Was bin ich? Oder: Die neue europäische Einheit

seemoz-Nous_sommes_unisViele kennen noch die Kultsendung „Was bin ich?“, das heitere Berufe-Raten, bei dem der Beruf einer bestimmten Person ermittelt wurde. Diese Frage scheinen sich aktuell viele Menschen zu stellen, weil sie ständig den Drang haben, vor allem in den sozialen Medien, auszudrücken, was sie gerade sind. Man ist dann mal Papst, Weltmeister oder Deutschland.

Wenn man christlich ist und sich mit dem neuen Papst identifizieren kann, ok. Wenn man sich selbst als Weltmeister fühlt, weil man bei jedem Spiel mitgefiebert und Daumen gedrückt hat, auch ok. Auch eine starke emotionale Verbindung mit dem Geburtsland ist, wenn man nicht andere aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert, in Ordnung.

Doch ist es in Ordnung, sich bei seiner Identitätsfindung an schreckliche Tragödien zu klammern und gleichzeitig die vielen anderen schrecklichen Dinge, die auf dieser Welt passieren, damit abzuwerten oder nebensächlich erscheinen zu lassen? Man war ja nicht nur bereits Papst und Weltmeister, sondern man war auch schon Charlie und Tunisie. „Je suis“ hat sogar einen eigenen Hashtag bei Twitter und Co. Ich denke, also bin ich oder was soll das? Jetzt ist man auf jeden Fall mal Paris und das muss auch die ganze Welt so schnell wie möglich erfahren. Deshalb wird das Facebook-Profilbild geändert oder in den Farben der Tricolore eingefärbt und wer das nicht tut, ist doof. Ist das Trauer? Oder geht es einfach nur darum, mal wieder mit dem Strom zu schwimmen?

NousSommesUnis

So ein Statement kann natürlich einfach die eigene Betroffenheit oder Mitgefühl ausdrücken. Es besteht allerdings die Gefahr, dass man sich mit denjenigen gemein macht, die die Verantwortung für die Attentate nun den zahlreichen Geflüchteten in die Schuhe schieben wollen. Man ist nämlich nicht nur Paris, sondern bestenfalls auch noch vereint (NousSommesUnis). Viele Menschen sehnen sich danach, einer Gruppe anzugehören, nach einem Wir-Gefühl. Doch muss dieses Wir-Gefühl immer darin gründen, sich gegen andere derart abzugrenzen, dass man alles „andere“ hasst – und am besten auch noch die, die mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun haben?

Ganz im Gegenteil: Die Flüchtlinge, die tagtäglich zu uns kommen, fliehen genau vor solchen Anschlägen. Diese Anschläge sind keine Einzelereignisse. Allein bei den Anschlägen in Europa gibt es einen riesigen Aufschrei, der die Grausamkeiten einzigartig wirken lässt. Sie sind Alltag, allerdings nicht bei uns, sondern in den Herkunftsländern der Geflüchteten. Genau deswegen tendieren wir dazu, den Schrecken in den krisengeschüttelten Ländern abzutun oder zu ignorieren – das ist einfach schon Normalität. Es ist eine Skandalgeilheit, die mit der Trauer einhergeht, für die man sich eigentlich schämen müsste. Beim Betrachten der ‚Brennpunkte‘ im Fernsehen ist man schockiert und froh zugleich, dass man selbst im sicheren Zuhause auf dem Sofa sitzt.

Egalité

Es besteht kein Zweifel, dass jeder einzelne der 150 Tode erschütternd ist und unsere aufrichtige Trauer verdient hat. Ist es aber gerechtfertigt, die Trauer darüber derart zu zelebrieren, dass man nicht mehr weiß, ob die Verstorbenen hier im Mittelpunkt stehen oder die Trauernden selbst? Ist es nicht moralisch verwerflich, die 150 Tode, die in Paris gestorben wurden, über mehrere hundert, wenn nicht sogar tausend Tode im Mittelmeer, in Damaskus, in Ankara zu stellen, indem wir ersteren unsere ganze Aufmerksamkeit schenken und uns um Letztere einen Dreck scheren?

Diese Fragen muss jeder für sich selbst beantworten. Jeder hat das Recht zu trauern und dieser Trauer Ausdruck zu verleihen, doch das Wie ist hier der entscheidende Punkt. Unsere bisherige Trauerkultur zeigt zwei Risiken: Zum einen das Trauern, das droht, schleichend seinen ursprünglichen Sinn zu verlieren, zum anderen die Aufwertung von bestimmten Toden gegenüber anderen. Ich möchte dieser Entwicklung nicht Vorschub leisten. Ich möchte mir nicht jeden Tag dieselbe Frage stellen: „Was bin ich?“ Ich bleibe lieber bei der einzig zutreffende Feststellung über meine Identität: Ich bin Mensch.

Carla Farré