Wie irrational ist Gregor Gysi?

IMG_2490-3.JPGBisher war Konsens zwischen allen Parteien in Deutschland: keine Waffenlieferungen in Krisengebiete. Nun neigt die Bundesregierung mehr – so Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, CDU – oder weniger – Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Vizekanzler Sigmar Gabriel, beide SPD – dazu, mit diesem Grundsatz zu brechen: Deutschland soll (den Kurden) Waffen liefern

Eine Neigung der Regierung, die in deren Parteien Streit und Widerstand auslöst: Ralf Stegner, Vize-Vorsitzender der SPD, ebenso wie der CDU-Politiker Norbert Röttgen, Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses, lehnen solche Lieferungen strikt ab. Vor diesem Hintergrund gelang Gregor Gysi, Vorsitzender der Linke-Bundestagsfraktion, bereits vor gut einer Woche ein Überraschungs-Coup: Das gehe so nicht weiter mit dem IS-Terror, verlautbarte er via Medien-Interview, auch Deutschland müsse sich überlegen, Waffen in den Nordirak zu liefern. Was war in Gregor Gysi gefahren?

Es ist seine Partei, die sich mehr als jede andere in Deutschland bemüht, als die Friedenspartei dazustehen. Ihre Beschlusslage ist unüberbietbar eindeutig: Sie ist nicht nur strikt gegen den Export von Rüstungsgütern und sowieso gegen Waffenlieferungen in Krisengebiete. Im Programm der Partei wird „das sofortige Ende aller Kampfeinsätze der Bundeswehr“ gefordert, wozu auch alle UN-mandatierten Einsätze gehören. Und: Die Partei werde „in jeder politischen Konstellation dafür eintreten, dass Deutschland aus den militärischen Strukturen des Militär-Bündnisses austritt und die Bundeswehr dem Oberkommando der Nato entzogen wird“.

Wird unterstellt, Gregor Gysi kennt die Beschlusslage, bleibt die verwunderte Frage: Was treibt diesen Mann, der versucht, mit dem Pressluftbohrer eines der entscheidenden Alleinstellungsmerkmale seiner Partei zu zertrümmern? Das haben sich offensichtlich auch alle seine Parteifreunde gedacht – mit Betonung auf: alle -, denn niemand stand ihm bei, alle kritisierten ihn: nicht nur Parteilinke wie Sarah Wagenknecht, auch Pragmatiker wie Dietmar Bartsch, beide Vize-Vorsitzende der Bundestagsfraktion, aber auch weithin angesehene Fachpolitiker der Bundestagsfraktion wie der Außenpolitiker Jan van Aken.

Was auf den ersten Blick so unüberlegt daher kommt, birgt jedoch einen rationalen Kern in sich: Denn wenn es ein Hindernis noch gibt, das einer Bundesregierung von SPD, Grünen und Linkspartei entgegensteht, dann sind das die rigorosen friedenspolitischen Positionen der Linkspartei. Es wird keine Bundesregierung geben, welche die Rüstungsexporte auf Null setzt und vor allem keine, deren Ziel ist, sich aus dem Nato-Oberkommando zu verabschieden. Gregor Gysi, 66 Jahre alt, wird vermutlich bei der Bundestagswahl 2017 nicht mehr antreten. So sieht er es wohl als seine (letzte) Aufgabe an, inhaltlich den Boden für eine rot-rot-grüne Option im Bund zu bereiten. Und nützt deshalb jede Gelegenheit, um die momentane Positionierung seiner eigenen Partei zu untergraben – als die Fernsehbilder über das Morden der IS-Truppen an wehrlosen Zivilisten immer unerträglicher wurde, sah er wohl einen solchen Moment gekommen.

Jedoch: Auch die Rationalität von Gregor Gysi birgt wiederum Irrationales in sich. Denn diese rot-rot-grüne Option wird es nur geben, wenn auch „Die Linke“ bei der Wahl gut abschneidet. Und das wird sie nur, wenn sie auch das politische Pfund der letzten wahrhaften Friedenspartei Deutschlands in die Waagschale werfen kann; ein Alleinstellungsmerkmal, das ihr vermutlich nur deshalb geblieben ist, weil sie im Bund noch nie mit-regieren konnte. So ist nicht auszuschließen, dass das Nein der Partei zu dem Vorstoß ihres Fraktionsvorsitzenden auch deshalb so einhellig ausfiel, weil in den kommenden Wochen in insgesamt drei ostdeutschen Bundesländern die Landtage neu gewählt werden.

Die aktuelle Debattenlage sieht so aus: Die Regierungsparteien streiten öffentlich über mögliche Waffenlieferungen in den Nord-Irak. Und die Partei „Die Linke“ schweigt seit Tagen – als sei Gysi aufgrund seiner Isolation und die Partei aufgrund Gysis Vorstoß jeweils vor Entsetzen verstummt. Gegen die Zwickmühle, die Gysi offenbarte, helfen allerdings weder Schweigen noch Augenzuhalten.

Autor: Wolfgang Storz/woz.ch