Was ist denn jetzt?
Mit dem „Spiegel“ wurde aus dem angeblichen Sturmgeschütz der Demokratie das wöchentliche Feuerwerk der Unterhaltungsgesellschaft, meint unser Autor Wolfgang Storz in seinem zuerst in der Stuttgarter Kontext-Wochenzeitung erschienenen Beitrag. Der Relotius-Skandal ist beispielhaft für die systemische Fehlleitung journalistischer Energien.
Zur Erinnerung: Im Dezember 2018 flog der Betrug auf. Der junge, vielfach preisgekrönte und festangestellte Reporter Claas Relotius konnte im gedruckten „Spiegel“ und online seit 2011 fast 60 Texte publizieren. Bei vielen stimmte vieles nicht. Übertreibungen, Erfindungen, falsche Fakten und Zitate; vorsichtig formuliert: einer der größeren Skandale im deutschen Journalismus. Haben wir es mit einem Betriebsunfall namens Relotius zu tun? Oder dem Fall „Spiegel“? Oder weisen die Fälschungen gar auf eine systemische Fehlleitung journalistischer Energien hin? In diesem Text wird zu belegen versucht, dass es um die Varianten zwei und drei geht.
Die Ansprüche, die der „Spiegel“ an sich stellt, sind unverändert sehr hoch. „Die revolutionärste Tat“ sei, so Rosa Luxemburg, „laut zu sagen, was ist“. Rudolf Augstein, der Blatt-Gründer, verordnete der Redaktion in leichter Abwandlung die Devise: Sagen, was ist. Das Unternehmen beteuert, dies noch immer zu beherzigen. Unternehmen und Redaktion preisen sich seit Jahren, wie unerbittlich alle Recherchen und Texte überprüft würden. Dennoch: Claas Relotius fälschte so unverfroren, dass Außenstehende — nicht die offenkundig erblindete, vermeintlich unerbittliche Überprüfungsinstitution „Spiegel“ — ihn Ende 2018 zu Fall bringen konnten: aufmerksame US-Bürger und Juan Moreno, ein risikobereiter Pauschalist mit jährlich auslaufendem Vertrag.
Lieber Romane als Sachtexte
Der „Spiegel“ mag alles sein, nur nicht „das deutsche Nachrichten-Magazin“, wie er jede Woche von sich behauptet. Seine Texte sind meist rund um prominente oder interessante Menschen herum akribisch mit dem Ziel konstruiert, montiert und inszeniert, Aufmerksamkeit und Unterhaltungswert zu steigern. Das ist nicht verwerflich. Verwerflich ist es nur dann, wenn die Geschichtenerzähler wissentlich unter falscher Flagge segeln. Der „Spiegel“ sagt also nicht einmal in eigener Sache, was ist.
Geschichten erzählen — dafür steht der „Spiegel“. Das war schon immer Teil seines Angebotes, spätestens 2001 wurde es zu seinem Kern: Die Reportage ist alles. Aus dem angeblichen Sturmgeschütz der Demokratie wurde das wöchentliche Feuerwerk der Unterhaltungsgesellschaft. Cordt Schnibben, heute 66 Jahre alt, einst Werbetexter, dann preisgekrönter Reporter, war Chefredakteur des „Spiegel“-Ablegers „Reporter“. Dieses Magazin wurde 2001 eingestellt und die Reportertruppe (als Gesellschaftsressort) in den „Spiegel“ transferiert. Sie boxte mit zunehmendem Einfluss und hohen finanziellen Ressourcen ihrer Form den Weg frei.
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Mit Reporter-Forum, Reporter- und Henri-Nannen-Preis (früher Egon-Erwin-Kisch-Preis) hatte dieses journalistische Milieu nach und nach genügend Anlässe, um sich ruhmmehrend öffentlich auf die Schulter zu klopfen. Entscheidend in diesem Kosmos: Die Geschichte muss gut erzählt sein. Fakten, Argumente, Wissen, das Problem durchdringen, Erkenntnisse gewinnen, das schadet nicht. Aber beim Fahrradfahren mit Sahra Wagenknecht und Tennisspielen mit Markus Söder sind das bloß Zutaten, mehr nicht. Dazu passt: „Spiegel“-Journalisten schreiben heute lieber Romane denn Sachbücher.
