Warum Umfragen zu Impfquoten danebenliegen können
Täglich werden neue Zahlen durch das Mediendorf getrieben: Da ist mal von zigtausend nicht registrierten Impfungen zu lesen, dann wieder differieren die Impfquoten je nach Quelle deutlich. Da scheint es eigentlich logisch, die Menschen selbst zu befragen, ob sie geimpft sind. Die TU Chemnitz und die Universität Konstanz haben jetzt wissenschaftlich untersucht, wie verlässlich Umfragen zur Impfquote gegen Covid-19 sind. Das Ergebnis ist eher ernüchternd.
Hier eine Medienmitteilung der beiden Universitäten:
Mit dem kälteren Wetter steigt im Herbst 2021 auch die Anzahl der Corona-Fälle in Deutschland erneut an. Im Vergleich zum Vorjahr gibt es jedoch einen wichtigen Unterschied – ein Großteil der Bevölkerung hat mittlerweile eine Impfung gegen Covid-19 erhalten. Doch wie hoch die Impfquote in Deutschland tatsächlich ist, wird schon länger heftig diskutiert. Mehrere Bevölkerungsumfragen zum Impfstatus der jeweils Befragten haben eine deutlich höhere Quote (mindestens einmal) geimpfter Menschen ergeben, als vom offiziellen digitalen Impfquoten-Monitoring des Robert Koch Instituts (RKI) erfasst wurden. In der öffentlichen Debatte wurde diese Diskrepanz teils auf eine deutliche Untererfassung der tatsächlichen Impfquoten durch Haus- und Betriebsärzte sowie Impfzentren zurückgeführt. Es könnte aber auch eine andere Erklärung geben: Eine aktuelle, noch unveröffentlichte Studie von Forschern der Technischen Universität Chemnitz und der Universität Konstanz zeigt, dass eine umfragebasierte Schätzung der Impfquote Verzerrungen unterliegt. Die Studie erfolgte unter Beteiligung eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der TU Chemnitz.
„Soziale Erwünschtheit“ als Anreiz zum Lügen in Umfragen
„Wir können zeigen, dass Effekte sozialer Erwünschtheit in Umfragestudien dazu führen, dass Befragte eine Impfung gegen Covid-19 auch dann fälschlicherweise angeben, wenn diese gar nicht erfolgt ist“, sagt Prof. Dr. Jochen Mayerl von der Professur Soziologie mit dem Schwerpunkt Empirische Sozialforschung an der TU Chemnitz. „Wenn wir davon ausgehen, dass eine Impfung gegen Covid-19 als normativ erwünscht gilt, und dass die meisten erwachsenen Menschen in Deutschland diese Norm wahrnehmen – gleichgültig, ob sie die Norm persönlich für richtig oder falsch halten – dann entsteht ein Anreiz für Ungeimpfte, mit ihren Angaben von der Wahrheit abzuweichen, um eine Missbilligung durch wen auch immer zu vermeiden“, fügt Dr. Felix Wolter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Professur für Mikrosoziologie und Mitglied des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“ der Universität Konstanz, hinzu.
Umfragemethoden im Vergleich
Dass solche Antwortverzerrungen in Umfragen auftreten, ist bereits eine gesicherte Erkenntnis in der empirischen Sozialforschung. In der aktuellen Studie der Soziologen der TU Chemnitz und der Universität Konstanz wurde nun experimentell nachgewiesen, dass dies auf die Frage nach dem Impfstatus gegen Covid-19 ebenfalls zutrifft. Die Forschenden hatten vom 10. bis 20. September 2021 insgesamt 7.530 in Deutschland lebende Personen im Alter zwischen 18 und 70 Jahren, die über einen Internetzugang verfügen, befragt. Einem Teil der Stichprobe wurde die direkte Frage nach einer erfolgten Erstimpfung gegen das Corona-Virus gestellt („Ich bin mindestens einmal gegen das Coronavirus geimpft worden: Ja/Nein“). Einer anderen Gruppe von Befragten wurde dieselbe Frage mittels einer anonymisierenden speziellen Fragetechnik, der sog. Item-Count-Technik (ICT), gestellt. Hierbei beantworten die Befragten die Frage zum Impfstatus nicht direkt, sondern zusammen mit weiteren „unverfänglicheren“ Fragen. Die Erhebung erfolgt hier also über aggregierte Daten und somit in anonymisierter Form. Mit statistischen Verfahren wurde danach ein Schätzwert für die Impfquote in dieser Stichprobe ermittelt.
Direkte Frage nach dem Impfstatus führt zu einer Überschätzung der Impfquote
Für die Altersgruppe zwischen 18 und 70 Jahren wurde für den Erhebungszeitraum Mitte September 2021 mittels der direkten Frage eine Impfquote von knapp 85 Prozent ermittelt (mindestens Erstimpfung). „Obwohl dieser Wert nicht mit den offiziellen Daten des RKI vergleichbar ist – Kinder, Jugendliche und Ältere waren nicht Teil der Stichprobe –, deutet er auf eine deutliche Überschätzung der tatsächlichen Impfquote hin“, so Mayerl. Denn wenn man anonymisiert frage, zeige sich ein deutlich anderes Bild: „Hier liegt die ermittelte Impfquote mit 75 Prozent etwa zehn Prozentpunkte niedriger im Vergleich zur direkten Frage. Der Unterschied ist statistisch signifikant, denn die Wahrscheinlichkeit, dass die Unterschiede zwischen direkter Frage und ICT rein zufällig entstanden sind, ist äußerst gering“, ergänzt Wolter. „Damit unterstreicht unsere Untersuchung, dass konventionelle, direkte Befragungen nach dem Impfstatus gegen Covid-19 den tatsächlichen Anteil der geimpften Bevölkerung überschätzen“, sagt Mayerl. Zudem gehen die Soziologen davon aus, dass die Überschätzung bei einer persönlichen oder telefonischen Umfrage durch anwesende Interviewerinnen oder Interviewer vermutlich noch höher gewesen wäre als bei ihrer Online-Studie.
