Wer wählt warum die AfD? Und was dagegen tun?

Bei der gestrigen Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern konnte die AfD ihren Siegeszug fortsetzen. Wieder zeigte sich: Die europaweite Erfolgswelle rechter und rechtspopulistischer Parteien ist ungebremst. Wie kommt das und wer ist der typische AFD-Wähler? Arbeiter, Enttäuschte, Schlechtverdiener? Im Gespräch mit Horst Kahrs versucht unser Gastautor eine Spurensuche und stößt dabei auch auf linke Gegenkonzepte.

Rechte und rechtspopulistische Parteien in Großbritannien (Ukip), Österreich (FPÖ) und Frankreich (Front National) werden überdurchschnittlich stark von Arbeitern und Bürgern gewählt, denen es materiell nicht gut geht. Das gilt auch für die Alternative für Deutschland. Warum sind diese Parteien so attraktiv für diese Wählerschichten?

Was heißt „materiell nicht gut“? Selten schätzte ein so großer Teil der Bevölkerung die persönliche wirtschaftliche Lage wie auch die allgemeine wirtschaftliche Lage als „gut“ ein, ebenso die Aussichten der näheren Zukunft. Das gilt, wenn auch in geringerem Maße, auch für AfD-Wähler und -Wählerinnen. Materielle Argumente allein helfen also bei der Analyse nicht viel weiter.

Wo liegt dann das Motiv?

Man kann ja nicht in jeden einzelnen hineinschauen. Die Ausgangsfrage lautet doch: Haben in den vergangenen Jahren die Menschen ihre Einstellungen so stark verändert, dass eine neue Partei erfolgreich sein konnte oder hat sich die Parteienlandschaft so verändert, dass sich Menschen nicht mehr politisch beheimatet fühlen? Da wir aus Langzeit-Umfragen wissen, dass es schon immer bis zu 20 Prozent der Bevölkerung mit rechten, autoritären Einstellungen gab, gehe ich von letztgenannter Annahme aus.

Die Wählerinnen und Wähler der AfD fühlen sich kulturell in ihrer „Heimat“ bedroht, entfremdet bzw. sehen die Gefahr, dass es so kommt. Das Land ist unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel in ihren Augen so verändert, so `modernisiert` worden, dass sie sich fragen, ob sie mit ihren traditionellen Lebensweisen, mit ihren Gemeinschaften in den Dörfern und Stadtvierteln, mit ihren Berufen und Fähigkeiten noch einen anerkannten respektablen Platz haben werden. Sie stellen sich die Frage: Gehören wir noch zur Mehrheitsgesellschaft? Linke neigen ja dazu, solche Kultur- und Identitätsfragen zu unterschätzen. Was macht also den Populismus generell attraktiv, was macht die AfD attraktiv: Die Nation wird umgedeutet in ein homogenes Volk mit einem Volkswillen, der sich anti-elitär gegen die Eliten stellt. Der sich anti-egalitär und anti-pluralistisch gegen das Fremde richtet und der auf autoritäre Lösungen setzt. Wer sich auf diese Seite schlägt, bei dessen Entscheidung spielt seine materielle Lage, egal ob sie gut oder schlecht ist, nicht die ausschlaggebende Rolle.

Was ist dann ausschlaggebend: Der pure Protest oder doch das inhaltliche Angebot der AfD, deren nationales und autoritäres Denken?

Sowohl als auch. Die Kenntnis der AfD-Programmatik tendiert ja unter deren Wählerschaft gegen Null. Entscheidend ist der „symbolische Wert“ der Partei, wofür sie zu stehen scheint. Zunächst stand sie dafür, dass Deutschland die hart verdienten Steuergelder nicht an verantwortungslose Banker verschleudern sollte und anschließend nicht an leistungsunwillige, faule Griechen. Und jetzt steht sie gegen die Öffnung der Grenzen. Das heißt umgekehrt: Die AfD steht für klare Regeln im Leistungswettbewerb – „Einheimische zuerst“ und die Zugewanderten müssen sich weit hinten anstellen. Wenig nützliche Menschen kann sich keine Gesellschaft leisten, also keine „Einwanderung in die Sozialsysteme“.

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Horst Kahrs arbeitet seit 2012 beim Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa- Luxemburg-Stiftung mit den Themenschwerpunkten Klasse und Sozialstruktur, Demokratie und Wahlanalysen.