Hauptstadt-Büro um mehr als die Hälfte verkleinert
Nun wäre das alles kein Problem, fehlten diese Ressourcen nicht an anderer Stelle: Beobachtete der „Spiegel“ einst mit bis zu 30 Redakteuren die Arbeit von Parlament und Regierung, so sind es im Berliner Hauptstadt-Büro heute gerade noch ein gutes Dutzend; die zwei, drei Reporter mitgezählt, die für die aktuelle Arbeit selbstverständlich nicht zur Verfügung stehen. Die Folge: Die Arbeit vieler Minister und Ministerien wird nicht mehr systematisch verfolgt, Kontakte schwinden und damit die Chancen, an brisante interne Analysen und Konzepte heranzukommen.
So verkörpert die Institution „Spiegel“ seit etwa 20 Jahren die Fehlleitung journalistischer Ressourcen: Porträt, Essay und Reportage — diese gefühligen, meinungs- und unterhaltungsstarken Formen, einst schmückendes Beiwerk journalistischer Arbeit, wurden in den Mittelpunkt gerückt. Preise und Anerkennung gibt es für sie, nicht für gute Analysen, verständliche sachliche Erklärungen, für bedeutsame Nachrichten, profunde Berichte und Hintergründe über „das, was ist“. Mehr noch: Die Reportage selbst wurde in dieser Zeit, so die Beobachtung von Juan Moreno, von diesen Machern zudem umdefiniert. Moreno in einem Interview Ende 2018: „Die Reportage hat sich in den letzten Jahren massiv Richtung Kurzgeschichte, Richtung Literatur entwickelt.“
Laut dem Abschlussbericht der Aufklärungskommission, die den Relotius-Betrug hausintern untersuchte, sei „in den vergangenen Jahrzehnten (…) vor allem bei Magazinen häufig eine sehr besondere Form der Reportage kultiviert“ worden. Diese „sollte ‚möglichst nah dran‘ sein, einer klaren Dramaturgie mit ausgesuchten, ins Drehbuch passenden Protagonisten folgen, die ‚gecastet‘ wurden, ‚Kino im Kopf‘ erzeugen“. Generationen junger Journalisten seien im Hinblick darauf ausgebildet worden, „Szenerien auszuleuchten, ihre Protagonisten zu formen, Widersprüchliches und Sperriges wegzulassen, schwarz-weiß zu erzählen, Grautöne zu meiden, die Wirklichkeit der Dramaturgie unterzuordnen, Geschichten rund zu machen.“
Getrimmt auf Quote und Preiswürdigkeit
Die Devise: Je exotischer Themen und Schicksale, je ferner Menschen und Ereignisse, umso besser, unterhaltsamer und preisträchtiger — umso schwerer auch von geschulten Dokumentaristen zu überprüfen. Trotz des Skandals Relotius: Die Leidenschaft, die Wirklichkeit via Drehbuch auf Quote und Preiswürdigkeit zu trimmen, ist ungebrochen.
Ein Beispiel unter vielen ist die „Reporterfabrik. Webakademie des Journalismus“. „Correctiv“-Gründer David Schraven und Cordt Schnibben gründeten dieses Web-Angebot: Unter anderem lehren Doris Dörrie, Moritz von Uslar, Sandra Maischberger, Stefan Aust, Carolin Emcke — natürlich über alle Varianten der Dramaturgie, der Reportage, des Porträts, des Interviews und des Essays; Nachrichten und Berichte kauern in der Nische.
Nun hat der „Spiegel“ zwar Einfluss auf die journalistische Branche, aber verglichen mit früher nur noch bescheidenen. Was auch mit seinem publizistisch-ökonomischen Niedergang zu tun hat: So sank die Abo-Auflage seit 2010 um über 100 000 auf aktuell noch 365 000 Exemplare, der Einzelverkauf halbierte sich in diesem Zeitraum fast auf noch 160 000 Exemplare, der Bruttoanzeigenerlös der Printausgabe halbierte sich in den vergangenen 15 Jahren auf etwa 90 Millionen Euro (2018). Nur deshalb wurde aus dem „Spiegel“-Trend ein Trend der Branche, weil viele andere Blätter und andere Medien mitmachten.
