Wikileaks und die Folgen
Zwei Artikel in einem Beitrag: Wie wirkt Wikileaks? Susan Boos denkt über Demokratie im Internet nach. Und über Verantwortlichkeiten eines News-Pools, der Konzerne vernichten oderKriege auslösen kann.
Dieter Sauter, Korrespondent aus Istanbul, berichtet über Enthüllungen vom Bosporus, die das Gleichgewicht in Asien stören. So oder so: Wikileads verändert die Welt. Und wie gehen wir damit um?
Ein neuer Kulturkampf oder Machtgeilheit der Medien?
Demokratien sollten mit Geheimnisverrat umgehen können. Doch dem ist nicht so: Wikileaks-Gründer Julian Assange – der vor kurzem 250 000 Diplomatenberichte zugänglich gemacht hat – wird zum Staatsfeind erklärt, die Internetfirmen Amazon und Paypal kündigen ihm ihre Dienste.
Sogar die Schweizer Post sperrt Wikileaks das Konto. Nun hat die britische Polizei Assange auf Ersuchen Schwedens wegen Vergewaltigungsvorwürfen inhaftiert. US-PolitikerInnen hoffen, dass er via Schweden an die USA ausgeliefert wird, wo sie ihn wegen Geheimnisverrats belangen wollen.
«Möglich, dass wir gerade den Beginn eines neuen Kulturkampfes erleben», schreibt Jakob Augstein, Verleger der deutschen Wochenzeitung «Freitag». Bemerkenswert seien nicht die Details der Veröffentlichung, bemerkenswert sei die Veröffentlichung selbst: «Das Internet ermöglicht Offenheit und Klarheit, wo vorher Herrschaft und Kontrolle gewaltet haben. Das ist eine Chance für die Bürger, für die Demokratie und auch für den Staat. Verheerend ist es nur für solche Herrschaft, die auf dem Geheimnis gründet oder auf der Angst.»
Wikileaks hat die Tausenden von Depeschen einer Reihe ausgewählter Medien zugänglich gemacht, unter anderem dem «Spiegel», dem Londoner «Guardian», der «New York Times» und dem Pariser «Le Monde». Die beteiligten Zeitungen liefern nun Tag für Tag neue Enthüllungsgeschichten, die aus dem großen Topf der Geheimdepeschen gezogen werden. Es scheint ein historischer Moment: Die erste heftige Konfrontation zwischen dem politischen Establishment und Internetaktivisten – die digitale Welt lehrt die Mächtigen das Fürchten. Das ist erfreulich. Doch unproblematisch ist es nicht.
Wikileaks hat sich der Transparenz verschrieben, ist selber aber intransparent. Welche Interessen stehen hinter den Lecks? Wer hat all die Dokumente Wikileaks zugeschoben? Waren es besorgte MitarbeiterInnen von US-Behörden? Waren es andere Mächtige, die aus macchiavellistischen Überlegungen geheime Papiere öffentlich machen – um letztlich ihre eigene verdeckte Agenda voranzutreiben? Niemand weiß es. Und da stockt dann eben auch die Aufklärung. Letztlich befeuert gerade die Massenpublikation von Geheimpapieren immer wieder neue Verschwörungstheorien.
Auch steht die schiere Masse der Geheimpapiere der Transparenz im Weg: Assange wusste, dass die simple Publikation einer Viertelmillion Depeschen untergehen würde, weil niemand in der Lage ist, Relevantes heraus zudestillieren. So kam es zur Zusammenarbeit mit den renommierten Zeitungen. Der Rest der Medien ist ausgesperrt. Das heißt nicht, dass der «Guardian» oder der «Spiegel» nicht versuchen, mit dem Material seriös umzugehen, aber letztlich geht es auch ums Geschäft. Wikileaks liefert Daten, und die auserwählten Medien bereiten sie schlagzeilenträchtig auf. Um ihre Exklusivität zu wahren, schließen sie Deals ab, die letztendlich die Transparenz untergraben. Dadurch haben die von Wikileaks ausgewählten Medien eine weltpolitische Macht, die einzigartig ist. Wir Ausgesperrten hoffen, dass die Medien, die in den Genuss eines solchen Deals kommen, mit den Geheimpapieren seriös verfahren, aber eine Garantie haben wir nicht – und überprüfen können wir es auch nicht.
Ein weiterer heikler Punkt: Wikileaks wird überflutet mit Insiderpapieren, Dokumenten aus Regierungsstuben, aber auch aus vielen Unternehmen. Assange, der Anwalt der Transparenz, ist wohl die Person, die über mehr brisante Geheimpapiere gebietet als sonst jemand. Ihre Publikation könnte Firmen in den Bankrott stoßen oder Kriege auslösen. Muss er alles veröffentlichen? Müssen die von ihm ausgewählten Zeitungen es tun? Realisiert Assange, falls er missbraucht wird? Lässt sich diese Verantwortung überhaupt tragen?
Das Dilemma bleibt: Geheime Machenschaften zu enthüllen, ist für eine Demokratie existenziell – es aber auch mit der nötigen Sorgfalt zu tun, ist genauso wichtig. Wenn eine große Menge von Daten mit riesiger Sprengkraft unkontrolliert in die Welt gelassen wird, kann das Nebenwirkungen entfalten, von denen wir noch gar nichts ahnen.