Gleichzeitig hat sich die Mitte radikalisiert. Die Ächtung von Gewalt hat abgenommen, die Grenzen des öffentlich Sagbaren nach rechts verschoben. So finden Wähler mit einem eher rechten und autoritären Weltbild, die bisher Union oder SPD oder die Linkspartei gewählt haben, mit der AfD nun eine politische Form, die nicht aus der rechten Schmuddelecke emporkommt und wählbar ist. Auf der politischen Bühne erscheint, was in der Gesellschaft schon lange oder immer vorhanden war. Natürlich gibt es auch die Wählerinnen und Wähler, die mit ihrer Stimme für die AfD auf sich aufmerksam machen und zunächst nur andere Parteien ärgern wollten. Wie groß diese Gruppe ist, lässt sich schwer abschätzen. Interessant ist, wie verhindert werden kann, dass sie zu Parteianhängern werden.

Ist in Schichten, die materiell schlechter gestellt und nur gering qualifiziert sind, autoritäres und ausländerskeptisches bis -feindliches Denken grundsätzlich stärker ausgeprägt als in den mittleren und oberen Schichten? Oder gehen die unverändert nicht wählen?

Nicht die Unterschicht wählt überdurchschnittlich AfD. Weit überdurchschnittlich gewählt wurde die AfD erstens von Männern. Und zweitens wird die AfD überdurchschnittlich gewählt von Wählern und Wählerinnen mit einem mittleren Bildungsabschluss, also 10. Klasse und Abitur, leicht unterdurchschnittlich von denjenigen mit maximal Hauptschulabschluss und deutlich unterdurchschnittlich von Menschen mit (halb-)akademischen Berufsabschlüssen. Den Blick auf Bildung und Qualifikation halte ich bei der Analyse für ertragreicher als denjenigen auf die aktuelle Einkommenssituation.

Was sagen uns die Zahlen dann? Angehörige der Unterschicht ohne Perspektive, der eigenen Klassenlage zu entkommen, vor allem: das neue Dienstleistungsproletariat, gehen wie schon seit 20 Jahren eher gar nicht wählen. Menschen mit einer betrieblichen Ausbildung, also die klassischen Fachlehrberufe in Handwerk, Industrie und Verwaltung, wählen überdurchschnittlich AfD – ein Bild, wie es sich im übrigen auch in anderen westlichen Ländern einschließlich der USA zeigt. Zu den Erfahrungen dieser Menschen zählt: Die ehemals güldene Regel, streng dich in der Schule an und lerne einen anständigen Beruf, die hat immer weniger Bedeutung. Stattdessen erfordern immer mehr Jobs eine akademische Qualifikation. Der Aufstieg des Populismus, auch der der AFD, kann also beschrieben werden als Kampfansage der mittleren Qualifikationen an die akademischen Eliten. Ausländer oder massenhafte Zuwanderung wirken da nur als Katalysatoren. Wer in der globalisierten Welt für sich keine sozialen Aufstiegschancen oder Verbesserung erkennen kann, wird eher ansprechbar für populistische Ansprachen.

Zumindest bisher vertritt die AfD – beispielsweise im Gegensatz zum FN – keine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Interessen von klassischen Arbeitern, Facharbeitern und Angestellten nennenswert berücksichtigt. Es gab bisher eher Signale in die andere Richtung: geringere Steuern für Wohlhabende, Privatisierung der Arbeitslosenversicherung. Rationale Überlegungen, die vertreten nicht meine `objektiven` Interessen, also wähle ich die nicht, spielen also bei der Wahl kaum eine Rolle oder gar keine. Warum?

Zu den größten Irrtümern der Parteien zählt die Auffassung, die Wählerinnen und Wähler würden eine rationale Abwägung treffen zwischen den Wortlauten verschiedener Parteiprogramme. Oder sie würden sich davon beeindrucken lassen, dass die eine Partei etwas mehr von einer Sache verspricht als eine andere. Und „objektive Interessen“ verfolgt die Wählerin oder der Wähler schon gar nicht. Wähler und Wählerin sind aber nicht dumm. Wichtig für Wahlentscheidungen sind das Image einer Partei, die Vertrauenswürdigkeit ihres wortführenden Personals, die Stellung einer Partei im Parteiensystem und am Ende dann auch Sachthemen. Für die zurückliegenden Wahlen stellte es sich doch so dar: Wer demonstrativ eine Stimme gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin abgeben wollte, der konnte sich bei der AfD gut aufgehoben fühlen. Oder: Wer mit seiner Stimme eine möglichst große Wirkung erzielen wollte, der musste ja fast schon AfD wählen, weil alle anderen vor ihrem möglichen Erfolg zitterten…

Für einen Teil der AfD-Wähler handelte es sich darüber hinaus um eine inhaltlich geprägte Protestwahl: für denjenigen Teil, der mit der Modernisierung der Union vor allem kulturell und politisch heimatlos geworden war. Der vollzog den demonstrativen Bruch mit der Union. Das hatte sich bereits bei den Europawahlen 2014 abgezeichnet.

