei verlässliche Angaben. Je nach Quelle liegen sie zwischen zwei und drei Milliarden Dollar. Es gibt in Afghanistan kaum ordentlich registrierte Unternehmen, und es werden nur sehr wenig Steuern gezahlt. Die afghanische Regierung operiert mit etwas anderen Zahlen. Ihr zufolge hat der Staatshaushalt 2013 Ausgaben in Höhe von sieben Milliarden Dollar betragen. Wie die genaue Höhe ist, dürfte auch einigermaßen gleichgültig sein.
Legt man die von der afghanischen Regierung zu Grunde gelegte Höchstzahl an, so bedeutet das: Um den Betrag auszugeben, den die Isaf-Truppen in zehn Jahren über dem Land verballert haben, bräuchte die afghanische Regierung 143 Jahre, also bis zum Jahr 2158. Ohne ausländische Hilfsgelder, die ja reichlich fließen, läge das afghanische Budgetvolumen so niedrig, dass die afghanische Regierung an die 300 Jahre bräuchte, um den Betrag aufzubringen, den die ISAF in zwölf Jahren sinnlos verbraucht hat.
Ganz konkret: Hätte man das viele Geld statt in den Krieg in die Wirtschaft des Landes investiert, wäre ganz Afghanistan heute eine einzige wirtschaftlich blühende Landschaft, ein muslimischer Musterstaat, aus dem die Taliban und sonstigen Gotteskrieger längst ganz von selbst verschwunden wären.
Und das ist der Blutzoll, den die Menschen in Afghanistan ebenso wie die Soldaten der Isaf für die Fehlallokationen von rund einer Billion Dollar in Krieg statt in Aufbau zu zahlen haben: Experten gehen davon aus, dass der Krieg in Afghanistan mehr als hunderttausend Menschen das Leben gekostet hat. Die Zahl der Kriegsopfer liegt bei über 70 000 Menschen. Die Anzahl getöteter Zivilisten liegt sicherlich höher als 43 000. Die Minimalschätzung liegt also bei 100 000 Menschen. Die Zahl der getöteten Taliban dürfte bei über 50 000 Menschen liegen.
Nach den offiziellen Angaben des afghanischen Ministeriums für Planung tummeln sich über 1600 Non-Government Organizations (NGOs) in Afghanistan. Niemand weiß so recht, ob die überhaupt etwas Nützliches treiben. Experten allerdings sind übereinstimmend der Ansicht, dass sie in der Regel nicht effektiv arbeiten und das meiste Geld und die meiste Zeit, 70 bis 80 Prozent, für Verwaltung ausgeben. Außerdem zahlen sie zu hohe Gehälter, so dass sie die afghanischen Experten von der Regierung wegziehen.
Man stelle sich nur einmal ernsthaft vor, die westlichen Nationen hätten beschlossen, in Afghanistan kein Militär einzusetzen und stattdessen die eine Billion US-Dollar gezielt und wohldurchdacht in die Infrastruktur und die Wirtschaft des Landes zu investieren. Selbst der Gedanke, dass man möglicherweise das viele Geld hoffnungslos in die falschen Kanäle fehlinvestiert haben könnte, hat keinerlei Schrecken.
Dann wäre Afghanistan nach zwölf Jahren ein blühendes Land geworden, in dem es sich zu leben lohnt. Die Taliban und sonstige Gotteskrieger wären längst vom Erdboden verschwunden, weil niemand es für erstrebenswert halten würde, gegen das gute Leben zu protestieren. Fehlinvestitionen sind immerhin noch Investitionen, also die Anlage von Kapital in Sachgüter, mit denen sich weitere Sachgüter produzieren lassen, und damit tausendmal besser als die Anlage von Kapital in unproduktive Schießapparate.
Das ist alles natürlich eine Milchmädchenrechnung. Eine lebensfremde Fantasie. Das weiß ich auch. Aber was wäre denn zu befürchten, wenn Nationen wirklich einmal ein solches Denkspiel praktizieren würden?
Spricht etwas gegen die Milchmädchenrechnung?
Und man darf ja niemals die Augen davor verschließen, dass stets die Rede von knappen Ressourcen geht: Das Geld, das für die Kriegsmaschinerie verbraucht wird, fehlt andernorts. Es ist also völlig legitim, darüber nachzudenken, was wäre, wenn man das ausgegebene Geld für andere Zwecke ausgegeben hätte.
Es soll jetzt niemand daher stolziert kommen und mit vor Wichtigkeit schier platzender Brust verkünden, es sei geld- und währungspolitisch problematisch, auf einen Schlag so viel Geld in eine austeritäre Ökonomie zu pumpen. Darum geht es gar nicht. Mal abgesehen davon: Ist es denn wirklich sinnvoller, so viele Gewehrkugeln, Maschinengewehrmunition und Panzerfäuste in ein Land zu knallen und so viele Menschen sterben und verkrüppeln zu lassen?
Aber ist die vorsteinzeitliche Logik hinter dem Waffengang von Afghanistan auch nur einen Deut fortschrittlicher, repräsentiert sie auch nur einen klitzekleinen Schritt weiter nach vorne als die naive Milchmädchenrechnung oder hat gar eine höhere Stufe der Rationalität oder Menschlichkeit als der kindliche Traum einer friedfertigen Welt?
Kostet die Milchmädchenrechnung, wenn sie denn praktiziert würde, irgendeinen Menschen das Leben? Bietet sie nicht möglicherweise sogar Lebensperspektiven für Millionen Menschen. Und kostet sie irgendjemanden etwas anderes als Geld? So wie der Krieg auch?
So ganz weltfremd scheinen derartige Überlegungen auch hochrangigen Militärs aus den USA nicht zu sein. Der einstige Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Europa und spätere 34. Präsident der Vereinigten Staaten, Dwight D. Eisenhower, produzierte immerhin die folgende atemberaubende Einsicht: „Jede Kanone, die gebaut wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die hungern und nichts zu essen bekommen, denen, die frieren und keine Kleidung haben. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiß ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“
Und warum eigentlich widersetzt sich der in der Realität verhärtete gesunde Menschenverstand einer Überlegung, die doch dem gesunden Menschenverstand so nahe liegt?
Aber wenn man einmal ernsthaft über die weltfremde Milchmädchenrechnung nachdenkt, kann sich eigentlich niemand der Einsicht entziehen, wie hundertfach, ja tausendfach vernünftiger sie doch ist als die bodenständige Realität mit hunderttausenden Toten und Versehrten und Billionen verschwendeter Gelder, die man sinnvoller hätte verwenden können.
Anscheinend geht die Evolutionstheorie von der Annahme aus, dass die menschliche Spezies die Keule ein paar hunderttausend Jahre vor der Sprache erfunden hat und dass sich dies noch bis heute ungünstig auswirkt. Sie ist sozusagen die stammesgeschichtlich ältere Schöpfung des menschlichen Geistes. Und gewiss auch nicht die brillanteste. Aber die Zeiten der steinzeitlichen Stammeskultur ja nun auch schon seit einiger Zeit vorbei. Vielleicht ist es an der Zeit für eine Politik auf einem höheren Niveau als dem des Kriegsgebrülls „UggaUggaaaah. Ich hau‘ Dir auf die Fresse, wenn Du nochmal so blöd glotzt.“ Oder doch nicht?
Wolfgang J. Koschnick
(Dieser Text stand zuerst auf Telepolis).