Autorin: Susan Boos/WOZ
Der türkische Traum vom Energiedrehkreuz
Endlich lobt mal einer Wikileaks: Cengiz Candar, Experte für türkische Aussenpolitik, hält alle Komplotttheorien über Wikileaks für absurd. So kursieren in der Türkei Gerüchte, «die Israelis» oder gar «die Amerikaner» selber hätten die vertraulichen Dokumente des US-Außenministeriums Wikileaks zugespielt, um die Türkei zu destabilisieren. Candar ist jedoch der Meinung, die Folgen der Veröffentlichungen seien für Ankara im Grunde positiv. Denn fast alle Akten würden die wachsende globale Bedeutung des Landes belegen.
Tatsächlich wurden aus keiner anderen US-Botschaft der Welt mehr Meldungen nach Washington gekabelt als aus jener in Ankara. Fast 8000 Depeschen sind in den letzten Jahren übermittelt worden. Die bisher veröffentlichten Berichte zeigen, wie viele kontroverse Themen es mittlerweile zwischen Washington und Ankara gibt.
Große Interessengegensätze etwa gibt es im Umgang mit dem Iran: Während die USA die islamische Republik immer weiter zu isolieren versuchen, ist die türkische Regierung – nach US-amerikanischer Lesart – daran, ihre Beziehungen zum Iran immer weiter auszubauen. Selbst ihre diplomatischen Kontakte zur palästinensischen Hamas und zur libanesischen Hisbollah würden vor allem diesem Zweck dienen.
Allerdings registrierten die US-DiplomatInnen in Ankara auch korrekt, dass sich die Türkei vor einer atomaren Bewaffnung des Iran fürchtet. Erstens gerate damit der türkische Machtanspruch in der Region ins Wanken. Und zweitens könne das zu einem atomaren Rüstungswettlauf im Nahen Osten führen. Der ägyptische Staatspräsident Hosni Mubarak habe bereits offen ein Programm zum Bau einer Atombombe angeregt.
Die noch größere Gefahr sieht die Regierung von Tayyip Erdogan jedoch in einem Militärschlag Israels oder der USA gegen den Iran. Die wirtschaftlichen Folgen wären für die Türkei gravierend. Der Iran ist einer ihrer wichtigsten Handelspartner. Außerdem ist die islamische Republik als Energielieferantin unverzichtbar, wenn das Land nicht zu hundert Prozent von russischem Gas abhängig werden will. Dazu passt die Meldung der regierungsnahen Zeitung «Zaman» dieser Tage, wonach die türkische Firma Som Petrol im Juli mit dem Iran den Bau einer neuen Gaspipeline vereinbart hat.
Die Wikileaks-Enthüllungen machen deutlich, dass die türkische Diplomatie auf vielen Hochzeiten tanzt: So will die Regierung gleichzeitig dem Iran, den USA und den arabischen Staaten die Hände schütteln, in Palästina gute Beziehungen zu den miteinander verfeindeten Organisationen Hamas und Fatah unterhalten und sich auf dem spannungsgeladenen Kaukasus zudem mit Russland, Armenien, Aserbaidschan und Georgien gut stellen. Gerade bei letzteren Bemühungen stellt die US-Diplomatie fest, dass die Türkei einen herben Rückschlag erlitten hat.
So orientiere sich der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew mehr nach Moskau denn nach Ankara oder dem Westen, heißt es. An einem Anschluss an die geplante EU-Pipeline Nabucco habe er kein großes Interesse. Die Röhre soll bald quer durch die Türkei führen und Gas aus Zentralasien nach Europa schaffen, ohne dass dabei russisches Territorium tangiert würde.Ein Volk, zwei Staaten» hatte man bisher in Ankara mit Blick auf die Türkei und Aserbaidschan gesagt. In beiden Ländern lebt das Turkvolk. Die Aseris seien im Grunde TürkInnen. Doch jetzt scheint die Freundschaft des türkisch-stämmigen Nachbarn Aserbaidschan nicht mehr sicher. Die Nabucco-Pipeline sollte eines der wichtigsten türkisch-aserbaidschanischen Gemeinschaftsprojekte sein und der Türkei zum Status eines Energiedrehkreuzes verhelfen. Die Wikileaks-Enthüllungen machen deutlich, dass sich hier türkische Träume in Luft auflösen.
Die US-Diplomatie bilanziert: Seit März 2003, seit das türkische Parlament beschloss, den US-amerikanischen Truppen den Zugang über türkisches Territorium in den Irak zu verwehren, erlaube sich Ankara zunehmend, aus eigenen Interessen eigene Ansichten zu außenpolitischen Fragen zu vertreten. «Kann sich die USA damit abfinden?», fragt Mitte November einer der Analysten des parteiunabhängigen German Marshall Fund in den USA. Immerhin bestätigen alle Berichte nach Washington, dass die derzeitige Regierung in Ankara pragmatisch genug sei, um eine nachhaltige Störung in ihrem Verhältnis zu den USA oder innerhalb der Nato zu vermeiden.
Das wird sich nicht ändern. Denn durch die Wikileaks-Veröffentlichungen ist jetzt auch bestätigt, dass die USA taktische Atomwaffen am Bosporus lagern. Washington beruhigt sich zudem damit, dass die zunehmende Selbstständigkeit der Türkei im Nahen Osten und in Zentralasien auch vorteilhaft sein kann. Immerhin hatte die türkische Diplomatie wesentlichen Anteil daran, dass Anfang voriger Woche in Genf über das iranische Atomprogramm verhandelt wurde.
Autor: Dieter Sauter, Istanbul