Der Front National fordert höhere Renten und Mindestlöhne, ist gegen TTIP, will Banken teilverstaatlichen, ist also sehr kapitalismuskritisch und vertritt ein wirtschafts- und sozialpolitisches Programm wie eine klassische linke Partei. Was spricht dafür, dass sich auch die AfD in diese Richtung entwickelt?

Höhere Renten und Mindestlöhne zu fordern, gegen Freihandelsabkommen und gegen „systemrelevante“ Bankenmacht einzutreten, ist ja nun nicht per se kapitalismuskritisch, sondern allenfalls kritisch gegenüber der aktuellen Verfasstheit des globalen Kapitalismus. Die soziale Marktwirtschaft gründet geradezu auf dem Versprechen, am Ende eines langen Arbeitslebens warte eine „lebensstandardsichernde Rente“. Die bekannten Kapitalismuskritiker Konrad Adenauer und Ludwig Erhard hatten das auf den Weg gebracht. Und eine ganze Ökonomenschule des Kapitalismus, die Ordoliberalen, forderte, der Staat müsse gegen Konzern- und Bankenmacht einschreiten, um das Wirken der Marktgesetze zu sichern. Also: Aus der Nostalgie-Mischung der AfD kann kein „klassisches“ linkes wirtschafts- und sozialpolitisches Programm entstehen. Ob sich die AfD ähnlich wie der Front National ein Wirtschafts- und Sozialprogramm zulegt, das gezielt auf die Menschen und Regionen jenseits der urbanen Wachstumszentren gerichtet ist, lässt sich heute nicht abschätzen. Das Gespür ist da, wie der Wahlkampf in Sachsen-Anhalt gezeigt hat. Aber in der Partei dominiert noch die Strategie der rechten Sammlungsbewegung mit populistischer Radikalisierungsdynamik. Konkret: Die Islamfeindschaft hält den Laden eher zusammen als es ein Wirtschafts- und Sozialprogramm könnte. Fragen Sie nach der Bundestagswahl 2021 noch mal.

Die AfD ist ja heute schon gegen TTIP, und führende AfD-Politiker wie Alexander Gauland vertreten offensiv den Mindestlohn. Wie müssen Gewerkschaften und Parteien links des Mainstreams argumentieren, um sich trotz der sachlichen Übereinstimmung unzweideutig abzugrenzen?

Egalitär, anti-autoritär und demokratisch. Der Mindestlohn gilt für alle Beschäftigten, ohne Ansehen von Herkunft und Staatsangehörigkeit. Und linke Globalisierungskritik kann nicht bedeuten, die eigenen Vorteile zu verteidigen, sondern soziale Gerechtigkeit global zu denken. Da muss dann auch über die Rolle und Verantwortung Deutschlands in der Welt gesprochen werden. Dann muss unter anderem darüber geredet werden, dass die Versorgung jedes erwachsenen Erdenbürgers mit einem Elektro-Auto (möglichst aus Deutschland) immer noch zu einem ökologischen Kollaps führen würde. Und die Ablehnung von TTIP muss mit dem Entwurf einer besseren Zukunft verbunden werden, darf nicht Folge der Verteidigung von bestehenden Verhältnissen sein, eben damit es nicht zu den befürchteten Missverständnissen kommt.

Was müsste beispielsweise die Linkspartei an ihrer Politik und Sprache und an ihrem Habitus ändern, um `ihre früheren` Wählerschichten von der AfD zurückzugewinnen?

Ich verweigere mich dem mainstream, die AfD zum Fluchtpunkt strategischer Überlegungen zu machen. Wer wegen der Flüchtlingspolitik AfD wählte, wird nicht zurückkommen, solange die Flüchtlingspolitik für ihn ein wahlentscheidendes Thema ist. Interessant aus linker Sicht wäre aber doch die Frage, was seit dem Wahlerfolg der Linkspartei im Jahr 2009 – sagen wir mal: suboptimal gelaufen ist. Da könnte man erwähnen: Wer Hoffnungen auf die Linke setzte, weil sie eine Umverteilung von oben nach unten wollte, um das Soziale zu stärken, der hatte offensichtlich auf die falsche Karte gesetzt. Es ist in diesem Fall irrelevant, warum die Linke nicht voran kam. Es müssten doch alle Selbstgewissheiten einer Partei ins Wanken geraten, wenn sie ein Drittel ihrer Wählerstimmen verliert, in Bund wie in den Ländern, oder wenn sie wiederholt scheitert, in ein Landesparlament einzuziehen. Wie sind die Reaktionen? Eher noch weniger Selbstzweifel und noch mehr moralische Gewissheit, wo die Guten und wo die Bösen sind.

