„Wir wollen keinen Krieg, aber … „

Gerät der Syrien-Konflikt außer Kontrolle? Dieser Frage geht unser Kollege in Istanbul nach. Dieter Sauter lebt seit 1991 in der Türkei, bis 2005 war er Studioleiter des ARD-Studios in Istanbul und während seiner Studienzeit arbeitete er am Konstanzer ‚Nebelhorn‘ mit. seemoz-Lesern ist er bekannt durch eindrucksvolle Reportagen aus dem Nahen Osten. Hier und heute untersucht er das „Worst-Case-Szenario“ an der türkischen Grenze zu Syrien

Wie übersetzt man einen Diplomaten, wenn er sagt, etwas sei „extrem gefährlich“? Am besten gar nicht, denn diese Formulierung ist kaum mehr zu steigern. Allenfalls meint er damit: Es ist bereits zu spät. Die Lage in Syrien halten mittlerweile alle hochrangigen Politiker weltweit für „extrem gefährlich“, vom russischen Außenminister über den amerikanischen Verteidigungsminister bis hin zum Chefdiplomaten der UN, Ban-Ki-Moon.

Vielleicht wollen sie mit dieser alarmierenden Formulierung nur ihr jeweiliges Lager in der Region eindringlich ermahnen, den Konflikt in Syrien nicht noch weiter anzuheizen. Möglich ist aber auch, dass die amerikanische und russische und sonstige Aufklärung allen inzwischen drastisch schildern, dass die Lage außer Kontrolle zu geraten droht. Es könnte sein, dass bald keiner der Beteiligten die weitere Entwicklung des Konfliktes in Syrien noch beherrschen kann.

Ein paar Granaten genügen

Seit über die türkisch-syrische Grenze hinweg scharf geschossen wird, haben alle gesehen, wie wenig nötig ist, um die ganze Region in den Abgrund eines Krieges zu reißen. Ein paar Granaten genügen. Wer da wen mit welcher Absicht provoziert, ist kaum mehr auszumachen, zu kontrollieren noch viel weniger. Ob die Türkei weiter Kampfjets zur Aufklärung über syrisches Territorium schickt, kann Washington vielleicht gerade noch beeinflussen.

Aber wer, wann, mit welcher Absicht eine Granate auf türkisches Territorium lenkt, wer hat das in der Hand? Die massive Aufrüstung des Bürgerkriegs in Syrien durch und über die Türkei, den Iran, Katar und Saudi Arabien, USA und Russland hat über Umwege auch Einheiten der Al Kaida und zahlreiche andere islamistische Kampfgruppen mit Waffen versorgt, die iranischen Revolutionswächter sind in Syrien genauso unterwegs wie Einheiten der PKK oder der libanesischen Hisbollah. Die USA zögern, den Aufständischen dort zum Beispiel Boden-Luftraketen zu liefern, weil keiner garantieren kann, dass die nicht bei islamistischen Kämpfern landen, die damit später NATO Flugzeuge abschießen.

Wir wollen keinen Krieg, aber … „

Klar ist, die türkische Regierung kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, wenn Bomben auf ihr Staatsgebiet fallen. Inzwischen hat ja auch das Parlament in Ankara (in geheimer Sitzung) der Regierung eine Blankovollmacht ausgestellt, je nach Lage die türkische Armee jederzeit Richtung Damaskus in Marsch zu setzen.

„Wir wollen keinen Krieg, aber der Staat muss auch in der Lage sein, jeden Augenblick einen Krieg führen zu können“, so der türkische Regierungschef Tayyip Erdogan in seiner jüngsten Rede. Bekanntlich wollte auch Anfang des 20. Jahrhunderts keiner der Großmächte in Europa einen Krieg – und trotzdem brach der Erste Weltkrieg aus. Der Emir von Katar drängt seit November letzten Jahres in der Arabischen Liga auf eine militärische Intervention in Syrien. Der Iran hat seinerseits der Türkei mit Krieg gedroht, wenn die türkische Armee in Syrien einmarschieren sollte, während türkische Kriegsschiffe gemeinsam mit ägyptischem Kreuzern im östlichen Mittelmeer zu einem „Manöver“ unterwegs sind.

Die syrische Kriegsfalle

Die Türkei will zumindest eine “Pufferzone“ auf syrischem Gebiet, das heißt also: Einmarschieren. Es gehe um ein „sicheres Gebiet für die Bürgerkriegsflüchtlinge“. Damit hätte die türkische Armee aber auch die PKK im syrischen Norden militärisch wieder besser im Griff, die kontrolliert dort nachweislich schon weite Gebiete. Schließlich würde die Regionalmacht Türkei so auch zu einer der direkt herrschenden Mächte in Syrien. Gegen deren Willen kann es dann eine Ordnung nach dem Ende des Bürgerkrieges nicht mehr geben. Doch ist die Türkei erst einmal in der syrischen Kriegsfalle gefangen, ist es die NATO auch.

Wo man dann gefangen ist, weiß heute noch keiner. Die ganze Region droht auseinander zubrechen. Syrien ist faktisch schon gespalten. Kaum einer nimmt wahr, wie sehr sich die Lage im Libanon zwischen der Hisbollah (die Assad unterstützt) und dem Rest des Landes zuspitzt, den die Gegner Assads in Syrien immer wieder als Rückzugsgebiet nutzen. Schon vor einem Monat hat die syrische Luftwaffe Stellungen der Aufständischen dort bombardiert. Wird auch der Libanon gespalten, dann können iranische Raketen in der Hand der Hizbollah (Reichweite etwa 350 Kilometer) nicht nur Tel Aviv, sondern auch das amerikanische Großradar zur Raketenabwehr im Negev erreichen oder die israelischen Atomanlagen mit ihrem Waffenprogramm, meint der ehemalige Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium, Lothar Rühl.

Faktisch gespalten ist auch der Irak. Der Kurdenführer Barzani (Nordirak) erklärte letzte Woche dem französischen Magazin L’Essentiel, die nordirakischen Kurden bildeten zur Zeit 15 000 syrische Kurden im Kriegshandwerk aus. Man erlebe zur Zeit das „Worst-Case-Szenario“, so der türkische Staatspräsident Abdullah Gül. Die Frage ist, ob überhaupt noch jemand einen Ausweg kennt.

Autor: Dieter Sauter/WOZ