Text: Gemeinsame Presseinformation der TU Chemnitz und der Universität Konstanz. Bild: Fotografik Jacob Müller, Foto Pexels.
Impfgegnerschaft hat vielfältige Quellen, das ist bei einem Besuch einschlägiger Protestveranstaltungen augen- und ohrenfällig. Der Medizinhistoriker Malte Thießen sieht eine davon beim «Körperkult der Impfgegner». Viele Homöopathen und Körperbewusste seien Corona-Impfskeptiker. Ein Teil von ihnen sei aber offen für Appelle an die gesellschaftliche Solidarität, gibt er im Interview mit dem WDR zu bedenken.
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-politikum-gespraech/audio-der-koerperkult-der-impfgegner-100.html
Ein weiteres aufschlussreiches Interview mit dem Historiker Malte Thießen dazu: „Antisemitismus bei Impfgegnern, Israel und die Zeit nach der Pandemie“
https://www.juedische-allgemeine.de/politik/uralte-stereotype/
In dieser DLF-Sendung wird das Nordwest-Südost Gefälle
der Impfbereitschaft diskutiert und eine Erklärung versucht:
«Der Föderalismus und die relativ starke Verbreitung der Anthroposophie gehörten mit zu den Gründen, weshalb es gerade im deutschsprachigen Raum so viele Impfverweigerer gebe, sagte der Baseler Soziologe Oliver Nachtwey im Dlf. Diese Mischung sei einmalig in Europa.»
https://www.deutschlandfunk.de/soziologe-nachtwey-zu-impfverweigerern-100.html
In der Schweiz und Österreich sieht es ja leider ähnlich oder noch
bescheidender aus, als bei uns im Südosten.
Aber auch dies ist bemerkenswert:
«Das Land Bremen ist Deutschlands Impfmeister: 81,5 Prozent der Menschen sind mindestens einmal geimpft. Claudia Bernhard glaubt nicht, dass der Wert noch nennenswert steigen wird.
Genau 81,5 Prozent der Menschen im Land Bremen sind einmalig geimpft – so viele wie in keinem anderen Bundesland. Das zeigen die Daten des Robert Koch-Instituts. Gleichzeitig schließt sich die Kluft zwischen dem Anteil der Erst- und Zweitgeimpften immer mehr. Die Frage stellt sich, ab wann eine Sättigung bei den Erstimpfungen erreicht wird. Denn schließlich können Kinder unter zwölf Jahren nicht immunisiert werden – zumindest noch nicht.
Für die Bremer Gesundheitssenatorin, Claudia Bernhard (Linke), ist das Erreichen einer 85-Prozent-Impfquote unter diesen Umständen unwahrscheinlich.»
https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/impfquote-erreichbar-grenze-100.html
Dazu ein Kommentar von Fabio De Masi (mangels Zugriff
auf den dort zitierten Spiegelartikel, der erklärt was in Bremen anders gemacht wurde):
https://twitter.com/FabioDeMasi/status/1461271155046850560
Die COVIMO-Studie des Robert-Koch-Instituts erfragt nicht nur den Impfstatus. Es wird auch geprüft, ob die Leute richtig informiert sind und welche Einstellung sie zum Impfen haben, und ob sich das mit der Zeit ändert. Siehe https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Projekte_RKI/covimo_studie_Ergebnisse.html . Das finde ich wichtig, trotz der methodischen Probleme mit Umfragen.
Man hätte die scheinbar höhere Quote, die im August gemeldet wurde, hinterfragen sollen – aber mit welchen Informationen? Die Impfzentren und Ärzte hatten weniger gemeldet, aber die Zahl der verbrauchten Impfdosen passten zu den Umfragen. Da lag es nicht fern, an die gute Nachricht zu glauben. Selbst der nüchterne Prof. Drosten hatte im Podcast vom 28. September noch die Hoffnung, „dass man vielleicht fünf Prozent höher liegt.“ Jetzt ist es wie nach einem Kurssturz an der Börse: im Nachhinein wussten es alle, und man prügelt den Boten bzw. Meinungsforscher.
Wir brauchen viel mehr Umfragen: Warum haben 15 Millionen Impfberechtigte die für sie bestellten und von der Allgemeinheit bezahlten Dosen nicht haben wollen? Warum benutzen viele Menschen lieber teuer gefälschte Ausweise als kostenlose echte? Und warum gibt es in Deutschland diesen merkwürdigen Gradienten der sinkenden Impfbereitschaft von Nordwesten nach Südosten? Das würde mich schon interessieren.
In der anhaltend aufgeheizten öffentlichen Impfdebatte, unterlegt mit permanenter Angsterzeugung und deren Aufrechterhaltung durch Politik, Medien und RKI, ist es doch zu erwarten, dass bei Impfumfragen gelogen wird. Da wundere ich mich, dass für derartige Projekte mit sehr nahe liegendem Ausgang viel Geld ausgeben wird. Wo soll da der Benefit zur tatsächlichen Erhöhung der Impfquote sein? Vor allem im Bereich der Pflegekräfte sowie der Personen mit entsprechenden Vorbelastungen wäre das bitternötig.