Was wäre die angemessene Reaktion?

Was mir persönlich fehlt, ist die emphatische Offenheit gegenüber der Unsicherheit vieler Menschen, die ansprechbar wären. Ich glaube, Wähler der Linken sind nicht wegen der Position in der Flüchtlingspolitik abgewandert. Sie gingen, weil sie wahrgenommen haben, dass die Partei ihre Fragen, Zweifel, Unsicherheit bezüglich der kommenden Veränderungen unter Verdacht stellt, also nicht darüber reden will. Es reicht aber nicht, universalistische Grundsätze einer offenen Gesellschaft zu vertreten. So hat die Partei zwar einen hehren Grundsatz vertreten. Aber hat sie ein strategisches politisches Ziel formuliert, was ich von einer Partei erwarte, etwa dieses: Wir wollen aus Deutschland in zehn Jahren ein einwanderungsfreundliches Land machen? Hat sie erkennbar hinreichend darüber geredet, was getan werden muss, damit die Einheimischen mehrheitlich das hinkriegen können? Hat sie Schritte entwickelt, wie sie von A nach B kommen will? Und zwar Schritte, mit der sie die Schattenwelt der herrschenden technokratischen Konzepte verlassen würde und das Alltagsbewusstsein erreichen würde. „Womit beginnen?“ halte ich derzeit für die spannendste Frage.

Mit was würden Sie beginnen?

Okay, wer beiläufig Lenin zitiert, muss sich nicht wundern, wenn daraus ein Bumerang wird…

Ich halte zwei Fragen bzw. Thesen für elementar, wenn linke Politik in die Offensive kommen will. Erstens die Demokratiefrage. Niemand wird als Demokrat geboren. Eine Demokratie erzieht ihre Demokraten. Das Erstarken einer antidemokratischen, antipluralistischen, autoritären Partei wie die AfD indiziert mangelnde Investitionen in die Demokratie und ihre öffentlichen Institutionen. Daraus ergeben sich unmittelbar ganz praktische Zugänge: etwa die Frage nach dem Anteil des Demokratie-Unterrichts in den Schulen oder nach den politischen Anteilen beim Bildungsurlaub. Oder auch, ob Gebiets- und Verwaltungsreformen, die meist unter Kriterien der Austeritätspolitik stattfinden, die demokratischen Institutionen und ihre Verankerung im Alltag stärken oder schwächen. Die Demokratie-Frage ist immer auch eine Frage der Kontrollhoheit, der Souveränität über die eigenen Lebensverhältnisse und Lebensplanungen. Ist man abhängig von anonymen Wirtschaftsmächten oder von Bürgerwehren oder gibt es zumindest ein Gegengewicht durch demokratisch legitimierte Institutionen?

Zweitens die Internationalismus, die Europa-Frage, was für Linke immer auch heißt: Wie kommen wir zu einem sozialen Europa? Ein soziales Europa ist immer eine Solidargemeinschaft mit finanziellen Ausgleichsmechanismen zwischen starken und schwachen Wirtschaftsräumen. Wie kriegen wir es hin, Schritt für Schritt solche Institutionen eines europäischen Sozialstaates aufzubauen, z.B. eine europäische Gesundheitsversorgung. Man könnte ja damit beginnen, dass sie für Beschäftigte eingeführt wird, die in einem anderen EU-Land beschäftigt sind. Oder ähnlich bei der Arbeitslosenversicherung: Warum nicht damit beginnen, für alle Unternehmen, die in mehreren EU-Ländern Betriebe unterhalten, eine solche europäische Arbeitslosenversicherung einzuführen? Gesundheit und Arbeitslosigkeit wären gute Themen, um die gemeinsamen Interessenlagen von Arbeitnehmern in verschiedenen Ländern stark zu machen. Demokratieförderung und soziale Gerechtigkeit europäisch übersetzen, damit würde ich jetzt beginnen, um den Gegenpol zur Rechtsentwicklung zu stärken.

Das Interview von Wolfgang Storz erschien zuerst auf oxiblog.de