Zwei Gesichter des Papstes

Der erste, große Trubel nach der Papstwahl ist vorbei. Ratzinger ist Geschichte, der neue Papst Franziskus nun Gegenwart. Auch Zukunft? Wenn es um den Zustand der katholischen Kirche geht, hat seemoz ausnahmslos eine kritische Position eingenommen. Auch dieses Mal. Der Konstanzer Publizist und Historiker Ernst Köhler hat sich darüber, und auch über den neuen Pontifex, so seine Gedanken gemacht:

Für eine gewisse Sorte Ex-Katholiken, Ex-Christen, Ex-Gläubigen, hartgesottenen Kirchenkritikern muss etwas passieren, etwas Unerwartetes, dass sie für einen Moment wieder etwas spüren, sozusagen zu sich kommen in der Routine ihrer Gottlosigkeit. Der letzte Papst musste zurücktreten, dass so einer ihn auf einmal als einen integren Menschen wahrnehmen konnte. Vorher hatte er nur den konservativen Theologen sehen können, den rückwärtsgewandten, uninformierten, weltfernen Pontifex, den sexualpolitischen Reaktionär. Den sieht er immer noch, schließlich ist er kein sentimentales Weich-Ei. Er weiß, was er weiß. Fakten sind Fakten. Die ignorante Denunziation des Gebrauches von Kondomen in Afrika bleibt unverzeihlich.

Aber was unser irritierter Zeitgenosse da jetzt sieht, ist doch vor allem die aufrichtige Person hinter dem versagenden und scheiternden Kirchenchef. Er sieht plötzlich ein anderes, bisher verstelltes Gesicht. Es ist ein durchaus ungewollter, störender Anblick. Ein Beobachter des hier bezeichneten Typs behält seine missliche, spontane Ergriffenheit denn auch für sich. Er versucht, sie einfach hinunter zu schlucken. Das geht schon vorüber. Er zählt darauf, dass er in ein paar Tagen wieder ganz der Alte ist. Er fängt sich selber auf. Das kann er, er hat es oft genug geübt.

Oder jetzt der neue Papst, der sich „Franziskus“ nennt. Und die Gläubigen auf dem riesigen Platz bittet, für ihn zu beten, ehe er sie segnet. Und sich dabei vor den verstummenden Massen verneigt. Bedächtig, richtig, ziemlich lange, nicht nur mal kurz, andeutungsweise und förmlich. Das ist wieder so ein Augenblick der Verunsicherung für unseren kirchen- und glaubensfernen Hardliner.

Die ersten Informationen hat er blitzschnell. Er weiß noch am Abend der Papstwahl, dass dieser lateinamerikanische Jesuit wieder ein eiserner „Konservativer“, sprich: Illiberaler ist. Dass er in seinen Land die Homo-Ehe vehement bekämpft hat. Das kommt auch nicht unerwartet. Es passt. So sind sie, so denken doch fast alle, die dieses Konklave bestritten haben. Aber auf einmal lässt es unseren Ausbund von säkularer Illusionslosigkeit kalt. Es ist, als fühle er unvermutet seine konservativen Wurzeln. Die er doch längst gerodet glaubt. Es ist, als sei dieses Wurzelwerk aus Kindheitstagen immer noch nicht ganz abgestorben. Was ist los mit ihm? Wenn ein katholischer Kirchenfürst sich gegen die Rechte und Lebensinteressen der homosexuellen Minderheit stellt, ist er doch sonst für unseren aufgeklärten Kopf erledigt. Mag der Bischof über Armut, Unterernährung und „Dritte Welt“ sagen, was er will. Gilt der Maßstab jetzt nicht mehr?

Unser Zeuge ertappt sich sogar bei dem Gedanken, dass die Anerkennung der Armut, der Armen in der Welt wichtiger sein könnte als die Respektierung der Schwulen. Nein, das ist hanebüchen. Es geht schrecklich in die Irre, die Rechte der einen gegen die Rechte der anderen auszuspielen. Aber vielleicht geht es so: Was wäre, wenn der neue Mann nicht nur an die gewohnte Caritas appellierte, nicht nur wieder „eine gerechtere Welt“ verlangte, sondern die konkreten wirtschaftlichen Interessen, die strategischen Entscheidungen hinter dem globalen Massenelend anspräche, angriffe? Könnte man ihm dann seine eklatante Rückständigkeit auf anderen Gebieten verzeihen?

Autor: Ernst Köhler