Zwei Gruppen stehen sich, vereinfacht gesagt, in der Journalisten-Branche gegenüber. Renommierte und einflussreiche Autoren wie Cordt Schnibben, Alexander Osang, Ullrich Fichtner (alle „Spiegel“), Miriam Meckel, einst Chefredakteurin der „Wirtschaftswoche“, oder Constantin Seibt, einer der Gründer des schweizerischen Onlinemagazins „Republik“, aber auch Medienmanager wie der Springer-Vorstandsvorsitzende Mathias Döpfner setzen auf Storytelling, Charisma, eindringliche Sprache, Geschichten erzählen, literarische Reportagen, neue Erzählformen, setzen auf das Exklusive und Überraschende, so einige der gängigen Stichworte.
Zur Erläuterung: Storytelling ist das wichtigste Instrument im Bereich des Unternehmens- und Politikermarketings, bei dem es vor allem darum geht, Inhalte im eigenen Interesse authentisch zu erzählen; authentisch ist jedoch nicht gleichbedeutend mit aufrichtig und wahrhaftig. Die Geschichten sollen personalisiert, widerspruchsfrei, positiv und dramaturgisch perfekt erzählt sein.
Wichtig soll also die interessante Geschichte sein, nicht das faktische Ereignis und dessen Bedeutung. Eine Ausrichtung, die durchschlägt: auf die Wahl der Themen, die Verteilung der Ressourcen, auf Wortwahl und Satzbau, Layout und Fotos, auf Recherchepraktiken, Organisation der redaktionellen Arbeit und Ausbildung.
Nachrichten und Analysen? Fehlanzeige
Diese Fraktion will also den Journalismus so von seiner Kern- und Kärrnerarbeit wegtreiben: der Analyse, der Nachrichten- und Berichtsarbeit. Ihr entscheidendes Argument: Im digitalen Zeitalter gebe es im Netz Nachrichten in Hülle und Fülle. Damit könne sich der Journalismus also nicht mehr profilieren. Manche wie Meckel raten sogar: Produzierten Roboter Nachrichten, könnte gespart und rationalisiert und via Algorithmen Nutzerpräferenzen in die Nachrichtenproduktion integriert werden.
Aus fast derselben Zustandsbeschreibung – im Netz herrsche Informationsflut — zieht eine andere Gruppe von Medienmachern und Journalisten, unter anderem der FAZ-Herausgeber Werner D’Inka, den genau gegenteiligen Schluss: Gerade deshalb erhöhe sich der Bedarf an qualitativ hochwertigen und verlässlichen Nachrichten. Der Journalismus müsse mehr denn je an der Nahtstelle arbeiten, an der Informationen zu wichtigen Themen eingesammelt, gesichtet, gewichtet, bewertet und zu veröffentlichungsfähigen, belastbaren und verständlichen Nachrichten verarbeitet werden.
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Kein Zweifel: Wenn Journalismus unverändert als Dienstleister der Demokratie gesehen wird, kann nur das weiterhin seine Aufgabe sein — und Schnibben und andere weisen in die Irre. Denn es sind die zu verlässlichen Nachrichten und zu hintergründigen Analysen verarbeiteten Informationen über Konzerne, Politiker, Verbände, über deren Interessen und Absichten, welche die BürgerInnen überhaupt erst befähigen, an fundierten Debatten und Entscheidungen in einer demokratischen Gesellschaft teilzunehmen.
Diese demokratische Republik braucht mehr leistungsfähigen Journalismus, der fähig ist, zu brisanten wichtigen Themen verständliche, zuverlässige Nachrichten zu liefern und Analysen, die Kontexte und Orientierung liefern. An relevanten Themen mangelt es jedenfalls nicht: Machtkonzentration weniger Internetkonzerne, absaufende Länder wegen steigender Meeresspiegel, Autokonzerne, Kirchen und Deutsche Bank als kriminelle Organisationen, mit Robotern zusammenarbeiten müssen, unkontrollierbare Finanzmärkte, oligarchischer privater Reichtum, zerfallende Infrastrukturen, revolutionäre Techniken mit unabsehbaren Risiken und Chancen …
Mit anderen Worten: Wäre der „Spiegel“ nicht länger das Magazin der Geschichtenerzähler, würde er zum seriösen analytischen Nachrichtenmagazin, er hätte auf jeden Fall alle Hände voll zu tun. Bleibt er jedoch, was er ist, dann sollte er wenigstens das beherzigen: den Satz „Sagen, was ist“ und die Bezeichnung „Das deutsche Nachrichten-Magazin“ ersatzlos streichen.
Wolfgang Storz (Foto: Joachim E. Röttgers)